Caput XXIV

[494] Wie ich die enge Sahltrepp' hinauf-

Gekommen, ich kann es nicht sagen;

Es haben unsichtbare Geister mich

Vielleicht hinaufgetragen.


Hier, in Hammonias Kämmerlein,

Verflossen mir schnell die Stunden.

Die Göttin gestand die Sympathie,

Die sie immer für mich empfunden.


»Siehst du« – sprach sie –, »in früherer Zeit

War mir am meisten teuer

Der Sänger, der den Messias besang

Auf seiner frommen Leier.


Dort auf der Kommode steht noch jetzt

Die Büste von meinem Klopstock,

Jedoch seit Jahren dient sie mir

Nur noch als Haubenkopfstock.


Du bist mein Liebling jetzt, es hängt

Dein Bildnis zu Häupten des Bettes;

Und, siehst du, ein frischer Lorbeer umkränzt

Den Rahmen des holden Porträtes.


Nur daß du meine Söhne so oft

Genergelt, ich muß es gestehen,

Hat mich zuweilen tief verletzt;

Das darf nicht mehr geschehen.


Es hat die Zeit dich hoffentlich

Von solcher Unart geheilet,

Und dir eine größere Toleranz

Sogar für Narren erteilet.
[494]

Doch sprich, wie kam der Gedanke dir,

Zu reisen nach dem Norden

In solcher Jahrzeit? Das Wetter ist

Schon winterlich geworden!«


»Oh, meine Göttin!« – erwiderte ich –

»Es schlafen tief im Grunde

Des Menschenherzens Gedanken, die oft

Erwachen zur unrechten Stunde.


Es ging mir äußerlich ziemlich gut,

Doch innerlich war ich beklommen,

Und die Beklemmnis täglich wuchs –

Ich hatte das Heimweh bekommen.


Die sonst so leichte französische Luft,

Sie fing mich an zu drücken;

Ich mußte Atem schöpfen hier

In Deutschland, um nicht zu ersticken.


Ich sehnte mich nach Torfgeruch,

Nach deutschem Tabaksdampfe;

Es bebte mein Fuß vor Ungeduld,

Daß er deutschen Boden stampfe.


Ich seufzte des Nachts, und sehnte mich,

Daß ich sie wiedersähe,

Die alte Frau, die am Dammtor wohnt;

Das Lottchen wohnt in der Nähe.


Auch jenem edlen alten Herrn,

Der immer mich ausgescholten

Und immer großmütig beschützt, auch ihm

Hat mancher Seufzer gegolten.
[495]

Ich wollte wieder aus seinem Mund

Vernehmen den ›dummen Jungen‹,

Das hat mir immer wie Musik

Im Herzen nachgeklungen.


Ich sehnte mich nach dem blauen Rauch,

Der aufsteigt aus deutschen Schornsteinen,

Nach niedersächsischen Nachtigall'n,

Nach stillen Buchenhainen.


Ich sehnte mich nach den Plätzen sogar,

Nach jenen Leidensstationen,

Wo ich geschleppt das Jugendkreuz

Und meine Dornenkronen.


Ich wollte weinen, wo ich einst

Geweint die bittersten Tränen –

Ich glaube, Vaterlandsliebe nennt

Man dieses törichte Sehnen.


Ich spreche nicht gern davon; es ist

Nur eine Krankheit im Grunde.

Verschämten Gemütes, verberge ich stets

Dem Publiko meine Wunde.


Fatal ist mir das Lumpenpack,

Das, um die Herzen zu rühren,

Den Patriotismus trägt zur Schau

Mit allen seinen Geschwüren.


Schamlose schäbige Bettler sind's,

Almosen wollen sie haben –

Ein'n Pfennig Popularität

Für Menzel und seine Schwaben!
[496]

Oh, meine Göttin, du hast mich heut

In weicher Stimmung gefunden;

Bin etwas krank, doch pfleg ich mich,

Und ich werde bald gesunden.


Ja, ich bin krank, und du könntest mir

Die Seele sehr erfrischen

Durch eine gute Tasse Tee;

Du mußt ihn mit Rum vermischen.«

Quelle:
Heinrich Heine: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21972, S. 494-497.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutschland. Ein Wintermärchen
Deutschland: Ein Wintermärchen
Deutschland. Ein Wintermärchen
Neue Gedichte: Deutschland. Ein Wintermärchen. Atta Troll (insel taschenbuch)
Deutschland: Ein Wintermärchen (insel taschenbuch)
Deutschland. Ein Wintermärchen (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Reigen

Reigen

Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.

62 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon