Erster Theil

[5] »Die Sonne löscht alle Freuden der Nacht aus! wie die schönen Sterne, so die süßen Melodien und Harmonien der Phantasie, und die stärksten Gefühle der Vergangenheit und Zukunft. Die Nacht hat etwas Zauberisches, was kein Tag hat; so etwas Grenzenloses, Inniges, Seliges. Das Mechanische der Zeitlichkeit, das einen spannt und festhält, weicht so sanft zurück, und man schwimmt und schwebt, ohne Anstoß, auf Momente im ewigen Leben.«

Mit diesen Worten erhob sich Lockmann von seinem Lager, und sprang aus dem Bette. Sein Wesen war noch Widerhall der Musik zur Oper Achill in Skyros, von welcher er die Nacht den Plan geträumt, und wachend gegen Morgen ausempfunden hatte.

Er war vor wenig Wochen von Neapel zurückgekommen, und gestern mit seinem Fürsten aufs Land gezogen.

Die jungen Strahlen der Sonne über das Gebirge blitzten ihn von seinem Fortepiano weg, auf dem er einige Lustgriffe that. Er ging aus Fenster, betrachtete mit Entzücken, wie die Sonne im dünnen blendenden Purpur der leichten Streifwölkchen empor stieg; und weidete seine Augen, auch nach drey Jahren in Italien, aufs neue an der schönen Gegend.[5]

Ueberhaupt ist der Frühling in Deutschland bey seiner kurzen Zeit viel üppiger, und eben dadurch, und wegen des Kontrastes mit dem Winter, viel erfreulicher als in Italien. Die ganze Flur stand in stolzer Fruchtbarkeit von Kornsaaten und andern Feldfrüchten, die in der Ferne das Gebirg' in herrlicher Pyramidenform begrenzte, um dessen Rücken sich Eichen und Buchenwälder zogen, und an dessen Fuß und Seiten die köstliche Rebe sproßte.

Um und in dem Orte prangten Gärten, durch welche von verschiedenen Seiten zwey volle krystallhelle Bäche rauschten, die sich am Ende in einen Kanal für Mühlen vereinigten, und hernach mehrere aufnahmen, die zu einem ansehnlichen Fluß anschwollen, und dem Vater Rhein ihren Tribut brachten.

Das Schloß, worin Lockmann zwey schöne Zimmer bewohnte, war in edler Bauart zu Anfang des Jahrhunderts auf einen festen Felsen gegründet. Vorher stand eine Gothische Burg darauf, von welcher man die frischen geräumigen Keller der Vorfahren zu großen Weinlagern beybehielt. Es beherrschte mit seinen Aussichten die ganze Gegend, worin mehrere vom ältesten Adel ihre Rittersitze hatten.

Mildester Strich, Krone von Deutschland, bist du auch zu rauh für den Oelbaum und die noch zartere Zitrone und Pomeranze, und der Allgegenwart des göttlichen Meers von Neapel und Lissabon beraubt; so wirst du doch vom schönsten Strom in Europa, und vielleicht der Welt, getränkt, und er wallt langsam wie im Genusse durch dich, als seine anmuthigsten Ufer, wo doch auch in günstigen Jahren ein Nektar reist, der an Gesundheit, eigentlichem Mark und geselligem Wesen die zu heißen flüssigen Feuer vom Kap, von den Kanarischen Inseln, Griechenland und Spanien noch übertrift.

Lockmann hatte vor seiner Reise nach Italien die Gegend nur ein[6] paarmal in Gesellschaft zur Kurzweil durchzogen, und sich noch niemals in eigentlichen Besitz davon gesetzt; welches er sich nun fest vornahm. Er dachte einmal für allemal sich hier eine Hütte anzubauen, und in Muße bey einer lieben Gattin, wenn er eine für Herz und Geist finden könnte, der Vollkommenheit seiner Kunst für Deutschland nachzuhängen.

Indem er so sein künftiges Leben ausspähete, nahm er, in Gedanken verloren, ein Fernrohr in die Hand, das auf einem Tische liegen geblieben war; fand es vortreflich für sein Auge, richtete es nach dem Gebirge, durchstreifte damit Wald und Flur, und suchte wie ein Feldmesser die Hauptpunkte zu seinen Pfaden aus.

Unvermerkt drangen seine Blicke unter die Schatten des Lindengewölbes in einem Garten, etwa fünf bis sechs hundert Schritt entfernt, wo ein Frauenzimmer sein Morgengewand ablegte, nackend, göttlich schön wie eine Venus, da stand, die Arme frey und muthig in die Luft ausschlug, und, mit dem Kopf voran in fliegenden Haaren, sich in eine große Wasservertiefung stürzte, darin verschwand, wieder hervorkam, das nasse Köpfchen schüttelte, herumgaukelte, den Oberleib weit empor hielt, auf dem Rücken schwamm, sich auf die Seite legte, geschickt und gewandt mit dem Kopf sich wieder untertauchte, daß das himmlische Kolorit der gewölbten Hüften und Schenkel wie ein Blitz auf der Oberfläche hervor leuchtete, verschwand; dann die ganze zauberische Mädchengestalt wie ein Delphin sich wieder empor warf, und Wasserstrahlen und Schaum von sich schleuderte.

Eine Viertelstunde, die wie eine Minute vorüberflog, mochte dieses Schauspiel gedauert haben, als sie aus dem geschmeidigen Element, das stolzer von einer solchen Schönheit schimmerte, wieder unter die heilige Lindendämmerung trat, in der warmen Luft – es war ein[7] heißer Tag gegen Ende des May – auf dem grünen Schmelze sich trocken wandelte, sich ankleidete, und verlor.

Lockmann stand die ganze Zeit wie eine Bildsäule mit seinem Fernrohr, verwandte nicht einen Blick, und schaute, noch lange nachher das reizende Schauspiel im Auge, wie einer geblendet noch lange nachher die aufgehende Sonne hat, in die er zu lüstern hineinschaute. Die Nachtigallen im Schloßgarten, welche mit einander wetteiferten, immer stärker schlugen, und welche er bisher wie taub nicht gehört hatte, weckten ihn endlich von seinem Staunen. Er rief nicht mehr: »Die Sonne löscht alle Freuden der Nacht aus;« sondern: »Wie ist mir? wo bin ich?« taumelte in seinem Zimmer auf und ab, und sah oft wieder nach dem schönsten Plätzchen des weiten Paradieses.

Darauf strömte er seine Gefühle in die Saiten, und die höchst lebendige Scene ging von selbst in eine einzige Melodie von dem süßesten Charakter über, die er mit der schmeichelhaftesten Begleitung gleichsam durch alle Irrsale des menschlichen Lebens führte.

Er frühstückte, kleidete sich an, ging aus, und nahm den kürzesten Weg, den ihm die hohen alten Linden zeigten. Sie bildeten einen kleinen Hayn auf einer Anhöhe am Ende des Gartens, hinter welchem ein wohlangelegter Weinberg sich ferner fortstreckte.

Den Garten umschlossen hohe Mauern, über welche die gesundesten Fruchtbäume mit laubvollen Zweigen schatteten. Voran stand ein geräumiges Landhaus, so schön und schon dem Aeußern nach so zweckmäßig, wie irgend eins von Vignola. Er erfuhr bald von einem Bedienten, der ihm begegnete: es gehöre der Familie von Hohenthal; der Herr sey mehrere Jahre ***scher Gesandter zu London gewesen, und im vorigen Jahre dort gestorben; die Wittwe wohne[8] seit dem Merz hier mit einem Sohn, der bald auf Universitäten ziehen werde, und einer erwachsnen Tochter.

Diese Nachricht fiel ihm gewaltig aufs Herz; er wollte nichts weiter hören, ging hastig zurück, und suchte sich die ganze Morgenscene mit dem Fernrohr aus dem Sinne zu schlagen. Er kannte durch den Ruf und aus Handlungen den Herrn von Hohenthal als einen der geschmackvollsten und vortreflichsten Männer seines Standes, und hatte manches unpartheyische Lob von seinem Eifer für alles Schöne und Gute selbst zu Rom und Neapel gehört.

Den Nachmittag hielt er die erste Probe des berühmten Miserere von Gregorio Allegri, der im Jahre 1629 in die päpstliche Kapelle kam.

Der Fürst liebte die alte Musik, besonders Kirchenmusik, und konnte die Künsteleyen, das Bunte und Verzierte der neuern nicht vertragen. Auch mocht' es ihm an Gelegenheit gefehlt haben, die Meisterstücke der letztern in ihrer höchsten Vollkommenheit zu hören; oder er hatte, von weit wichtigern Geschäften abgehalten, nicht den gehörigen Fleiß darauf wenden können, die Fortschritte und den Wachsthum der Kunst bis zur höchsten Höhe zu verfolgen; und haftete, wie die Alten pflegen, bey diesen Nebendingen an dem Zeitvertreib und den Freuden seiner Jugend.

Er war ein Herr an die sechzig; klug, leutselig, gerecht, freygebig, standhaft, und voll Menschenkenntniß. Als Prinz war er Inhaber eines kaiserlichen Regiments, machte den siebenjährigen Krieg mit, und that sich hervor in der Schlacht bey Collin. Bald darauf kam er zur Regierung, und legte seine Stelle nieder; widmete sich ganz der Wohlfahrt seines Landes, strebte, die beste Kultur der Produkte und des Fleißes zu befördern, seine Unterthanen in jeder Klasse zu[9] treflichen Menschen zu bilden, und ihnen, eben dadurch aber auch sich, den angenehmsten Genuß des Lebens zu verschaffen. Auch waren sie stolz auf ihn, und man hörte keine Klage. Er suchte alle Talente hervor, unterstützte, und belohnte sie hernach, indem er jedes an seinen Posten stellte.

Sein Kriegswesen bestand nur aus zwey Regimentern; aber es waren die ausgesuchtesten Leute, und die Offiziere eine Pflanzschule für große Armeen: jeder in den kriegerischen Leibesübungen, in der Geographie, Mathematik, Geschichte für sein Fach, Behandlung der Untergebnen wohl unterrichtet. Sie wurden immer, so wie die Reihe an sie kam, zu den Musterungen nach Berlin und Wien geschickt, um die Bewegungen großer Massen zu studiren, und sich nicht ans Kleinliche, Unwesentliche, das bloß zur Parade dient, zu gewöhnen. Sein Grundsatz war, jeder Fürst müsse geübte Stärke nach Verhältniß seiner Volksmasse haben, und diese die Grundlage von allem an dern seyn.

Er erkannte inzwischen wohl, daß der Kaiser und der König von Preußen mit ihren geübten stehenden Heeren fast allein die Stärke und den Stolz von Deutschland gegen die Fremden ausmachen, und deren Unterthanen die Kosten für die Unterthanen der übrigen Stande tragen, die wenig Truppen halten, folglich auch nicht so viel bezahlen, und sich in großem Vortheil dabey befinden.

Der Erbprinz, sein einziger Sohn, – ältere und jüngre Prinzen und Prinzessinnen starben meistens in zarter Jugend – war wieder als General bey der kaiserlichen Armee, und hielt sich mit seiner Gemahlin gewöhnlich in Prag auf, kam aber oft nach Wien.

Es war Gebrauch, daß der Fürst und die Fürstin, so oft sie im Frühling aufs Land zogen (es mochte früher oder später geschehen), und[10] die von den Hofleuten, welche das Bedürfniß fühlten, gleich anfangs beichteten, sich der Sünden der Hauptstadt entledigten, das Abendmahl empfingen, und dem Volke so ein gutes Beyspiel gaben. Lockmann hatte die Musik zu der feyerlichen Handlung schon vorbereitet, und suchte sie nun so gut wie möglich aufzuführen.

Bisher hatte der Kapelle ein alter Meister Sebastian Stahl vorgestanden, welcher nun zur Ruhe gesetzt werden sollte. Dieser war noch aus der Bachischen Schule, und machte sich eine Ehre daraus, den Vornahmen ihres großen Stifters zu führen; übrigens ein herzensguter Mann, gründlich zwar, aber ohne viel Geschmack und besondern Erfindungsgeist in seiner Kunst.

Der Fürst hatte den jungen Lockmann auf einer Reise, in Erfurt, dessen Heimath, bey einem Fest kennen lernen, wo er in der Kirche auf dem Petersberge gerade die Orgel spielte, und alsdann eine Messe von seiner Komposizion aufführte. In einer glücklichen Stimmung, am Grabe und über die Geschichte des Ritters von Gleichen mit seinen zwey Weibern, ward er von dieser Musik bis ins innerste bewegt, so wie noch niemals von einer andern. Er erkundigte sich, wer das heilige gewaltige Instrument so zweckmäßig nach seinem Sinn gespielt, und die Messe so voll Andacht und Salbung gesetzt, und so meisterlich aufgeführt habe; ließ den Künstler vor sich kommen, unterredete sich mit ihm, und Person und Wesen und alles gefiel. Er nahm ihn mit sich, schickte ihn bald darauf nach Italien, mit dem besondern Auftrag, die größten Meisterstücke der Kunst dort zu sammeln und zurück zu bringen.

Bey der Kapelle waren brauchbare, dienstwillige Leute, die mehrsten aus dem Lande selbst, und darunter einige, besonders für blasende Instrumente, von der entschiedensten Anlage zu den größten Virtuosen;[11] und in dem engen Kreise, worin sie lebten, dachten sie glücklicher Weise über ihren wirklichen Werth noch bescheiden. Lockmann suchte die vorzüglichen sogleich durch die größte Aufmerksamkeit, gefälligen Unterricht und treffendes Lob bey Gelegenheiten, wo es sie am mehrsten freuen, und zum Wetteifer anspornen mußte, für sich einzunehmen; und machte jedem in der Stille, mit ihm allein, seine Fehler und bösen Angewohnheiten gutherzig, aber doch streng, begreiflich.

Er hatte sich vorgenommen, bey jeder Musik, die er aufführen würde, sie allemal vorher mit dem Geiste des Ganzen, und dann mit dem vorzüglichen Ausdruck einzelner Stellen recht vertraut zu machen, damit sie in Masse auf einen Zweck wirken, und er so endlich nach und nach das Ziel des Dichters sowohl, als des Tonkünstlers erreichen möchte. Daß die von langsamen Begriffen es mit Muße überlegen könnten, wollt' er das Wesentliche bisweilen zu Papier bringen, und es ihnen zum Abschreiben auch für die Zukunft mit nach Hause geben. Er machte also mit dem Miserere1 von Allegri sogleich den Anfang.

»Diese Musik ist, nebst den Werken des Palestrina, vielleicht die älteste, die heutiges Tages noch aufgeführt wird; und, sonderbar! es macht ihr wohl, was Wirkung betrift, keine andre Musik ihrer Art den Rang streitig.«

»Sie ist abwechselnd für zwey Chöre, in fünf und vier Stimmen, geschrieben: zwey Sopranen, Alt, Tenor, und Baß; bey den vier Stimmen bleibt der Tenor weg. Dieses lautet etwas jugendlicher, und bringt Kontrast hervor.«

»Bey dem letzten Vers: Tunc imponent super Altare tuum vitulos, kommt der erste und zweyte Chor zusammen, und die Harmonie[12] wird neunstimmig. Dieser letzte Vers wird langsam und leise gesungen; die Töne schmelzen in einander, und verlieren sich gleichsam nach und nach.«

»Die Stimmen haben gar keine Begleitung von Instrumenten, nicht einmal der Orgel. Die bloße Vocalmusik ist eigentlich, was in den bildenden Künsten das Nackende ist.«

»Ich habe dieses Miserere zweymal in der Sixtinischen Kapelle zu Rom mit den besten Stimmen aufführen hören; und es hat so tiefen zerschmelzenden Eindruck auf mich gemacht, daß ich bis zu Thränen gerührt worden bin.«

»Dieß wird bewirkt durch die Einfachheit der Harmonie, den breiten Umfang derselben bis zu drittehalb Oktaven, und die Verwickelung und Auflösung der Stimmen; auch dadurch, daß meistens bloß die Länge und Kürze der Sylben, und der Sinn der Worte den Takt ausmacht; oder vielmehr, daß man das, was wir Takt nennen, fast gar nicht merkt.«

»Noch ein Umstand, keine Kleinigkeit, mag zur Wirkung beytragen, nämlich daß diese Musik alle Jahr nur einmal aufgeführt wird, und also immer neu und heilig bleibt.«

»Dieselben Strophen von Musik werden fünfmal wiederhohlt; und noch das sechstemal, jedoch mit Auslassung eines Gliedes.«

»Das erste Glied des Gesangs ist fünfstimmig, geht aus dem G moll in B dur, F dur; und kommt durch mancherley Windungen in die Quinte D mit der großen Terz.«

»Dann das zweyte Glied vierstimmig, wieder aus G moll, geht ebenfalls aus in D dur.«

»Dann das dritte Glied vierstimmig aus C moll, welches in G dur schließt.«[13]

»Und so wird dieselbe Strophe noch viermal wiederhohlt.«

»Die sechste Wiederholung läßt, wegen Mangel an Worten, das zweite G moll aus, und geht gleich in C moll über.«

»Da die Worte keine Verse sind, und keine gleiche Sylben haben, und dieselbe Musik doch fünfmal wiederhohlt werden soll: so werden sie bloß nach der Aussprache untergelegt. Darum müssen sich denn die Sänger mit einander dazu einstudirt haben, daß sie überein ihre Stimmen zur ganzen Harmonie passen.«

»Und aus diesem allen zusammen entspringt die höchste Wirkung, welche Musik leisten kann; nämlich der Sinn der Worte geht in die Zuhörer mit seiner ganzen Stärke und Fülle über, ohne daß man die Musik, ja so gar die Worte nicht merkt, und in lauter reine Empfindung versenkt ist.«

»Schauder der Reue, Auf- und Niederwallen beklommner Zärtlichkeit, Hofnung und Schwermuth, Seufzer und Klagen einer liebenden Seele. Das Zusammenschmelzen und Verfließen der reinen Töne offenbart das innre Gefühl eines himmlischen Wesens, welches sich mit der ursprünglichen Schönheit wieder vereinigen möchte, von der es Schulden trennen.«

»Der letzte Vers ist mit großer Kunst gemacht; jeder von den zwey Chören bildet für sich ein Ganzes, und beyde begatten sich gleichsam auf das innigste; und das Adagio, piano und smorzando, macht den Triumph der Kunst vollkommen.«

»Zwischen den Strophen des Gesanges werden immer Verse im bloßen Einklang von den Bässen und Tenoren declamirt; welches die ganze Gemeinde vorstellt.«

»Dieses möchte wohl die schicklichste Musik für Hebräische Poesie seyn, die aus kurzen lyrischen fast gleichförmigen Sätzen bestand,[14] welche meistens Chöre wechselten, und noch keine Verse von gezählten Sylben hatte.«


Darauf declamirte Lockmann ihnen den ganzen Text des Psalms in einer getreuen und kräftigen Uebersetzung; gab ihnen diese von Wort zu Wort dem Text untergelegt; und sang mit der vollen Harmonie des Fortepiano die erste Strophe vor, um ihnen die Art des Zeitmaaßes und die Natur des Ausdrucks bekannt zu machen; ließ dann zusammensingen, erst unter Begleitung des Instruments; und es ging das nächstemal ohne Begleitung gut über sein Erwarten.

Er fuhr nun fort durch alle Strophen bis zu Ende. Alle beeiferten sich, es recht nach seinem Sinn zu machen; kein Blick, kein Ohr, kein Herz ward von dem Ganzen verwendet, und es fing schon an gediegen und zu einem Gusse zu werden. Es freute Alle, und noch mehr ihn, inniglich.

Er sagte ihnen zur Aufmunterung, es sey ihm, als ob er in der Sixtinischen Kapelle wäre; wiederhohlte es einmal, zweymal und zum drittenmal, zeigte dazwischen dieser und jener Stimme Verbesserungen, machte sie ihnen vor, ließ sie einzeln nachsingen; und zum fünftenmal glückte es fast zur Vollkommenheit.

Er gab ihnen Lehren unter Lobsprüchen mit nach Hause, und morgen um dieselbe Zeit sollte die zweyte Probe seyn.

Was er jedoch für sein Ohr vermißte, waren die vortreflichen Römischen Kastratenstimmen. Dafür hatte er zwey Baßstimmen, Zorn und Damm, von so großem Umfang, solcher Stärke, Tiefe und Reinheit fast durch alle Töne, daß die besten, die er in Italien hörte, neben diesen hätten verschwinden müssen; mehrere gute, jedoch nicht ausgebildete, Tenore; und so drey bis vier brauchbare Altstimmen.[15] Mit den Sopranstimmen allein war er nicht zufrieden; keine hatte genug gebildeten Ton, Reinheit, Empfindung, und Charakter. Vier Buben hatten zwar Süßigkeit der Kehle, aber gar zu wenig Umfang, und ihr Ton sagte wenig; jedoch ließ sich aus diesen etwas machen. Drey Weiber waren die besten: die schöne junge Frau des Virtuosen auf dem Horn, Ewald, hatte nur einige reine silberne ausgebildete Töne, die auch rührten und entzückten, wenn Melodien dazu vorkamen; aber von wenig Geschmeidigkeit für Schwäche und Stärke. Die zwey andern, Töchter von geschickten Geigenspielern, hatten die Manieren und Läufe ihrer Herren Väter erlernt, nie die einzelnen Töne gehörig geübt, und verzierten alles, um ihre Kunst zu zeigen. Lockmanns Bitten und Ermahnungen, und der Eifer, ihm zu gefallen, brachten sie inzwischen dahin, daß sie sich nach seinem Willen fügten.

Das Gebirge leuchtete glänzend vom Widerschein der letzten Strahlen, der untergehenden Sonne. Er ging hinunter in den Schloßgarten, und gesellte sich auf einer Anhöhe, wo man die ganze Gegend übersah, zu dem alten Baumeister Reinhold, welcher lange in Rom gewesen, und ein eigner Denker war. Dieser liebte die Musik mit Leidenschaft, ohne selbst sie auszuüben, hatte die größten Meister persönlich gekannt, die vortreflichsten Werke aufführen hören und war dem jungen Lockmann von Herzen gewogen. Das Gespräch kam gleich auf dessen Probe und die Sopranstimmen. Nach einem angenehmen Wortwechsel fuhr endlich der Alte fort und behauptete:

»Eine schöne jugendliche völlig ausgebildete Kastratenstimme geht über alles in der Musik. Kein Frauenzimmer hat die Festigkeit, Stärke und Süßigkeit des Tons, und so aushaltende Lungen. Bey den Kastraten kann man recht sehen, daß es darauf ankommt, was gesagt wird, und nicht, in welchem Ton es gesagt wird. Die beste[16] Musik an und für sich ist weiter nichts, als die höchste Gefälligkeit und der bezauberndste Reiz des Ausdrucks.«

Lockmann ging in seinen Sinn ein: »Viel Wahres, besonders für die neuere Musik; doch nicht so ganz richtig. Gewiß, ich ward überrascht zu Venedig, als Pacchiarotti den Helden Giulio Sabino bey Weib und Kindern in der Sopranstimme so täuschend machte, daß alles, wie in der Stille der Mitternacht, helle Thränen vergoß.«

»Die Diskantstimme bleibt immer die passendste für Melodie; die Stimme der Melodie soll vor allen andern herrschen, und die hohen Töne herrschen über die niedrigen. Man vergißt deßwegen gar bald das Unnatürliche.«

»Inzwischen war es doch ein äußerst glücklicher Gedanke, daß Gluck in seinem berühmten Chor der unterirdischen Götter einmal den Grundton der Harmonie durchschneidend herrschen, und die Melodie diesen in allerley Sträubungen und Beugungen begleiten ließ. Ein ächter Zug des Genies. Nichts konnte die eiserne unerbittliche Gewalt dieser Dämonen besser ausdrücken.«

Reinhold fügte hinzu: »Was Rousseau in seinem moralischen Eifer gegen die Kastraten einwendet, ist höchst übertrieben. Ihre Stimme dauert freylich nicht so lange, wie Tenorstimmen, wegen der Stärke der Töne durch die kleine Oefnung der Kehle; aber immer lange genug, um auf allen Theatern von Europa zu entzücken. Daß sie unförmliche Bäuche bekommen, geschieht nicht immer, und auch andern Männern. Daß sie den Buchstaben R nicht aussprechen können, ist ganz falsch; eben so, daß sie ohne Feuer und Leidenschaft sängen. Daß Männer, die auch noch so mannbar sind, keine Kinder hinterlassen, ist bey unsern Regierungsverfassungen und zu starken Bevölkerungen etwas Gewöhnliches.«

[17] Lockmann erwiederte: »Ihr Hauptfehler bey lyrischen theatralischen Vorstellungen ist wohl der Mangel des Kontrastes zwischen Mann und Weib, und auch der Stufen des Alters; und daß die Vocalmusik überhaupt dadurch ärmlich wird: besonders auf den Römischen Theatern, wo lauter Mannspersonen spielen. Und diejenigen, deren Stimmen nicht gerathen, welches nicht selten der Fall ist, sind gewiß recht elende Geschöpfe.«

Reinhold zuckte die Achseln, lächelte und antwortete: »Die Vollkommenheit ist überall eine seltne Erscheinung. Und ist sie hier da, so denkt gewiß jeder für das allgemeine Vergnügen Empfindliche, wenn er es auch nicht, wie jener lebhafte Italiäner, öffentlich ausruft: Benedetto il coltello, u.s.w.«

Die Sonne war eben voll Pracht untergegangen, und der westliche Himmel schwebte mit Strahlenstreifen glühend in Brand und Segen, als eine andre schönere für Männeraugen und Herzen aufging. Hildegard von Hohenthal trat aus einem Park von Buchen und Eichen mit dem Fürsten hervor, leicht in Schritt und Gang, und stolzem Wuchs, voll Geschmack gekleidet, wie eine junge Königin der Amazonen. Ihnen folgte Hildegards Mutter mit dem jungen Herrn von Hohenthal, und die Fürstin.

Das Blut schoß Lockmannen ins Gesicht, und sein Herz wallte, wie sie den Blick ihrer schönen blauen Augen auf ihn lenkte.

Der Fürst ging mit ihr gerade auf ihn und Reinholden zu, und sagte lächelnd: »Ich mache Sie hier mit meinem jungen Kapellmeister bekannt, der die Sirenen von Neapel bezwungen, und so eben in unsre Gegend gebracht hat. Wenn sie nur kein Unheil da anfangen!«

Lockmann antwortete: »Unter der Regierung eines so weisen Ulysses,[18] neben welchem Pallas steht, würde dieß nicht zu besorgen seyn. Mein Bestreben war nur, einige von den guten Musen des Leo, Pergolesi, Traetta, Majo, Jomelli zu Begleiterinnen zu haben, und sie mit den Musen unsrer Händel, Bache, Graun und Gluck in Gesellschaft zu bringen.«

Hildegard faßte ihn so ganz mit ihrem seelenvollen Blick, und sagte: »Schon nach diesen wenigen Worten werden Sie mir ein treflicher Ersatz für London seyn.«

Inzwischen gingen sie auf den Wink des Fürsten zusammen weiter. Rosen und Schaßminen düfteten frischer und stärker umher, und die Nachtigallen thaten lebhaftere Liebesschläge; ein sanfter Wind wiegte sich auf den zarten Zweigen, und flisterte durch die Blätter, und der lichte Himmel spiegelte sich in den Brunnenbecken zwischen den braunen Schatten. Die Morgenscene lebte gewaltig in Lockmanns Einbildungskraft, und das Gewand der göttlichen Schönheit war ihm kaum ein dünner Schleyer.

Er selbst war einer der wohlgebildetsten jungen Männer; und wenn von den zehn Kreisen in Deutschland jeder den auserwähltesten zu einem Wettstreit der Schönheit auf eine Künstlerakademie unter dem Vorsitz eines Mengs abgesendet hätte: so würd' er vielleicht den Preis davon getragen haben. Füger machte aus Lust für sich sein Porträt zu Neapel in Miniatur, ein Meisterstück; und Battoni mahlte ihn zu Rom in Lebensgröße, unbezahlt, zu einem Kunstwerk, jedermann lieblich anzuschauen mit dem edlen Geniuskopf in seinen schwarzen natürlich herum und herabfallenden Locken, den grauen Mantel über die Schulter geworfen, im Schritt vom Winde verweht, zwischen Gesträuch auf neue Melodien und Harmonien sinnend, nachdem Lockmann einige Abende am Klavier ihn ergötzt, und ein[19] leichtes rasches entzückendes Spiel wie mit Bällen zwischen der süßen fertigen Kehle seiner Tochter, und seiner rührenden Tenorstimme in himmlischen Melodien getrieben worden war.

Hildegard und er weideten ihre Blicke an einander in den hellen Augen, an den reinen Stirnen, dem edlen geraden Zug der Nasen, dem lieblichen Suadamund, blühenden Oval der Wangen, und hohen üppigen Wuchse, so gut es unbemerkt geschehen konnte, voll Bewunderung und nie gefühlter Regungen.

Lockmann betrachtete nun auch die Mutter: eine schlanke Gestalt an die vierzig, und noch schöner Kopf in edlen Formen.

Der junge Herr von Hohenthal sah fast wie ein Zwillingsbruder seiner Schwester aus; doch war er an Alter etwas jünger: voll Lebhaftigkeit, Geist und Anstand.

Die Fürstin, eine gute Matrone, hatte vorzüglich ihr Geschlecht im Lande zum Augenmerk, und sorgte für alles, was dieses betraf. Sie unterhielt sich mit der Mutter, und wandelte langsamer mit dieser einen Seitengang hinter drein.

Der Fürst wendete sich wieder an Reinhold und Lockmann, und sagte: »Ihr zwey Italiäner wart im Gespräch begriffen. Fahrt fort, wenn es nichts Geheimes ist; vielleicht finden wir auch etwas dabey zu erinnern.«

Reinhold versetzte: »Wir sprachen von der Menschenstimme, vorzüglich vom Sopran; und bemerkten, daß in Deutschland nicht so viel Sorgfalt darauf verwendet wird, als in Venedig, Rom und Neapel.«

Hildegard nahm darauf bey einiger Stille das Wort, und sagte: »Alle gestehen ein, daß das Blühen der Künste in einem Lande dessen schönste Zierde sey; aber fast überall geht man damit verkehrt zu[20] Werke. Man giebt viel Geld aus, ohne Plan und Zusammenhang. Man kauft alte Gemählde auf, bezahlt theuer Porträte und Virtuosen; an Pflanzung, an das Lebendige und Volksmäßige wird wenig gedacht.«

»Musik ist unter den Künsten die allgemeinste; sie wirkt am mehrsten auf das Volk, und sieht oben an bey jeder Feyerlichkeit und Freude. Wenn die Regenten ihre Unterthanen glücklich machen wollen: so ist sie gewiß die vorzüglichste unter allen Künsten, und zugleich die wohlfeilste.«

»Die Menschenstimme ist unstreitig das Wesentlichste bey der ganzen Musik; und an vortreflichen Menschenstimmen fehlt es überall, auf dem Theater, in Kirchen, und im gemeinen Leben. In Städten von vielen tausend Einwohnern sind drey oder vier schöne reine nur einigermaaßen ausgebildete Menschenstimmen in Deutschland, und noch mehr in England und dem Norden, eine wahre Seltenheit.«

»Die mehrsten schönen Menschenstimmen findet man in Gegenden, wo reine heitre Luft und gutes Wasser ist; gewöhnlich gar keine, wo Kröpfe einheimisch sind. Man sollte einen Kenner ordentlich in Besoldung nehmen, und darauf herumreisen lassen. Ein Fürst, fuhr sie lächelnd fort, könnte sich allein mit dieser Anstalt verewigen. Und dieser Ruhm kostete ihm des Jahrs vielleicht nicht mehr, als er fremden Virtuosen für ihre Konzerte bezahlt. In seinem Lande dürfte ihm schlechterdings keine gute Stimme verloren gehen, und hätte sie ein Junker oder Fräulein vom ältesten Adel und größten Reichthum.«

Der Fürst hörte aufmerksam zu; er liebte, welches wohl bekannt war, bis auf den Grad, wo die gehörige Würde nichts leidet, freymüthige[21] +++Reden, besonders vom Frauenzimmer, und haßte Heuchler und Schmeichler. Hildegard gab Lockmannen mit Hand und Blick ein Zeichen fortzufahren. Dieser war erstaunt, entzückt sie so reden zu hören, und schon dadurch überzeugt, daß sie wenigstens Kennerin seyn müsse. Er benutzte die gute Stimmung und Gelegenheit, und fuhr so freymüthig fort, wie sie angefangen hatte.

»Da wir keine Kastraten machen, so sind alle unsre Sopranstimmen weiblich. Buben, auch mit den reinsten Kehlen, haben noch keinen Charakter, und sind von zu kurzer Dauer; ihr Uebergang in die Tenor- oder Baßstimme ist immer sehr mißlich. Doch könnte man sie auf Gerathewohl vortreflich in Kirchen und auf dem Theater bey Chören brauchen; und, so bald bey der Mannbarkeit die schöne tiefere Stimme entschieden wäre, ihnen die völlige musikalische Erziehung geben. So hat der Kurfürst Clemens von Bonn aus einem Bauerbuben den großen Raaf gebildet, zur Bewunderung auf den ersten Bühnen von Europa.«

»Die Stimmen von weitem Umfang und wichtigem Gehalt sind niemals gleich von Natur da; sie werden nur durch unaufhörliche Uebung gestärkt und gebildet. Zum Beweise kann einer der jetzigen größten Sänger, und eine der ersten größten Sängerinnen in Europa dienen, Marchesi und die Todi, welche nach ihrem eignen Geständniß anfangs sehr unbedeutend waren, und nach langer Uebung erst das wurden, was sie jetzt sind.«

»Die Hofnungen schlagen auch hier manchmal fehl; doch nicht so häufig, wie beym Genie. Mancher Knabe verspricht einen großen Mahler, Dichter, General, Staatsmann; und es wird hernach doch nichts aus ihm. Manches kleine Mädchen verspricht eine himmlische Schönheit, und verwächst sich hernach zu einem ganz gewöhnlichen[22] Dinge. Man darf bey einigen fehlgeschlagenen Versuchen den Muth nicht sinken lassen. So bald nur einmal ein verständiger Plan ins Werk gesetzt worden ist, geht alles leichter. Die Schulen sind ja überall schon da; man hat nur das Aussuchen, und das Mißlingen verursacht keinen großen Aufwand.«

»Bey Auswahl der Stimmen muß man hauptsächlich auf den Charakter sehen, ob Empfindung im Ton ist, Zärtlichkeit, Adel, heroisches Wesen; man kann solche auch mit wenig Umfang vortreflich brauchen.«

»Es ist erstaunlich, wie unendlich mannigfaltig der Mensch die wenige Luft verändert, die er mit einem Zug einathmet! Man muß zugleich die Geschmeidigkeit und Gewalt des Elements und der Werkzeuge, womit er es bildet, bewundern. Welche Menge von Stimmen, Tönen, Worten, Sprachen!«

»Die Werkzeuge sind der Thorax, oder Brustkasten, die Lungen, die Luftröhre, der Kehlkopf, vorzüglich dessen Stimmritze, die Zunge, der Gaumen, die Nasenhöhlen, die Zähne, der Mund, und die Lippen.«

»Bloß aus Ton und Wort kann ein feines und erfahrnes Ohr die Beschaffenheit aller dieser Werkzeuge an einem Menschen erkennen, und Gefühl und Verstand nicht wenig an ihm empfinden und über ihn urtheilen.«

»Das Auge ist ein reicher Sinn im Geben und Nehmen; aber gewiß sind es auch das Ohr und die Sprachwerkzeuge. Das Auge hat nur den Vorzug, daß Geben und Nehmen unmittelbar in demselben Sinne vereinigt sind. Dafür aber haben Ohren und Sprachwerkzeuge mehr Masse vom Lebendigen am Menschen, und lassen mit weit mehr Gewalt auf sich wirken.«[23]

»Der Brustkasten und die Lungen machen den Blasebalg; die Luftröhre mit ihrem Kehlkopf ist gewissermaaßen, nämlich was Höhe und Tiefe betrift, Orgelpfeife; der Kehlkopf und seine Stimmritze geben den Ton, wie ein zusammengesetztes Blas- und Saiteninstrument, indem sie durch Erzitterung ihrer vermittelst der Nerven und Muskeln gespannten Bänder und Knorpel die Luft in gleichförmige Bewegung setzen; das Gewölbe des Gaumens und die Nasenhöhlen verstärken denselben, wie die Röhren von Trompeten, Hörnern und Flöten, wie die Gewölbe von Geigen und Bässen; die Zunge bildet ihn am Gaumen, mit den Zähnen und Lippen, auf unendliche Weise zu Buchstaben, Sylben und Wörtern.«

»Meßbar und erklärbar wirken die Töne an und für sich durch ihre Höhe und Tiefe, Stärke und Schwäche; und dann durch ihre Dauer, Folge und Verbindung. Man könnte dieß die reine Musik nennen. Sie greift die Nerven und alle Theile des Gehörs an, und verändert dadurch das innre Gefühl außer allen andern Vorstellungen der Phantasie. Schon das Wasser pflanzt den Schall mehr als doppelt stärker und weiter fort, als die Luft; noch besser die festen Theile unsers Körpers. Der ganze Mensch erklingt gleichsam, und es entstehen Empfindungen nach dem Verhältnisse der Töne und der Beschaffenheit der Massen, wodurch sie hervorgebracht werden.«

»Unser Gefühl selbst ist nichts anders, als eine innre Musik, immerwährende Schwingung der Lebensnerven. Alles, was uns umgiebt, was wir Neues denken und empfinden, vermehrt oder vermindert, verstärkt oder schwächt den Grad ihrer vorigen Bewegung. Die Musik rührt sie so, daß es ein eignes Spiel, eine ganz besondre Mittheilung ist, die alle Beschreibung von Worten übersteigt. Sie stellt das innre Gefühl von außen in der Luft dar, und[24] drückt aus, was aller Sprache vorhergeht, sie begleitet, oder ihr folgt.«

»Göttliche Kunst, welche die Existenz fühlender Wesen so unmittelbar unter ihrem gewaltigen Scepter hat!«

»Bey dem gesungnen vollen Tone sind gleichsam alle Segel der Sprachwerkzeuge aufgezogen: alles ist gespannt, und der Thorax preßt mit Gewalt die Luft der Lungen durch die Röhre dahinein; der Kehlkopf schwebt und erzittert und bewegt sich alsdann nach den Leidenschaften des Herzens, dem Willen der Seele in beliebigen Graden, und übertrift mit den Melodien seiner kleinen Stimmritze aus dem Mund eines Farinelli, einer Faustina, die Wirkungen ungeheurer Orchester.«

»Bey der Fistel oder Falsetstimme wird der Kehlkopf mehr oder weniger überspannt hinaufgezogen, die Stimmritze mit Gewalt verengt, und nur ein Theil des Ganzen in der Höhe gebraucht. Dasselbe geschieht bey den zu tiefen Tönen durch gewaltsame Herunterziehung des Kehlkopfs und Erweiterung der Stimmritze.«

»Und so braucht man nur einen Theil der Tonwerkzeuge, wenn man spricht und nicht singt. So kann ein Redner eine schöne Aussprache haben, und ein schlechtes Organ zum Singen, weil er bloß die Theile übt, die zur Sprache gehören, vielleicht auch von Natur nur diese fest und rein hat: und so kann ein vortreflicher Sänger unangenehm sprechen, weil die Werkzeuge, die dazu gehören, bey ihm nur einen Theil zum Ganzen ausmachen, und an und für sich selbst mangelhaft zu einem für sich bestehenden Ganzen sind.«

»Unter allen Thieren hat der Mensch das vollkommenste Stimmorgan; die Nachtigall unter den Vögeln das einfachste.«

»Die Methode, die Stimme zum Gesang zu bilden und zu üben, ist[25] in Neapel, Rom, Venedig, Mailand, Turin so bekannt, wie bey den Preußen das Marschiren und Exerziren; jeder musikalische Korporal weiß sie.«

»Wer singen lernen will, muß fürs erste eine Anzahl Töne rein in der strengsten Bestimmung, und rund in höchster Stärke und leisester Schwäche, wie ein Despot in seine Gewalt zu bekommen suchen. Er fängt an mit dem Tone, der ihm am natürlichsten ist, woraus, wenn ich mich so ausdrücken darf, sein ganzes Wesen geht, und worin er gewöhnlich spricht. Wenn er diesen rein und voll hat: so geht er einen tiefer, und ebenso zwey und drey und vier tiefer; und dann einen, zwey, und drey in die Höhe, bis er eine Oktave richtig und rund hat, ohne bey irgend einem Tone Hinderniß und Schwierigkeit zu finden, zu straucheln und zu wanken.«

»Dann sucht er sie zu verbinden, zu verschmelzen.«

»Dann geht er immer weiter in die Tiefe und die Höhe; in die Fistel über; und sucht die ganz vollen Töne mit den Tönen dieser, so unmerklich wie möglich, zu vereinbaren.«

»Alles dieses geschieht mit dem bloßen Vokal A ohne Konsonanten.«

»Ein voller Ton mehr in der Höhe oder Tiefe, und sollte dessen Besitz Monate kosten, ist so wichtig, wie ein Zoll mehr beym Maaße der Menschenlänge.«

»Hat man einmal eine hinlängliche Anzahl von Tönen: so fängt man damit allerley einfache Uebungen an. Fürs erste schwellt man jeden vom Leisen bis zur höchsten Stärke, und läßt ihn so wieder bis zum Leisen sinken; steigt dann die ganze diatonische Leiter hinauf und hinunter; übt nun die Sprünge in Terzen, Quarten, Quinten, Sexten, und so weiter, hinauf und herunter, haarscharf abgemessen, bis zur größten Richtigkeit und Fertigkeit, Verbindung und Gleichheit.[26] Endlich steigt man die Leiter durch die halben Töne hinauf und herunter, welches das Schwerste ist, aber bis zur Richtigkeit erlernt werden muß.«

»Dabey darf keine Ungeduld und Uebereilung statt finden; mehrere Jahre gehören zu dieser himmlischen Reifheit der Kehle. Und dann erst kommen Triller, Verbindung der Töne mit den Sylben, Aussprache, Declamazion, Manieren, Läufe; Seele, Geist und Leben.«

»Die Hauptsache ist das Mundstück, der Kehlkopf und dessen Stimmritze, bey einem zarten und reinen Gehör. Wenn die Natur diese Mündung nicht überein geschmeidig und festsehnicht gebildet hat, der Ton wankend und falsch daraus hervorkommt: so ist alle Mühe und Uebung vergeblich. Und gutes Ohr und vortreflicher Kehlkopf sind nach der Erfahrung so selten, wie ächtes Genie und hohe Schönheit2[27]

»Bey blasenden Instrumenten kommt es hauptsächlich auf die Lungen, Zunge und Lippen an; und bey den andern auf Arm und Hand. Gutes Gehör und Herz und Geist muß übrigens allezeit im Menschen seyn, sonst wird nie etwas Großes. Neapel und Venedig haben in Besorgung der musikalischen Erziehung den Vorzug vor allen Städten der Welt. Bey ihnen geht so leicht keine gute Stimme verloren. In Neapel sind drey Stiftungen, wo an die vierhundert Zöglinge aufgenommen werden, denen immer die besten Meister vorstehen. Auch sind beyde vorzüglich dadurch glücklich.«

»Doch vergeben Ew. Durchlaucht, und Sie reizende junge Dame. Die Aufmerksamkeit, deren Sie mich würdigten, hat mich über die gehörige Grenze, und vielleicht bis zum Pedantischen verleitet.«

Hierbey waren sie bis zum Eingang des Schlosses gekommen. Hildegard schöpfte frischen Athem, so voll Lust hatte sie zugehört. Sie sagte mit leiser süßer Stimme, wie für sich: »Vortreflich!« und[28] konnte sich nicht enthalten, mit unbeschreiblicher Grazie ihm flüchtig die Hand zu berühren; welches wie ein elektrischer Schlag ihm durch sein Wesen drang.

Der Fürst blickte heiter und freundlich auf ihn, und gab zur Antwort: »Es scheint, daß die Natur zu gewissen Zeiten für die Ersprießlichkeit und den raschen Wachsthum der Künste schöpferische Geister hervor und durch mancherley Umstände zur Reife bringen müsse, die hernach dem Ganzen Stoß und Richtung geben. Wenn man diese nicht hat, entsteht bey dem besten Willen nur ein ekelhaftes Nachäffen. Wahr aber ist es, der Verstand und die Pflegung eines mächtigen August und Ludwig, und Städte wie Neapel, Rom, Venedig, Paris, London, Wien, Berlin sind alsdann dafür gedeihliches Wetter, Sonne, Mond und Sterne.«

Die Fürstin und die Mutter, und andre Herren und Damen, theils vom Hofe, theils aus dem Orte, die da schöne Häuser und Gärten besaßen, und sich den Sommer über auch da aufhielten, hatten sich inzwischen eingefunden. Die Gesellschaft ging in den Speisesaal. Reinhold umarmte herzlich seinen jungen Freund, und Beyde schieden, jeder nach seiner Wohnung.

Lockmann ging auf seinem Zimmer, voll unaussprechlicher Empfindungen, langsam und oft stille stehend, auf und ab; aß ein wenig, trank aber desto mehr von einem alten wohlthätigen Hochheimer, und legte sich mit folgendem Stoßseufzer zu Bette: »Soll unsre hochgepriesene Vernunft die Staatsverfassungen nie dahin bringen, daß zwischen Menschen, die für einander geboren und erzogen sind, keine so ungeheure Kluft mehr seyn muß!«

Hildegard sprach sehr wenig an der Tafel; doch was sie sagte, war voll Sinn und Verstand, und aller Augen waren auf ihre[29] blühende Schönheit gerichtet. Der Fürst schätzte sich glücklich, einen solchen Meister, wie Lockmann, für seine Musik gefunden zu haben; er erzählte die Geschichte mit ihm auf dem Petersberge zu Erfurt, und beschrieb die schönen Knochen des Grafen von Gleichen und seiner zwey Weiber. Neben Hildegarden saß Herr von Wolfseck, Sohn des Ministers, welcher sie mit allerley Tand und Aberwitz zu unterhalten suchte; er war ein geschickter Rechtsgelehrter, aber widrig von Gestalt in seiner langen Figur, und hatte keinen Funken Geschmack und Gefühl für alle Kunst. Sie sahen einander bey ihrer Ankunft, wo er gerad' in Geschäften auf dem Schloß ihnen einige Höflichkeitsbesuche abstattete.

Der junge Tag und das Schwalbengezwitscher weckten Lockmannen von lieblichen Träumen. Er sprang auf, und betrachtete die Morgenröthe, eine wahre Glorie der Sonne, wie sie kein Tizian und Correggio mit Farben darzustellen vermag. Sie nähert sich selbst; und ein glühendes Roth durchdringt die Pforten des Aufgangs, wie die Wangen eines unerfahrnen Mädchens. Schon ist sie da, und wollüstig gleitet der Blick von ihrer feurigen Majestät ab, bis sie ganz in schöne Rundung sich erhoben hat, und das geblendete Aug' ihre Strahlen nicht mehr aushält. Frische Kühle mit dem Duft der Blumen durch das offne Fenster vom Garten stärkten alle Glieder aus dem warmen Bette bis zum lebendigsten Bewußtseyn.

Lockmann ergriff das vortrefliche Fernrohr von Ramsden; legte es aber schnell wieder hin, als ob er sich die Finger daran verbrannt hätte; und nahm den festen Entschluß, sich von der Zauberin entfernt zu halten, und seine Neigungen gleich anfangs zu unterdrücken, damit sie nicht zur Leidenschaft anwüchsen, die nicht anders als unglücklich seyn könnte.[30]

Um sich sogleich zu beschäftigten, und seinem Geist eine ganz andre Richtung zu geben, legte er die Stimmen des Messias von Händel für die erste Probe zurecht; nahm die Partitur, setzte sich ans Klavier, und schrieb Folgendes zum Unterricht für seine Leute auf, die um neun Uhr dazu bestellt waren.


Messias; ein Oratorium von Händel.


»Es enthält in drey Theilen die ganze Geschichte Jesu.«

»I. Verkündigung, Geburt. II. Leiden und Tod. III. Auferstehung, und Unsterblichkeit. Die Worte sind meistens aus den Evangelien genommen; sie haben viel Großes und Feyerliches, besonders für Chöre; und überhaupt für Musik vortrefliche Stellen.«

»Händels Melodie und Darstellung hat fast immer den herzlichen Deutschen Charakter; es ist etwas Kräftiges und Unschuldiges darin. Die neuere Neapolitanische Schönheit hat er nicht; damals war die Fertigkeit in Kehlen und auf Instrumenten noch nicht so weit getrieben. Gewiß aber gehört er unter die vortreflichsten Tonkünstler seines Zeitalters.«

»Darstellung, wenn man so sagen darf, wird merklich bey: blick auf, Nacht bedecket das Erdreich; stärker in der Arie: das Volk, das im Dunkeln wandelt

»Es waren Hirten beysammen auf dem Felde; hat ein schönes Schäfervorspiel.«

»Und die Klarheit des Herrn umleuchtete sie: ist treflich durch die Begleitung ausgedrückt, die ein sanftes Licht wallt; nicht loderndes Siriuslicht, wie das Lux perpetua bey Jo mellis Requiem. Die Glorie ist in dem Tone fort schön: die Menge der himmlischen Heere. Der Chor vortreflich: Ehre sey Gott

»Der Wechselgesang: er weidet seine Heerde, im Zwölfachteltakt[31] und B dur, ist ein Meisterstück, durchaus voll Sanftmuth, Liebe und Zärtlichkeit. Solche Musik dauert ewig; sie ist gerade so natürlich, daß man sie nicht merkt, sondern nur der Sinn der Worte übergeht. Es ist ganz Glucks Art; und dieser mag nicht wenig von Händeln in seine neue Bahn getrieben worden seyn.«

»Nur in der Begleitung kommen zuweilen die langen Manschetten, das Gedehnte, Schlotternde seiner Zeit vor.«


Zweyter Theil.


»Er ward verschmähet; ganz vortreflich ausgedrückt, in eben der Art, wie er weidet seine Heerde. Man merkt die Musik auch wieder nicht, so natürlich ist sie; und so wenig unterbricht die Begleitung.«

»Die Chöre sind fast immer meisterhaft. Und der Ewige legt auf ihn unser aller Missethat. Dieser kleine ist von der allerstärksten Wirkung; wie Glucks vortrefliche.«

»Die Schmach bricht ihm das Herz. Dieses begleitete Recitativ zeigt Händels Darstellungskraft am allerstärksten; und nur ein großes musikalisches Genie kann Melodie und Begleitung so tief und rein gefühlt erfunden haben. Die verkleinerte Sext, und der verminderte Septimenaccord spielen darin die Hauptrolle. Man kann dieß Recitativ unter das allervortreflichste stellen.«

»Die kurze Arie: schau hin und sieh, wer kennet solche Qualen! ist wieder Glucks Art.«

»Lieblich ist der Boten Schritt, sie kündigen Frieden uns an; im Zwölfachteltakt, fast durchaus nur mit einer Geige und dem Basse begleitet; ganz vortreflich. Schöne Stelle: ihr Schall ging aus in alle Welt[32]

»Der Chor: Halleluja, mit Trompeten und Pauken, ist durchaus vortreflich; und beschließt den zweyten Theil mit einer prächtigen Fuge: und er regiert ewig; in einem reizenden Sextengange das einfache Thema.«


Dritter Theil.


»Ich weiß, daß mein Erlöser lebt; aus dem E dur. Eine erstaunliche Zuversicht in der Melodie; bloß wieder mit einer Geige und dem Basse begleitet.«

»Göttlich, der Chor: Wie durch Einen der Tod, grave; so kam durch Einen die Auferstehung, allegro.«

»Denn wie durch Adam alle sterben, grave. Dieses ist beydemal bloß vierstimmig, ohne alle Begleitung, von großer Wirkung. Also wird wer starb durch Christum auferweckt, allegro.«

»Merkt auf, ich kündig' ein Geheimniß an; Recitativ mit Begleitung, von der Baßstimme vortreflich declamirt. Schöne Arie dazu, mit der Trompete Solo: sie schallt die Posaune. Der zweyte Theil ist ganz unbegleitet. Sie macht mit den andern guten Kontrast.«

»Die letzten Chöre sind vollendete große Meisterstücke. Würdig ist das Lamm, das da starb, Largo; und die Fuge: Preis und Anbetung und Ehre und Macht sey ihm, der da sitzet auf seinem Thron; im schönsten natürlichsten Thema zur Declamazion, Larghetto; sie zeigt recht die allerstärkste Gewandtheit in dieser Form. So wie gleich darauf die Fuge: Amen, allegro; welches einen muthigen wilden stürmischen Beschluß macht.«

»Die wahre Musik ist nur Eine, so lange der Mensch seine Natur, und die Accorde, Konsonanzen und Dissonanzen ihr ewiges Verhältniß[33] behalten. Sie ist dieselbe bey dem Miserere von Allegri, und bey Leo, Pergolesi, bey Hasse, Traetta, Jomelli, Majo; Händel, Gluck; nur bey den letztern von mindrer Schönheit und Mannigfaltigkeit, als bey den Neapolitanern. Sie geht überall auf den Zweck los, den Sinn der Worte und die Empfindung in die Zuhörer überzutragen, so leicht und angenehm, daß man sie selbst nicht merkt; und das Ohr, wo möglich, dabey zu bezaubern.«


Um neun Uhr ging er in den Konzertsaal. Alle waren schon da versammelt. Wie ward er aber überrascht, als Hildegard, ganz zur Andacht weiß gekleidet, nur eine kaum aufgeblühte Rose in den schönen blonden Locken, unter den Sängerinnen hervortrat und ihn mit diesen Worten anredete: »Auch ich bin gekommen, mich in die hohe Kunst, als eine gehorsame Schülerin von einem so vortreflichen Meister einweihen zu lassen, wenn er meine Stimme und geringen Fähigkeiten würdig genug dazu findet.«

Lockmann antwortete ernsthaft darauf: »Gehorsamst bitten wir vielmehr um Ihren guten Unterricht, gnädiges Fräulein, bey der Aufführung des Meisterstücks von unserm großen Landsmann, der die himmlische Kunst so entzückend unter die Britten verpflanzte, daß noch jetzt seine Melodien und Harmonien ihm wie einem Heiligen in ihren Tempeln widerhallen. Von den Jubelorkanen, Donnerwettern, Niagarakatarakten in Westminster können Sie hier freilich nur einen äußerst schwachen Nachlaut hören.«

»O, ich glaube nicht, versetzte sie eben so ernsthaft, daß der Instrumentensturm, der die Menschenstimmen, immer doch die Seele des Ganzen, so überrauscht, dem Unsterblichen gefallen könne, der die rührendsten Melodien, die er ihr gegeben hat, meistens nur, wenn[34] ich mich so ausdrücken darf, gleichsam in ein zartes Griechisches Gewand hüllte; und hoffe bey Ihrer Aufführung mehr wahre Nahrung für Herzen und Religionsgefühle zu finden. Doch war die Begleitung auch in Westminster nicht so stark, als man auswärts sich vorstellt; die Stimme steht weit voran, und alles gleichsam nach der Ohrenperspektiv.«

Beyder Blicke glänzten in einander bey diesen Reden, wie von einem gemeinschaftlichen Geistesquell.

Er ließ sich inzwischen nicht stören, theilte die Stimmen aus, und überreichte ihr die Sopranstimme; sie nahm diese gefällig an, und stellte sich an den gehörigen Posten.

Darauf machte er Alle nach seinem flüchtigen kurzen Aufsatze mit dem Ganzen bekannt, zeigte jedem, wie die Hauptstellen vorzutragen wären; setzte sich an den Flügel, und fing an. Die Gegenwart und Mitwirkung der Schönheit selbst, von der Themse her über, brachte die gespannteste Aufmerksamkeit zuwege. Er führte wie ein junger Apoll an, und die Probe war in der That ein reizendes Schauspiel.

Sie gelang auch sogleich zum Verwundern. Niemand unter ihnen, und selbst Lockmann hatte noch je so reine, volle, süße, Ohr und Herz schmeichelnd ergreifende Töne gehört, als bey den Worten: er weidet seine Heerde; und: lieblich ist der Boten Schritt, sie kündigen Frieden uns an; aus der gewaltigen Kehle und von den holdseligen Lippen der Hildegard, wie der Cäcilia selbst aus dem Himmel auf Erden, hervorströmten, in Bescheidenheit und Unschuld, ohne die allergeringste Künsteley, nur mit den Accenten hoher Grazie und den netten Läufen rascher Jugend und Fertigkeit da und dort verziert und geschmückt.

So wie sie ihn, entzückte er sie; er sang mit ihr den zweyten Sopran,[35] anstatt der Sängerin, die ihn singen sollte, zuweilen im Tenor, mit der Entschuldigung, ihr für die nächste Probe nur den gehörigen Ausdruck zeigen zu wollen. Beyde hatten solche Vollkommenheit von einander nicht erwartet; er nur viel weniger von ihr. Nach ihren ersten Arien sprang er vom Flügel, fiel vor ihr nieder voll Gluth des Enthusiasmus, faßte ihre zarten Hände, küßte sie inbrünstig, und stammelte: »Wunderwesen, ich bete Sie und Ihre Kunst an. O, die Italiäner haben Recht, daß sie einer Gabrieli, einem Pacchiarotti, Marchesi fünf- und zehnmal mehr dafür geben in einer Oper zu singen, als einem Sarti, Paesiello, die ganze Musik dafür zu setzen. Die vortreflichsten Noten sind dürres Geripp, wenn ihre Melodien nicht durch solche Stimmen schön und reizend und jugendlich lebendig in die Seelen gezaubert werden.«

Sie ergriff ihn bey der Hand, zog ihn in die Höhe, und sagte lächelnd: »Zu viel, zu viel Lob für eine Anfängerin! ich werde sonst Nichts lernen.«

»Nichts lernen? Muthwillige!«

Dieser Vorfall kam allen so natürlich vor, daß er fast nicht bemerkt wurde. Mann und Jüngling und so gar die Weiber sagten wie aus Einem Munde: solche göttliche Stimme hätten sie noch nie gehört, mit so viel Fertigkeit und Ausdruck.

Darauf ging die Probe fort, von ihrer Seite immer mit neuer Schönheit überraschend bis zu Ende.

Sie hielt sich nicht lange mehr auf, bat nur, daß man nichts von ihrer Anwesenheit sagen möchte; verneigte sich vor Lockmann und der Gesellschaft, und verschwand wie eine Gottheit. Ein freudiges Murmeln entstand im Saal, wie von den Wogen an den Ufern des Meers, wenn die Weste nicht mehr in den Lüften gehört werden.

[36] Lockmann bestellte Sänger und Sängerinnen zur zweyten Probe des Miserere auf den Nachmittag; und zugleich zu einer neuen für ein kleines Werk von dem Patriarchen der Kirchenmusik, Palestrina. Und die Gesellschaft ging höchst vergnügt aus einander.

»Das ist wieder ganz etwas anders!« sagt' er laut für sich, als er nach seinem Zimmer ging. »Aber was will daraus werden!« endigte er mit einem tiefen Seufzer.

Er dachte schon auf Plane; aber es war ihm, wie einem Wandrer, der in ein reizendes Thal sich verirrt, voll Bäche, Quellen, und Wasserstürze und anmuthiger Waldung, wo er aber lauter unersteigliche Gebirge vor sich sieht, und keinen andern Ausweg findet, als wieder zurück zu kehren. Sie dachte auch auf Plane, mit viel erfreulichern Aussichten.

Kurz vor der Probe schrieb er die wenigen Worte nieder:

»Fratres, ego enim accepi a Domino. Di Palestrina.«

»Der Text sind die Einsetzungsworte beym Abendmal.«

»Fratres, ego enim accepi a Domino, quod et tradidi vobis; quoniam Dominus Jesus, in qua nocte tradebatur, accepit panem, et gratias agens fregit et dixit: Accipite et manducate, hoc est corpus meum. Hoc facite in meam commemorationem.«

»Vortrefliche Musik. Der Anfang besteht aus den reinsten Konsonanzen, zweystimmig; Quinten, Oktaven, Quarten, Terzen, Sexten. Darauf imitirt der Alt und Baß.«

»Es wechseln immer zwey Chöre ab, und verflechten sich zuweilen bey den Hauptstellen. Sie bestehen beyde aus zwey Sopranen, Alt und Baß. Die Harmonie geht nur zweymal drittehalb Oktaven auf dem tiefen B im Basse aus einander, bey ›gratias agens‹ und ›in meam commemorationem.‹«[37]

»Der Hauptton ist G moll.«

»Der Name Jesus wird durch die Harmonie meisterlich herausgehoben; Dominus ist im Accord C dur, Je in B dur und fällt durch eine Kadenz in F dur. Und im ersten Chor sogleich von Dominus in F dur, Je in Es dur, und die Sylbe sus in B dur. Dieß scheint Kleinigkeit, ist aber bey der Aufführung von der größten Wirkung, und stellt das Gefühl der Gläubigen dar. Es ist gerade dasselbe, als wenn der Prediger auf der Kanzel bey dem Namen sein Käppchen abnimmt.«

»Bey Accepit panem, et gratias agens, winden sich beyde Chöre wie im Taumel achtstimmig voll Kunst durch einander. Accipite et manducate: hoc est corpus meum; ist am öftesten wiederhohlt, und vortreflich ausgeführt durch die schönsten Verflechtungen.«

»Hoc facite in meam commemorationem, wird mit aller Pracht ausgeführt in C dur, F dur, B dur, F dur, C dur, G moll, D dur, und G dur.«

»Ich habe diese Musik in der Peterskirche zu Rom aufführen hören. Die Kapelle saß in einem Gegitter, und man konnte keinen Sänger sehen. Die Harmonie ward dadurch noch mehr zu einem Ganzen; welches in seinen Windungen und gleichsam verwirrtem Dialog von Chören das Geheimnißvolle der Handlung, und die Gefühle gläubiger Christen dabey vortreflich darstellt. Jeder Chor scheint ein Ganzes für sich zu machen; das Zusammenpassen und Schmelzen ist eben die große Kunst bey so vielstimmigen Sachen.«


Die Probe des Miserere ging gut genug, so daß keine mehr nöthig war; und in das kleine Werk von Palestrina studirten sie sich bald[38] ein. Freytag Morgens, es war Mittewoch, sollte noch einmal eine Probe von allem gehalten werden.

Darauf machte Lockmann einen Strich ins Feld hinein, ergötzte sich an der Fruchtbarkeit und Schönheit des Landes, sah auf den Höhen von fern den Vater Rhein wie einen breiten Lichtstrom prächtig vom Himmel hernieder blinken; und pries sich glücklich, in dieser herrlichen Gegend zu leben. Dazwischen war aber immer sein geheimes heftiges Verlangen Hildegard; doch konnt' er noch nichts Klares darüber in seinem Kopf hervorbringen. Er hatte den Tag Bewegung genug gehabt, und ging, als schon die Lyra über ihm durch das blaue Heiter der Luft glänzte, nach Hause, um gut zu essen, zu trinken und zu schlafen.

Den folgenden Morgen war die Sonne so eben über das Gebirg' empor, als ihn ihr starkes Licht weckte. Das Fernrohr fiel ihm ins Auge, und mit einem Sprung hatte er es in der Hand, das Fenster offen, und schaute. Er konnte an den Linden Stamm und Zweig und jedes Blatt unterscheiden, als ob er sie auf wenig Schritte vor sich hätte; sah ein klares und helles Bächlein zwischen Blumen auf grünem Rasen darunter weg in die Wasservertiefung rinnen, und entdeckte endlich hinten in der Dämmerung erhoben eine Quelle, in schöner Rundung eingefaßt. Der Garten war lauter Frühling, Paradies und Reiz; aber das Schönste darin erschien nicht. Hildegard hatte vorgestern, als sie sich wieder ankleidete, zu spät mit ihrem scharfen Blick in die Ferne, ihn wie etwas Weißes und Buntes noch im Fenster des hohen Schlosses gesehen; wußte aber nicht, wer und was es war; und, wenn es ein Mann war, ob er sie vielleicht mochte beobachtet haben; und wählte nun, wenn sie sich zuweilen baden wollte, die Stunden der Nacht. Gestern, um dieselbe Zeit, ging sie[39] deßwegen im Garten spaziren, und betrachtete mit einem kleinen Fernglas die Fenster dieser Seite im dritten Stocke des Schlosses, von welchem allein die Wasservertiefung über die hohe Mauer und zwischen den Bäumen konnte gesehen werden. Da sie nichts bemerkte, so war sie ohne Sorge, blieb aber doch bey ihrem Entschluß.

Einige Stunden darauf kam ein Bedienter, und lud ihn, im Namen der Mutter, des Sohns, und der Tochter von Hohenthal, zum Mittagsessen ein. Er wollte um drey Uhr, die bestimmte Zeit, gehorsamst aufwarten. Dieses setzte sein ganzes Innres und seine Einbildungskraft heftig in Bewegung, und er ging hastig in seinem Zimmer auf und nieder.

Hildegard herrschte zu Hause, und that, was sie wollte; obgleich voll kindlicher Ehrerbietung und des zärtlichsten Gehorsams gegen ihre Mutter. Diese folgte ihr in allem; sie war aus einer Menge Proben überzeugt von der klugen Aufführung, Einsicht und Menschenkenntniß ihrer Tochter. Hildegard hatte schon manchem jungen Herrn in London und zu Spaa den Kopf verrückt, sich selbst aber nie bethören lassen; und war jederzeit den gefährlichen Gelegenheiten schlau und fein ausgewichen. Sie trieb ihr obgleich muthwilliges doch unschuldiges Spiel immer nur bis auf einen gewissen Punkt, über dessen Grenze sie bisher nichts verleiten konnte. Die Wörter, Phrasen und Dithyramben von ihrer Schönheit, ihren Talenten und Vollkommenheiten, von Grausamkeit, Kälte, Eis, Flüchtigkeit der Jugend hörte sie bald nur zum bloßen Zeitvertreib. Da sie London überstanden hatte, so konnte bey der Deutschen Redlichkeit fast keine Verführung mehr für sie möglich seyn.

Sie war der Augapfel ihres vortreflichen Vaters, seine Hauptfreude und Sorge gewesen, und ihre Erziehung in allen Punkten reiflich[40] überlegt worden; was sie jedoch unnöthig machte, da sie, gerade so wie er wollte und wünschte, sich fast gänzlich aus sich selbst bildete, und nur die besten Meister zum Unterricht, und die vorzüglichsten Personen besonders ihres Geschlechts zum Umgang erfordert wurden.

Das Glück begünstigte sie in allem. Schon als Kind war sie über Falschheit, Verstellung, Verrätherey, Neid und Bosheit bey den Menschenpflanzen, ihren Gespielinnen und Gespielen, ohne großen Schaden klug geworden; und hatte an die ersten aller Tugenden: Schweigen, und für sich zu bestehen, Bescheidenheit und gerechte Würdigung eines Jeden; und was auf die Dauer gefallen und mißfallen muß, ihr Herz, ihre lebhaften Sinnen und immer klare heitre Seele früh gewöhnt.

Nur ein schlimmer Zug war in England bey den Wettrennen und großen Spielen ihrem edlen Charakter gleichsam angeflogen; und dieser bestand darin, daß sie es zuweilen wagte, eine Summe, die sie jedoch aus ihrer Sparbüchse und von ihrem Taschengelde mußte entbehren können, auf ein Kartenblatt zu setzen. Das letztemal, als sie kurze Zeit mit ihrem Vater zu Spaa sich aufhielt, hatte sie unvermerkt im Pharao an die tausend Louisd'or gewonnen.

Ihr Vater, der davon erfuhr, und dem sie aus Furcht nicht die Hälfte angab, machte ihr zum erstenmal die bittersten Vorwürfe darüber. Er stellte ihr die entsetzlichen Folgen, die daraus entstehen könnten, zum Theil noch unter Augen, mit den schrecklichsten Beyspielen vor. Sie vergoß heiße Thränen bey der harten Strafpredigt, fiel vor ihm nieder, betheuerte und schwur: sie sey von einer guten Freundin gereizt und verleitet worden, und werde es nie wieder thun. »Dieß verlang' ich nicht,« sagte der strenge, doch zärtliche Vater; »ich habe die Hofnung und das Zutrauen zu deinem guten Verstande,[41] daß es in Zukunft allezeit dein eigner freyer Wille seyn wird, dich nie in ein solches Spiel zu mischen, wo ein blindes Ungefähr den Ausschlag giebt, die Bank offenbar den Vortheil hat, und nur zu oft Betrügerey obwaltet, die mit einigen glücklichen Fällen zur Leidenschaft hinreißt.«

Inzwischen ließ er ihr das gewonnene Geld, war aber – was ihr in der Seele weh that – auf der Reise nach London nicht mehr so gutherzig und freundlich; und starb dort bald darauf.

Ihre Hauptleidenschaft war Gesang und Musik, und lyrische und dramatische Poesie dafür; diese überwog bey ihr alles andre.

Als Lockmann am Hause schellte, fing ihm das Herz stärker an zu klopfen. Diese Bekanntschaft schien ihm schnell und plötzlich eine neue volle sprudelnde Quelle in sein Leben zu werden. Das Innre der Wohnung traf er so reinlich an, alles so schön angelegt, die Zimmer meistens mit kostbarem Englischen Hausrath versehen, zum Theil mit Gemählden und Kupferstichen behangen, und alles mit so viel Geschmack eingerichtet, daß es ihn ergötzte und aufheiterte.

Als er in das Besuchzimmer eingeführt wurde, fand er da die Frau von Hohenthal mit ihrem Sohn, dessen Hofmeister, und einem jungen schönen klug aussehenden Weibchen, welches sie ihm als Frau von Lupfen bekannt machte. Sie waren alle gleich um ihn, und empfingen ihn höflich und herzlich; besonders freute sich Frau von Lupfen und der Sohn für den Sommer auf seine Gesellschaft.

Hildegard kam bald nachher in einem Kleide von grüner Seide, das Haar leicht gelegt und gelockt, und brachte in einem Körbchen voll Blumen den schönsten Frühling zur Tischverzierung; redete ihn traulich an und sagte: »Wir werden Sie haben ein paar Stunden[42] fasten lassen; und doch geben wir schon eine Stunde von London nach. Nächstens wollen wir wieder gute Deutschen seyn. Zwar aßen die klassischen Nazionen, wie Herr Feyerabend sagt, (so hieß der Hofmeister) die Griechen und Römer, noch später, als die Engländer.«

»Gewiß, versetzte Lockmann, gewinnt man bey uns desto mehr brauchbare Zeit, je später man ißt. Jedoch scheint mir die neuere Lebensart der Italiäner viel natürlicher für ihr Klima. In der größten Hitze von zwölf bis vier Uhr ist man, besonders in Rom und Neapel, und noch weiter gegen Süden, nicht wohl zur Arbeit fähig; und schläft da sehr vernünftig.«

»Wahrscheinlich, fügte Hildegard hinzu, ist das späte Essen der Alten auch nur vom Winter und den angrenzenden Jahrszeiten zu verstehen, wo die gütliche Mittagswärme Körper und Geist den besten Ton gab zu handeln. Und so sollten auch wir uns nach den Jahrszeiten richten, der Natur gemäß leben, und bald früher, bald später essen; immer aber in den nördlichen Gegenden, dünkt mich, die Hauptmahlzeit zu Abend halten: denn was bleibt uns sonst während des Winters, besonders in Schottland, Dänemark und Schweden, vom Tag übrig? Und Sie, Herr Feyerabend, müssen diese Meinung, die zu Ihrem Namen paßt, mit mir behaupten. Aber zu Tische, zu Tische!«

Anfangs wurde nur gegessen, wenig oder nichts gesprochen, und die Blicke spielten gefällig um einander. Die Speisen, das Beste der Jahrszeit, waren schmackhaft zubereitet, kräftig und einfach. Hildegard legte vor, und besorgte alles.

Das Essen war für Lockmann das Geringste; er ließ sich besser, doch mäßig, einen köstlichen Markbrunner schmecken, und weidete[43] seine Augen an den herrlichen Verzierungen des Speisesaals, welcher in der schönsten Größe und Proporzion, die Höhe gerade die Hälfte der Länge und Breite, erbauet war und die angenehme Aussicht in den Garten hatte.

An der großen Wand hing die Hochzeit von Kanaan, die Figuren in Lebensgröße, lebendig in schönen erfreulichen Gestalten und voll Kleiderpracht, aus der Venezianischen Schule; an den Seitenwänden zwey Seestücke von Vernet: ein wüthender Sturm; und das zweyte die Brandung der Wogen am Ufer nach demselben. Die Kunst kam in beyden der Natur äußerst nahe; er glaubte das Rauschen des unbändigen schäumenden Wellenschlags zu hören, und sah die ungeheure Tiefe im grünlichen Seewasser. Die Lüfte glichen der Wirklichkeit. Alles war mit einem festen sichern Feuerblick aufgefaßt, und mit geübter Meisterhand fertig hingemahlt.

Er hatte das Beste der Mahlerey mit Ueberlegung fast durch ganz Italien gesehen; und erkannte gleich diese zwey Stücke für unschätzbare Kopien der zwey vortreflichsten Seestücke zu Rom von dem Niederländer Backhuisen im Pallast Colonna.

Nach allerley kleinen komischen und witzigen Neckereyen zwischen der Frau von Lupfen, Hildegard, und ihrem Bruder, wobey Persönliches und Häusliches mit unterlief, kam das Gespräch bald auf Italien, wohin die Mutter die letzte Reise mit ihrem Gemahl gemacht hatte. Sie erzählte interessante Anekdoten von dortigen Höfen, charakterisirte einige der vortreflichsten Menschen beyderley Geschlechts, die sie hatte kennen lernen, höchst lehrreich für ihre Kinder; kam dann, bey den Vergnügungen der Gesellschaften, auch auf die Musik, und rühmte den starken einfachen Ausdruck der Sänger und Sängerinnen, die sie gehört hatte, als den Guadagni, [44] Caffarelli, die Agujari und die noch sehr junge Gabrieli. Die Action, und was man in Gesellschaften den guten Ton nennt, der zuweilen bis zum Witz und zur Persiflage ging, bewunderte sie im Vortrag der letztern vorzüglich; und glaubte, daß sie dadurch einen nicht geringen Theil ihres Ruhms eingeärntet habe.

Lockmann erwiederte: »Gewöhnlich fehlt es in Italien den Sängern entweder an Action, oder den Acteurs an Stimme; und selten findet man beydes zusammen. Ueberhaupt ist jetzt die Musik dort fast nur Mode geworden; man will immer neue Manieren, Floskeln, und der große Haufe mag über das Ganze eines Stücks nicht nachdenken. Deßwegen sind die heutigen Opern der Italiäner meistens im Großen auch nicht viel werth. Das Publikum, und dann die Sänger sind Schuld daran; die Meister müssen schreiben, wie diese wollen. Zehn Töne nach einander schnell weg sind leichter zu singen, als ein einziger von Gewicht, der so lange, wie sie alle, dauert, in Geschmeidigkeit, Stärke, Schönheit. Wer eine schwache Stimme hat, oder durch die Fistel singt, sucht diese neuen Manieren, Läufe, überraschenden Sprünge. Wenn wir wieder die großen Sänger haben, so wird auch das Vortrefliche, wenn ich mich so ausdrücken darf, der antiken Musik wieder aufleben.«

»Gewiß hat Traetta seine schönsten Scenen großentheils der Gabrieli zu verdanken. Ohne sie würd' er die erhabnen Melodien: O di tranquilla pace amabil sede, ascolta, o sacro tempio, i voti miei; – Dove mi guidi, o Dio! – Ombra cara, che t'aggiri; und die ganze göttliche Oper Antigona nicht hervorgebracht haben. Solche vortrefliche Sängerinnen und Sänger sind dem Tonkünstler eben das, was Phryne dem Praxiteles, und die Kampaspe des Alexander, in jeder Rücksicht eines Helden, dem Apelles waren.«[45]

»Ihre geschmackvolle Bemerkung, gnädige Frau, bringt mich darauf, hier ein Wort darüber zu sagen, worin ich glaube, daß die Vollkommenheit der Sänger und Sängerinnen, oder überhaupt der Meister, die für die dramatische Kunst arbeiten, bestehe.«

»Zu den vortreflichen gehört wesentlich dreyerley: Genie; Kunst; und Welt, oder Kenntniß der ersten Menschen ihrer Zeit.«

»Erstens Genie. Der Meister muß sich in den Charakter seiner Personen und deren Leidenschaften versetzen können, und dieß mit Tönen ausdrücken.«

»Zweytens Kunst. Es muß den ganzen Umfang der Harmonie, der Kehlen und Instrumente kennen.«

»Drittens Welt. Er muß wissen, was schicklich, guter Ton und Vortrag ist.«

»Es giebt vielleicht keinen, oder doch nur wenige, die in allen diesen drey Stücken gleich vollkommen sind.«

»Selbst bey unserm Gluck kommt zuweilen der Pedant und der Wilde zum Vorschein. Bey Jomelli oft der Pedant, oder Musikmeister. Piccini, Sacchini, Sarti, Paesiello haben viel Welt; aber es fehlt ihnen oft bald an Genie, bald an Kunst.«

»Uebrigens kenn' ich kein glückseligeres Leben, setzte er hinzu, als mit so erstaunlichen Vorzügen, wie die Gabrieli, auf den ersten Theatern von Europa die Herzen, Ohren und Augen zu entzücken, zu glänzen, und auch nur die kurze Spanne ihrer Jugend so bewundert zu werden.«

Das Herz hüpfte Hildegarden im Leibe bey diesen Worten; die jungen Sphären hoben mächtiger das Gewand auf und nieder, und ihre schönen großen Augen strahlten ein hellbrennendes süßes Licht.

Auch Lockmann saß heiter; Leben und Seele glühte in ihm, und[46] er dünkte sich zum Halbgott im Olymp aufgenommen, als sie ihm gegen Ende der Mahlzeit einen feurigen lieblichen Syrakuser mit zarter Hand einschenkte, darauf den Andern, und sich selbst ein Spitzgläschen voll goß, anstieß, und scherzend sagte: »Neapel und die Musen! mir bald dahin eine glückliche Reise!«

Nach dem Lobe dieser anmuthigsten Stadt und Gegend von Europa, und nach andern Reden, wobey das Gespräch allgemeiner und lebhafter wurde, stand man auf und ging in den Garten, um unter den Linden den Kaffee zu trinken.

Lockmann bewunderte die schönen Anlagen, bequemen Spaziergänge, und auserlesenen Pflanzen, Blumen, Stauden und Bäume; besonders aber den himmlischen Platz der alten Linden um die klare frische volle Quelle, wovon der kleine Bach in die Wasservertiefung rann. Die angenehmsten Aussichten, welche die Gegend darbot, waren sowohl im Hause, als im Garten mit Kennerblick benutzt.

Der junge Hohenthal erzählte, wie sein Vater den ganzen Raum dazu, der Quelle, der alten Linden und der Anhöhe wegen, von verschiednen Besitzern zusammengekauft habe; und berührte dessen Grundsätze in Anlegung desselben.

»Ein Garten, fuhr er fort, ist das Pflanzenreich im Dienste des Menschen.«

»Die Engländer schwärmen, wenn sie in ihren Gärten die Natur haben wollen, wie sie ist, sich selbst überlassen. Die Anarchie kann hier eben so wenig statt finden, als in der bürgerlichen Gesellschaft. Richardson affektirt so die Natur in seinen Romanen, und wird unerträglich langweilig.«

Lockmann erwiederte: »Sie haben Recht; alle Kunst geht auf Zweck für Menschen.«

[47] Frau von Lupfen. Die Franzosen in ihren alten Gärten waren Tyrannen, und machten die Bäume zu Krüppeln, oder schnitten sie in alberne Figuren. Hirschfeld ist jedoch komisch, wenn er Alleen so haben will, wie die Bäume in Wäldern wachsen.

Hohenthal. Die Natur im Dienst des Menschen braucht nie zur Unnatur zu werden.

Feyerabend. Die Scipionen waren edel, groß und herrlich, erhabne Menschen, und dienten doch dem Römischen Volke; Sully Heinrich dem Vierten; Türenne Ludwigen; Schwerin und Winterfeld und Zieten dem großen König Friederich. Man kann aber gleich an einem großen Garten sehen, ob der Besitzer ein Mark Aurel, ein Tyrann, oder bloßer Affe ist.

Frau von Lupfen. Man muß die Natur nehmen, so wie man sie vor sich hat; und dann zum Nutzen und Vergnügen treflicher Menschen verschönern und brauchen.

Lockmann. Alpen und Genferseen, und die prächtigen Wasserfälle der Schweiz wird man dieser wohl lassen müssen; und so Rom seine Wasserleitungen, Tempel, Theater und Amphitheater in Trümmern. Ueberhaupt ergötzt das Spiel auch noch so gut nachgemachter Ruinen nur wenige Tage und Stunden. Die Evidenz des Unnatürlichen und Unzweckmäßigen ist für Verstand und Sinn zu auffallend.

Hohenthal. Aber nichts desto weniger kann man Bäche rauschen lassen, wo sie von Natur nicht rauschen; Brunnen springen lassen, um die Luft zu erfrischen, ohne Ißland gesehen zu haben, wo die Quellen von selbst so ungeheuer hoch springen sollen; und die Pfirsich- und Aprikosenbäume an die Wände ziehen und pfropfen, um köstlichere Früchte zu erhalten. – Auch das erhebt den Menschen, daß[48] die Natur ihm dienen muß, und ist gar kein schlecht Gefühl; wenn er nur ein guter und verständiger Herr ist.

Hildegard schwieg zu diesem allen, um ihr Geheimniß nicht zu verrathen; nämlich alle Kunst und Feinheit so viel wie möglich zu verbergen.

Sie sonderte sich unvermerkt mit dem jungen Meister von der Gesellschaft ab, wandelte mit ihm durch die schattigsten Gänge, und ließ sich in ein trauliches Gespräch ein. Frau von Lupfen, sagte sie, sey ihre Gespielin von Kindheit an gewesen; und noch ihre beste Freundin, von vortreflichem erprobten Charakter. Ihr Gemahl, hiesiger Oberjägermeister, habe sie vor einem Jahre geheurathet; sie wäre vor kurzem aus dem Kindbette von einem reichen Gut in Schwaben zurückgekommen. Unglücklicher Weise habe sie dabey ihre schöne Stimme fast gänzlich verloren, da sie vorher eine der besten Sängerinnen gewesen sey. Nichts desto weniger aber liebe sie noch die Musik mit Enthusiasmus, und errege Bewunderung auf dem Klaviere; spiele die schwersten Sachen von den Bachen, Mozart, Sterkel und Clementi mit einer seltnen Fertigkeit, und habe sehnlichst gewünscht, mit ihm bekannt zu werden.

Feyerabend sey stark in der Griechischen und Römischen Litteratur, mache artige Deutsche Gedichte, vertiefe sich zugleich in die Philosophie, habe viel Herzensgüte, eine wesentliche Eigenschaft für seinen Stand, und nichts von Schulmeisterdünkel.

Dann sah sie ihn nach einer Pause von etwa hundert Schritten mit schüchternem freundlichen Blick an, und sagte: »Wenn Ihre Geschäfte gestatten, die Woche wenigstens einmal zu uns zu kommen, um mir von Ihren Schätzen aus Italien etwas mitzutheilen, und ich einiges Unterrichts von einem so großen Meister nicht unwürdig[49] bin; so werden Sie von meiner Mutter und mir, jedoch ohne die geringste Zudringlichkeit, darum ersucht. Mein Bruder spielt ziemlich fertig die Geige, Herr Feyerabend die Bratsche; Sie könnten vielleicht manchen Abend, wo Sie nichts Besseres thun wollen, gesellschaftlich diesen Sommer bey uns zubringen.«

Lockmann antwortete: »Sie kommen meinem eifrigsten Wunsche, seitdem ich Sie sah und hörte, zuvor; nicht, um Ihnen Unterricht zu geben, sondern an Ihren Vollkommenheiten zu lernen und zu studiren. Hätte mir die Natur nur einige Funken von der schöpferischen Kraft eines Händel, Leo und Jomelli verliehen, welche Schönheiten und Reize, welchen Reichthum fände ich da nicht für meine Kunst! Noch nichts auf der Welt, weder in Deutschland, noch in Italien, hat mich nur einigermaaßen so zur Verehrung und Anbetung hingezogen.«

Gewiß that ihr dieß von dem holden jungen Mann in ihrem Innern wohl. Sie nahm es aber, jedoch mit einer wie plötzlich entstehenden und wieder verschwindenden leichten Bewegung, einer Art von Rührung des schönen geistreichen Kopfes, bloß als höfliche Gefälligkeit auf; und versetzte, indem sie nicht weit von sich die Lupfen mit ihrer Mutter erblickte: »Wenn Sie Lust haben, so gehen wir gleich auf unsern Musiksaal.«

»Mit Freuden!« war die Antwort.

Die Gesellschaft vereinigte sich wieder, und nahm den Weg dahin.

Im Saale, welcher schön ausgetäfelt zur reinen Verstärkung des Tons fast eben so eingerichtet war, wie Lockmann in Florenz Nardini's Zimmer gesehen hatte, stand eins der schönsten Englischen Pianoforten, und, was ihn sehr freute, mit Pedal.

Er setzte sich gleich daran; probirte erst die einzelnen Töne und[50] Tasten; that einige Griffe, machte Läuft mit beyden Händen, dann überraschende Gänge von Harmonie, und brauchte dabey wie ein geübter treflicher Organist das Pedal; pries das ganze Instrument sehr, vorzüglich aber zur Begleitung, rühmte den Ton und die Gleichheit. Alle aber kamen darin überein, daß die Klavierinstrumente von dem Augsburger Stein angenehmer wegen Beziehung und Proporzion der Saiten, Leichtigkeit des Anschlags und des Spiels über die Tasten wären.

Nur die Stimmung billigte Lockmann nicht so ganz. Er meinte: es sollte in der gleichschwebenden Temperatur gestimmt seyn. Jedoch sey dieß das Unglückliche von dem Instrument überhaupt, und die größten Meister wären hierüber noch nicht einig. Jeder Klavierspieler sollte billig sein Instrument leicht selbst stimmen können.

Frau von Lupfen bat ihn inständig deßwegen um Unterricht.

Er fuhr fort.

»Wenn der Klavierspieler ein ächter Freund der Musik ist, und reine Begriffe und Empfindungen liebt, so muß es ihm den angenehmsten Zeitvertreib gewähren; besonders wenn er an einem vortreflichen Instrumente sitzt, nachher die Töne mit fertiger Kunst und glücklicher Phantasie zusammengreifen, und ihre Wirkung in Melodie und Harmonie versuchen kann. Mit je mehr Lust und Liebe er es thut, desto tiefer wird er in die geheimste Wissenschaft, gleichsam die erste Schöpfung der Musik, eindringen.«

»Nehmen wir hier den harten Dreyklang von C. Die Quinte ist ein wenig zu niedrig, und die Terz E zu hoch; obgleich vielleicht treflich abgemessen nach der gleichschwebenden Temperatur.« –

»Jetzt hab' ich die Quinte und große Terz vollkommen rein gestimmt, wie sie die Natur schon selbst angiebt auf der tiefen Saite. Gewiß[51] hat der Accord einen andern Ausdruck, und die höchste Reinheit vollkommner Existenz lebt und regt sich, wie ein Alkibiades, eine Phryne aus dem Bade nur je dem Auge könnte, für ein zartes Ohr in der Luft.«

»Wir können nicht alle Accorde so rein stimmen, weil es mit der Anzahl von zwölf Tönen nicht möglich ist in einer Oktave auf dem Klavier, und weil derselbe Ton, wie ihn die Reihe trift, alle Konsonanzen und Dissonanzen machen muß.«

»Um Ihnen dieses deutlich für den Sinn des Auges vorzustellen, wünscht' ich ein Monochord zu haben. Doch wenig Zahlen und Beschreibung sind für den Verstand schon genug.«

»Wenn man auf dem Monochord eine Saite von vier oder fünf Fuß zum Beyspiel so spannt, daß der Ton das so genannte ungestrichene C entsteht, und ich einen Steg gerad' unter die Hälfte derselben stelle: so giebt jede Hälfte den Ton des eingestrichnen C, folglich die Oktave; und diese verhält sich also genau wie 1 zu 2.«

»Bringt man einen andern Steg unter den vollkommen richtig gemessenen dritten Theil der Saite: so giebt dieser den Ton des eingestrichnen G, oder die reine Quinte zu dem eingestrichnen C. Diese verhält sich also wieder genau zu diesem C wie 2 zu 3.«

»Bringt man einen dritten Steg unter den vierten Theil: so erhält man die Quart F zu C; und diese verhält sich wie 3 zu 4.«

»Die große Terz verhält sich wie 4 zu 5; die kleine Terz wie 5 zu 6.«

»Durch gehörige Mittel hat man dem Auge sichtbar gemacht, daß der Ton durch Schwingung elastischer Körper entsteht, die dem zarten Elemente der Luft eine gleichförmige Bewegung mittheilen, und daß die Zahl der Schwingungen sich gerade verhält, wie die angegebnen Längen.«[52]

»Drey große Terzen, als C E, E Gis, Gis His (= C) müssen auf unserm Klavier gerade eine Oktave ausmachen. Wenn sie aber rein sind, wie das Ohr und ihr Verhältniß sie erheischen: so fehlen zur Oktave drey Vierundsechzigtheile, wie in Zahlen leicht zu sehen ist;


Erster Theil

Und vier kleine Terzen, als C Es (Dis), Dis Fis, Fis A, A C auch genau eine Oktave. Wenn sie für das Ohr und nach Verhältniß gestimmt sind, so übersteigen sie dieselbe;


Erster Theil

»Der Fortschritt von zwölf Quinten, woraus alle Accorde unsers musikalischen Systems entstehen, muß gleichfalls eine reine Oktave ausmachen. Wenn sie aber alle rein sind: so kommt ein Abstand hervor in dem Verhältniß von 531441 zu 524288.«

»So beschwerlich dieß für die Polizey der eingeführten Ordnung unsrer neuen Harmonie ist: so muß Sinn und Verstand, von dem erhabnen Trieb alles Lebendigen, nirgendwo stehen zu bleiben, doch dabey zur Bewunderung hingerissen werden. Die Quinten der Natur gleichen den Monaten der Sonne; sie läuft in einem Jahre immer etwas weiter, als die zwölf Gestirne des Thierkreises. Alles Wesen strebt ewig fort nach dem Unendlichen.«

»Um diese Kinder der Natur, die reinen Quinten, großen und kleinen Terzen, nach dem schlechterdings nothwendigen bürgerlichen Gesetz unsrer Kirchen, Theater und Konzertsäle zu modeln und zu erziehen: haben Philosophen und Meister der Kunst verschiedne Methoden angegeben; und die der gleichschwebenden Temperatur hat so ziemlich die Oberhand gewonnen. Man hat in der Verzweiflung den Knoten aufgehauen, nicht gelöst, und[53] alles muß in das Bett des Prokrustes passen. Man theilte die Oktave mit dem Maaßstab in zwölf halbe vollkommen gleiche Töne ein; und die reinen Quinten, großen Terzen, kleinen Terzen und Sexten in Kehlen und Instrumenten mögen sehen, wie sie sich dazu fügen. Mit dem Unkraut, den Dissonanzen, macht man vollends gar keine Umstände. Kein Accord ist mehr oder weniger als der andre. Die verworfnen Bösewichter Ges dur und Es moll treten so heiter und sanft einher, wie Unschuld, Friede und zärtliche Rührung in C dur und A moll.«

»Für unsre neueste Musik, wo man anfängt, alle Charakter zu vermischen, und in demselben Stück, besonders mit bloßen Instrumenten, um neu zu thun, die Kreuz und die Quer in alle vier und zwanzig Tonarten ausschweift, mag es gut seyn. Keine Quinte ist vollkommen rein, alle etwas zu niedrig; alle große Terzen sind etwas zu groß, und alle kleinen etwas zu klein. Die süße kleine Septime hat gerade dasselbe Verhältniß, wie der herbe Schmerz der übermäßigen Sexte. Wer ein zartes Gefühl für Schönheit in ihrer ganzen Reinheit hat, möchte wohl den geringen Umfang der Kunst beym Pythagoras oder Plato zurück wünschen, und sich an der Melodie von wenig reinen Quinten, Quarten, Terzen in dem abwechselnden mannigfaltigen Takt der Griechischen lyrischen Versarten einer Sappho, eines Alkaios und Sophokles, und dem einfachen Nachklang der Harmonie eines Barbitons, einer antiken Guitarra, begnügen.«

»Das Ohr ist gewiß unser richtigster Sinn; und selbst das Gefühl, welches man bisher für den untrüglichsten gehalten hat, bildet sich nach ihm. Das geübteste Aug' eines Mahlers und Meßkünstlers ist bey weitem nicht im Stande, nur so die leichten Verhältnisse der[54] Hälften, Drittel, Viertel, Fünftel und Sechstel einer Linie, irgend einer Länge und Größe in Wirklichkeit auf ein Haar zu treffen; geschweige die schweren Verhältnisse, welche die nach dem Gehöre lange geübten Fingerkoppen eines Tartini, Pugnani, Lolli, Kramer, Viotti in verwegnen Sprüngen, Läufen, Uebergängen zum Erstaunen der Kenner auf ihrer Geige, dem vollkommensten unter allen Instrumenten, richtig greifen. Deßwegen sind die Taubgebornen auch um so vieles trauriger und unglücklicher, als die Blinden, weil sie den Hauptsinn des Verstandes, der die andern zur Richtigkeit gewöhnt, nicht haben; und so giebt die Musik unter allen Künsten der Seele den hellsten und frischesten Genuß3

»Wahrscheinlich übertrift das Ohr des Menschen an feiner und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterscheidung der Töne auch das Ohr aller andern Thiere. Mich dünkt, schon die Menge der Sprachen allein wäre hinlänglicher Beweis. So wie der vortrefliche Lehrmeister des Gefühls, ist es noch Lehrmeister der Zunge und der Kehle. Ein vollkommen zartes, festes, reines, und noch mehr, ausgebildetes Gehör ist freylich auch eben so selten, wie alle hohe Schönheit; und durch böse Gewohnheiten kann man diesen[55] göttlichen Sinn sehr verderben. Wer ihn aber nicht einigermaaßen in Vortreflichkeit hat, soll sich nicht mit Gesang und Instrumenten plagen, wo er nothwendig entscheidet.«

»Doch ich muß um Vergebung bitten, daß ich Ihre Geduld ermüde.«

Alle betheuerten, daß sie keine angenehmere Unterhaltung haben könnten. Hildegard erwartete ihn bey seiner Methode, das Klavier zu stimmen, und war aus mehrern Gründen schon für die gleichschwebende Temperatur entschieden. Sie sagte: »Es freut mich innig, daß Sie sogleich das wahre Wesen unserm Geist vorhalten. Ohne strenge Untersuchung der ersten Elemente dieser hohen Kunst kann man zu keiner Sicherheit darin gelangen.«

Er fing aufs neue an.

»Die gleichschwebende Temperatur gefällt, weil sie einige stolze, hoch daher fahrende, grelle große Terzen, einige schlaffe Quinten und unglückliche kleine Terzen nicht hat, und alles bey ihr galant und gewandt ist. Dafür fehlt ihr aber auch die vollkommne Schönheit, und der mannigfaltige Ausdruck.«

»Wenn man das Klavier nach Quinten stimmt: so ist sie mit bloßem Gehör schwerlich vollkommen zu erhalten; man muß ein Zwölftel Ueberschuß von 524288 zu 531441, um wie viel zwölf Quinten die Oktave überschreiten, jeder gerade abnehmen; und das Verhältniß einer solchen temperirten Quinte ist selbst nicht leicht für die Rechnung.«

»Die beste Methode dazu, wenn man kein dafür berechnetes Monochord hat, dünkt mich: man bringt fürs erste die drey großen Terzen C E, E Gis, Gis His (= C) so gleich getheilt wie möglich in die Oktave. Dann stimme man zu C die Quinte G ein wenig[56] schwebend, und zu G eben so die Quinte D. Zwischen diese nun rein gestimmten Töne C D E theile man die zwey halben Töne Cis (nach der schon gefundnen Quinte Gis) und Dis nach G und C ein; und wenn dieses geschehen ist: bringe man die neun großen Terzen von Cis, D und Dis, von jedem Tone drey, eben so wie bey C, in ihre Oktaven; und man hat äußerst geschwind, und so gut, als mit bloßem Gehör möglich ist, die ganze gleichschwebende Temperatur. Die großen Terzen sind die Probe derselben: die Quinten entstehen von selbst zahm, und man braucht sie nicht erst mit vieler, oft vergeblicher Mühe, wo sie zuweilen gar übermäßig werden, gleich wilden Füllen zu bändigen.«

»Die andern Arten von Temperatur unterscheiden sich, nachdem man mehr oder weniger vollkommen reine Quinten, vollkommen reine große und kleine Terzen erhält, und nach den Accorden, in welche man sie bringt.«

»Die Mitte der gesammten Anzahl von Tönen, welche das menschliche Ohr bestimmt zu fassen vermag, ist das eingestrichne C. Bey diesem hat man die Grenze der Diskantstimme angenommen; weil sie bey mannbaren Jungfrauen und unschuldigen Jünglingen wirklich so weit reicht.«

»Wer Musik treibt und versteht, hat seine Wissen schaft nach unserm Notensystem von C dur angefangen. Von diesem Tone steigen wir durch Quinten in die Höhe und in die Tiefe weiter zu andern. Die Tonleiter C dur bleibt uns also gleichsam Stand der Natur; jungfräuliche Keuschheit und Reinheit, holde Unschuld des Jünglings, patriarchalisches Leben, goldnes Zeitalter.«

»Dieses C im Kammerton, eingestrichen, macht also den Mittelpunkt der ganzen musikalischen Sphäre aus. Das reife Leben im[57] Jüngling und Mädchen erreicht diese Grenze. Die folgenden Stufen des menschlichen Alters treten beym Mann auch in der Musik tiefer. Die Erfinder der Noten, welche unser musikalisches System anlegten, haben nach der Natur den ersten harten Dreyklang mit ihm angefangen.«

»Das Klavier, das herrschende Instrument in der Harmonie, ist ganz darnach eingerichtet. C ist der Ton, nach welchem wir alle andern messen, und mit welchem alle andern in Kontrast stehen.«

»Die Quinte davon, G, ist gleichsam die erste Stufe über dem Stande der Natur; D die zweyte; A die dritte; E die vierte.«

»Bis dahin können wir steigen; der Ausgang und Kontrast von C ist noch sehr merklich; E ist die große schöne Terz davon. Wir geben deßwegen dem E dur den Charakter himmlisch. Er ist das Höchste, wohin die schöne Natur steigt. Im H dur verschwindet schon der Stand der Natur einigermaaßen; und noch mehr in Fis dur, das völlig gekünstelt ist.«

»Das nämliche Verhältniß herrscht beym Niedersteigen. F dur ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, schon um einen Grad besonnener, als das junge frohe Leben im C dur. B dur hat gleichsam die Würde von Magistratspersonen; und Es dur geht in das Feyerliche der Priesterschaft. As dur ist Majestät von König und Königin. Des dur geht in den Schauder über vor verborgnen Persischen Sultanen, oder Dämonen. Des dur und Fis dur bleiben deßwegen auch die Grenze der musikalischen Welt.«

»Diese verschiednen Charakter äußern sich jedoch in ihrer Stärke nur bey Musiken von weitläufigem Umfang, als in ernsthaften Opern und großen Kirchenstücken, wo der Ton C dur auf irgend eine Weise als die reine vollkommen schöne Natur in die Seelen[58] gebracht seyn sollte. Bey kleinen Sachen werden und sind diese besondern Charakter nicht sehr merklich. Ein Lied ohne Begleitung singen Mädchen und Jüngling ohne viel Unterscheidung aus dem Tone, der sich am besten für ihre Kehlen schickt.«

»Auf diese Weise betrachtet geben also die zwölf Dur- und zwölf Moll-Töne schon allein durch ihre bloßen Accorde vier und zwanzig Arten verschiedner Existenz; und es erwächst der Musik daraus ein erstaunlicher Reichthum von Ausdruck, wenn der Tonkünstler Kopf und Herz genug hat, die Kontraste in einem großen Ganzen fühlbar zu machen.«

»Die Musik überhaupt hat Kontraste, wie Tag und Nacht, wie schwarz und weiß, süß und bitter, hart und weich. Die auffallendsten sind die enharmonischen Gänge. Aus dem C dur in Cis dur, plötzlich, ist ein Ruck, wie in eine andre Welt. Diese sind nur bey starken Katastrophen zu brauchen; man darf nie bloß damit spielen, sonst verlieren sie ihre Wirkung. Bey Texten: er kann ihn nicht mehr fassen, den Schmerz, der ihn allmächtig drückt; in jeder Ader wühlt ein Dolch4! oder: Mors stupebit et natura, dum resurget creatura5, ist ihre rechte Stelle.«

»Der so genannte harte Dreyklang drückt überhaupt volle Existenz aus.«

»Der weiche Dreyklang zeigt an, daß uns etwas fehlt; und darüber Zärtlichkeit, Rührung, Traurigkeit allerley Art.«

»Der verminderte Dreyklang, wo zur kleinen Terz noch die kleine oder falsche Quint hinzukommt, zeigt einen so großen Mangel der Existenz in dem Wesen, daß es damit nicht bestehen kann.«[59]

»Der vergrößerte Dreyklang, wenn man ihn annehmen will, wo zur großen Terz die übermäßige Quinte kommt, zeigt Zorn und Wuth und Grimm in voller Existenz, oder fast gänzliche Veränderung derselben.«

»Nur die zwey erstern Arten können lange Dauer haben, weit mindre die vorletzte; und die letzte ist nur ein plötzlicher Uebergang.«

»Alle drey Arten von Existenz entwickeln sich aus einem Grundton, und werden durch die Melodie zu Leben und Handlung.«

»Die Terz darin entscheidet hauptsächlich den Charakter, und gestattet eine weit größere Mannigfaltigkeit, als die Quinte, welche nur ein wenig vermindert von ihrem reinen Verhältniß noch erträglich ist.«

»Ein musikalischer Shakespear sollte den verschiednen Ausdruck der Terz in den verschiednen Accorden von dem geringsten Grad ihrer Kleinheit, wo sie an die Sekunde grenzt, bis zur höchsten Größe, die sie verträgt, aus seinem Herzen schildern: die tiefste Angst und Bangigkeit, die rührendste Zärtlichkeit, die Heiterkeit gesunden frohen Lebensgenusses, und die höchste Süßigkeit, dann Muth und Tapferkeit bis zur Wuth, welche Batterien stürmt beym wilden Schall der Kriegstrompete6. Die Terz ist gleichsam das Herz, der Sitz der Leidenschaft; und die Quinte der himmlische Geist, den der Schöpfer dem Menschen einhauchte. Sie verträgt gar wenig Veränderung, wenn sie nicht aus einem Engel des Lichts zum Teufel, oder zur elenden kranken Kreatur werden soll.«

»Wenn man die verschiednen Accorde nach den vorhin beschriebenen Charaktern stimmen könnte: so wäre diese Temperatur ohne Zweifel[60] die beste für den Ausdruck. Die alte Methode, nach welcher unsre Orgeln und Klaviere gestimmt wurden, bringt diesen auch hervor; und es scheint, daß die verschiednen Charakter der Grundtöne durch Gewohnheit und Erziehung endlich nach und nach auch in die Ohren der Sänger, Geiger und in die blasenden Instrumente wären verpflanzt worden. Ein guter Geiger, der aus C dur spielt, greift gleichsam aus Instinkt die Terz rein; und wenn er aus E dur spielt, sie höher. Wenn Dichter und Tonsetzer die Leidenschaft gut getroffen haben: so treibt das zarte Gefühl einer Gabrieli sie von selbst, Terzen zu erhöhen und zu schwächen nach diesem Charakter.«

»Man stimmt also den Accord C dur rein mit vollkommner Quint, und der Terz in dem natürlichen Verhältniß. Damit die große Terz E zu A eine noch gute Quinte mache, mildert man die Quinten von G zu D und D zu A etwas. Die Quinte von A zu E sollte nach der Strenge in folgendem Verhältniß seyn:


C 1, G 3, D 9, A 27, und E 81.«


»E zu C als reine große Terze giebt aber folgendes Verhältniß: 4/5, die doppelte Oktave nämlich als 4, die Terz als 5; nun vervielfältigt: 5, 10, 20, 40, 80.«

»Also ist der Unterschied der Terz E zwischen der Quint E wie 80 zu 81; und diesen Unterschied muß die Temperatur mildern.«

»Alsdann stimmt man die Quinte H zu E vollkommen rein; und die Quinte Fis zu H mildert man.«

»Jetzt hat man schon die Hälfte der zwölf Quinten; und sechs Grundtöne zu zwölf Dur- und Mollaccorden vortreflich für den gehörigen Charakter und Ausdruck von jedem.«

»Nun stimmt man die Quinten rückwärts in die Tiefe von C zu F: die erste ganz rein; die andern mildert man nach und nach fast[61] unmerklich, am stärksten die Quinten As zu Es, und Des zu As; so daß die Terzen C zu As und F zu Des zwar herbe, doch erträglich werden. Und so paßt man noch die Quinte Fis zu Des oder Cis.«

»Auf diese Weise erlangt man die allerreichste Mannigfaltigkeit von Harmonie, deren unser musikalisches System nur fähig ist: kleine Terzen, große Terzen, reine und gemilderte Quinten, und so die Sexten und Dissonanzen für jede Leidenschaft und jeden vorübergehenden Ausdruck. Das zärtliche A moll hat eine reine kleine Terz, E moll eine ähnliche; eine büßende das traurige F moll, und so weiter.«

Hildegard hatte noch aufmerksamer zugehört, als ihre Freundin. Das gutherzige, freymüthige Wesen, womit Lockmann alles vorbrachte, das Verlangen, aus seinen Kenntnissen und eignen Ideen noch viel Nutzen zu schöpfen, und die Zuneigung, die sie für ihn fühlte, machten, daß sie Anstand nahm, ihm so in Gesellschaft ihre andre Meinung zu gestehen. Vom Gespräch verleitet, und die Sache mehr aufgeklärt zu sehen, that sie es endlich doch.

»Das Instrument hat mir schon so viel Vergnügen gemacht, sagte sie, daß ich wohl wagen möchte, zum Scherz seine gleichschwebende Temperatur zu vertheidigen, wenn ich nicht befürchtete, für so viel Schönes, was Sie uns aus Ihrer Fülle mitgetheilt haben, undankbar zu scheinen. Inzwischen hoff' ich, daß Sie dabey nur die wißbegierige Schülerin leicht erkennen werden.«

»Ich weiß nicht, ob mein Gefühl mich täuschte: die Orgeln und Klaviere, die nach einer andern Temperatur gestimmt waren, kamen mir nicht selten verstimmt vor; die Töne verbanden sich nicht recht, und hatten keinen natürlichen Lauf in der Melodie. Es mag seyn,[62] daß die Stimmung nicht nach der guten Methode verrichtet wurde.«

»Der Harmonie bey Begleitung, wo Violinen sind, scheint die Ihrige auch nicht günstiger, als die gleichschwebende. Giebt man diesen den Ton A zur Stimmung an, so paßt keine ihrer Quinten zum Klavier: E ist zu hoch, und D und G zu tief.«

»Was den Ausdruck betrift: so wird er auf Instrumenten überhaupt immer ziemlich unbestimmt bleiben; und einige unglückliche wimmernde kleine Terzen, oder trübe Quinten, die ihre stolze Schönheit verschleyern, werden ihn nicht entschiedner machen.«

»Die kindliche Liebe zum Vortreflichen des Alterthums, die den Menschen so erhöht, kann einen doch auch zuweilen verleiten und von der wahren Vollkommenheit zurückhalten. Sollt' Ihnen dieß nicht ein wenig widerfahren seyn, als Sie Sänger und Virtuosen die großen Terzen rein und höher und so heftig, als sie nur seyn können, und so die kleinen Terzen zärtlich rein und dann engbrüstiger und immer schwermüthiger nach den verschiednen Tonarten der alten Orgelstimmung singen, blasen und geigen hörten?«

»Mich dünkt, diejenigen, welche gute Instrumente und gute Ohren haben, bringen sie so rein hervor, wie möglich, es sey in einer Tonart, in welcher es wolle; so rein in Es und E dur, als in C dur.«

»Den Charakter der Grundaccorde, und die Entstehung ihrer Verschiedenheit haben Sie treflich angegeben; ich glaube, die Ursach ist hinlänglich für einen guten Philosophen, und es bedarf nicht der Zierung der größern und kleinern großen und kleinen Terzen. Gewiß erhalten die andern Dur- und Mollaccorde hauptsächlich ihren Charakter, nachdem sie in dem Verhältnisse mit dem Ton C stehen. Es dur ist so edel, so feyerlich, so würdig, weil Es als kleine Terz[63] dem sanft klagenden C diente, nun aber von seinem traurigen Geschäft zu der herrlichen eignen Existenz erhoben worden ist, daß ihr selbst dessen schöne Quinte G als reizende große Terz, und dessen rührende kleine Septime, als prächtige Quinte dient. Zärtlich erinnert sie sich bey ihrem Glück zuweilen ihres vorigen Zustandes.«

»Auf gleiche Art ist das Schooßkind die große Terz des C in E dur zu seinem erhöhten himmlischen Leben gekommen.«

»So dessen Quart, die so klug den Zweifel ausdrückt, in F dur zur frohen Gewißheit und Zuversicht; in F moll hingegen ganz zur Verzweiflung.«

»So klagt C selbst in A moll, seiner schönen großen Sext, und geht dahin über, wenn es Kummer drückt.«

»Was C am stärksten abhärmte, und sich am mehrsten mit ihm entzweyte, H, die tragische große Septime, und Cis, die schmerzliche kleine Sekunde, sind auch von ihm am entferntesten, als eigne Existenzen.«

»Das an und für sich kleine nothwendige Uebel, unter die zwölf gewaltigen Götter des himmlischen Tonreichs gleich vertheilt, würde so vielleicht am leichtesten zu ertragen. C dur soll Saturnus, das goldne Zeitalter bleiben; Cis dur Jupiter seyn; D dur Bacchus; Es dur Königin Juno; E dur Urania Venus. Aber ich will mit meinen Gleichnissen und Grillen Sie nicht länger in Ihrem meisterhaften Unterrichte stören.«

»Vortreflich!« rief Lockmann lächelnd; »und mit dem zartesten Gefühl aufgefaßt! Wer könnte der Beredtsamkeit von so zauberischen Lippen widerstehen! Jedoch der Wahrheit zur Steuer hab' ich Sie selbst schon gestern mit erhöhten großen Terzen und verminderten[64] kleinen von Ihrer göttlichen Stimme beflügelt die Herzen in die tiefste Rührung und gewaltigste Erschütterung setzen sehen.«

»Die Quinten sollen forthin von mir unverführt, der besten Ordnung gehorsam, auf den Klavieren gleichschweben; nur gestatten Sie Sich selbst und der Musik die reichste Mannigfaltigkeit der Intervallen, so wie einem Tizian und Correggio der Farben, die feinsten Tinten des Lebendigen auszudrücken. Eine der seltnen Dissonanzen, die verkleinerte Sext, ward selbst von Emanuel Bach, eben kalt in der Theorie, mit Geringschätzung angesehn; und der Gebrauch derselben vom ächten Genie entschied wesentlich für den Triumph unsterblicher Scenen von Meistern wie Händel, Jomelli und Traetta. Wieder Sie selbst haben gestern mit ihr, wie mit einem bittern Pfeil, bey der Stelle: ›aber da war keiner, keiner der da Trost dem Dulder gab7;‹ das Gefühl durchbohrt. Vortreflich braucht sie Graun in seinem Tod Jesu: ›seine Tage sind abgekürzet.‹«

Er sang im Reden dieser Worte, und begleitete sich nur mit dem Grundton und der Terz.

Hildegard erröthete, blickte ihn an, und legte unbemerkt von den Andern den Finger auf den Mund. Auch er erröthete. Und so endigte sich reizend der Streit.

Frau von Lupfen fügte hinzu: »Wenn man beyde Stimmungen mit einander vereinigte, so würde wohl die vollkommenste entstehen; wenigstens kann sie leicht jeder nach seinem Belieben mit dem vortreflichen Maaßstab der großen Terzen finden. Viermal drey große Terzen ist ohne Vergleich sichrer und bequemer, als der trügerische Zirkel von zwölf Quinten. Und dann kann man zur völligsten[65] Gewißheit mehrere Maaße anwenden, Quinten, große Terzen; und warum nicht auch noch kleine Terzen und Quarten? Auf solche Weise muß wohl endlich jedes Intervall seine mögliche Reinheit erhalten, Sinn und Verstand einander zur Idee der Vollkommenheit verhelfen, und die falsche Hypothese weichen.«

»Ich bitte Dich, Hildegard, sing einmal Deine Leiter, eine Oktave, oder zwey, wie Du willst; aber geschwind, ohne Dich lange zu besinnen.«

Hildegard folgte, wie ein Kind; zwey Oktaven hinauf und herunter; und fragte dann: »Und nun?«

»Nun die Terzen.«

Sie folgte wieder; und fragte weiter.

»Nun die Quarten.« Und die Lupfen sagte dann: »Die fatalen Quinten schenk' ich Dir.«

Lockmann bewunderte die erstaunliche Richtigkeit, und sagte: »Sie haben Sich doch von Ihrer gleichschwebenden Temperatur nicht verführen lassen. Schade, daß man die Intervallen nicht so rein, nach keiner Temperatur, auf dem Klaviere haben kann! und daß kein Monochord da ist, um zu zeigen, wie haarscharf richtig Sie Ihre Tonleiter sangen! die Sekunde C D in dem Verhältniß von Acht zu Neun; die Sekunde D E wie Neun zu Zehn; die halben Töne E F, und H C wie Funfzehn zu Sechzehn; wie C D die Sekunden F G und A H; und wie die Sekunde D E so G A.«

»Dieß sind auch genau die Verhältnisse unsers neuern diatonischen Systems. Man leitet sie her aus den harmonischen Hälften. Die harmonische Hälfte der Oktave giebt die reine Quinte; die harmonische Hälfte der Quinte die große Terz; und die harmonische Hälfte der großen Terz den großen und kleinen Ton.«[66]

»Die nähere Ursach ist: das Ohr verlangt die Konsonanzen in der Leiter vollkommen rein; deßwegen nehmen wir dabey ein doppeltes Maaß an: der Quinte, und der großen Terz.«

»Ein Französischer Gelehrter, der Abt Roussier, glaubte beweisen zu können, die Aegyptier, Griechen und Chinesen hätten bey ihrer diatonischen Leiter nur den einfachen Maaßstab der Quinte gebraucht; die ganzen Töne wären durchaus der Ueberschuß von zwey Quinten gewesen, in dem Verhältnisse von Acht zu Neun; die große Terz und die halben Töne hätten sich darnach richten müssen.«

»Hauptsächlich daraus erklärt er die wunderbaren Wirkungen der Musik der Alten, daß ihr heroisches Ohr sich das weichliche Vergnügen der neuern großen Terz versagt habe; und diese Hypothese putzt er aus mit den Aegyptischen Planeten und Tagen der Woche.«

»Einige Französische Geistlichen hielten dafür, daß diese Meinung eine Revoluzion in der Musik hervorbringen müsse; und daß die Kapelle Davids und Salomons dadurch wieder hergestellt werden könne. Es hat aber natürlich kein Hahn darnach gekräht.«

»Gewiß bringt die große Terz in dem Verhältnisse von 64 zu 81 eine andre Wirkung hervor, als in dem von 4 zu 5; und es ist nicht zu leugnen, daß die diatonische Leiter einen einfachern männlichern Schritt, und dabey einen erhabnern Charakter erhält, welcher mit dem zu vergleichen wäre, was Winkelmann in den bildenden Künsten den severen Griechischen Styl nennt: aber wahr bleibt es immer, daß die große Terz in dem Verhältnisse von 4 zu 5 dem Ohr in der reinsten, freyesten Schönheit lautet, und daß sie die tiefe Saite im Nachklang darin schon selbst, wie in ihrer gehörigen Natur und Vollkommenheit, wo nichts zu viel und zu wenig seyn kann, angiebt, und die alte in einem angestrengten Zustand ist.«[67]

»Gegen seine Beweise möchte übrigens bey einer so dunklen Sache, wie die Musik der Alten, manches einzuwenden seyn. Die gewaltige Wirkung, die sie zuweilen soll hervorgebracht haben, läßt sich leichter aus mehrern andern Ursachen erklären; und Gegenden, Menschen, und Umstände, wo die Leidenschaften reger waren, geringer Umfang der Kunst, und Reiz der Neuheit müssen dabey in Rechnung kommen. Auf ähnliche Weise machte wohl der Chor der Scythen in Glucks Iphigenia in Tauris auf einen Amerikanischen Wilden zu Paris einen stärkern Eindruck, als dessen Se mai senti spirarti sul volto lieve fiato je auf einen Neapolitaner.«

»Dabey glaub' ich jedoch selbst, daß die Alten die Verhältnisse der Töne weit lebendiger und tiefer in ihren langsamern Bewegungen und der einfachen Begleitung gefühlt haben, als wir.«

Hier mischte sich Feyerabend ins Gespräch, und sagte: »Die Musik der Griechen ist uns ganz fremd und unbekannt, und wir können nicht einmal ihr klassisches Zeitalter bestimmen. Welch ein ganz andres Ansehen hat nicht die Musik nur seit funfzig Jahren in Neapel gewonnen!«

»Wahrscheinlich war die Dorische Tonart ungefähr das, was bey uns C ist; und die Phrygische, die Lydische, Aiolische, Ionische u.s.w. hatten schon daher, (noch außer der besondern Lage der Halbtöne, den eingeführten langsamem oder raschern Bewegungen, der verschiedenen Poesie, auch den verschiednen Instrumenten, die sie begleiteten, und den verschiednen Völkerschaften,) ihren besondern Charakter. Ohne Zweifel hat die Griechen hauptsächlich die beschwerliche Art, die Töne und ihre Dauer zu bezeichnen, von einer höhern Vollkommenheit und unsrer Harmonie zurückgehalten.«

Lockmann antwortete darauf: »Man erzählt von unsern Urgroßvätern[68] im zehnten, elften und zwölften Jahrhundert, daß sie in ihrem musikalischen System nur die sieben Töne c, d, e, f, g, a und h gehabt hätten, aus welchen sechs verschiedne Tonarten entsprangen, nachdem jeder von denselben der Grundton wurde; das H, welches damals B hieß, ausgenommen, weil dieses keine reine Quinte hatte. Der Ton, welchen wir jetzt B nennen, soll zuerst zu den sieben Tönen erfunden worden seyn, um eine reine Quarte zu F zu erhalten, und damit das F zugleich eine vollkommne Quint in der Tiefe hätte. Alsdann wären nach und nach Cis und Dis, Fis und Gis noch dazu erfunden worden, und unser heutiges System erst spät in dem sechzehnten Jahrhundert zu Stande gekommen.«

»Diesen sechs Tonarten gab man alte Griechische Namen, und nannte C als Grundton die Jonische, D die Dorische, E die Phrygische, F die Lydische, G die Mixolydische, und endlich A die Aiolische Tonart.«

»Nach der Lage der zwey Halbtöne in der Leiter entstand für jede Tonart ein besondrer Charakter, der auch in den ältesten Chorälen herrscht. Wie viel davon wirklich Griechisch sey, ist wohl schwerlich zu entscheiden. Vom Himmel hoch da komm' ich her, ist Jonisch. Mit Fried und Freud fahr ich dahin, Dorisch, und s.w.«

»Der Hauptmangel bey diesem rohen System war der Halbton, womit die Natur verlangt, in die Oktave der Leiter überzugehen, gleichsam die glänzende Morgenröthe der wieder neu aufgehenden Sonne. D hatte ihn nicht, weil das Cis fehlte; E nicht, weil das Dis fehlte; und so G und A bey dem Mangel von Fis und Gis. Die Franzosen nennen diesen Halbton la note sensible, weil man den Hauptton schon zum Voraus darin empfindet; und den Accord[69] der kleinen Septime auf der Quinte des Grundtons, welche sie mit gleich richtigem Gefühl die Dominante nennen, l'Accord sensible, weil er die Harmonie dazu ist.«

»Da ferner die Töne darin entweder nur eine große, oder eine kleine Terz hatten, und dem H die Quinte fehlte: so konnte man sich gar wenig regen und bewegen, und mußte sich in der Musik gleichsam mit Wasser und Brod behelfen.«

»Nachdem man die zwölf Töne erfunden hatte: fing man an, auf verschiedene Weise zu temperiren, damit jeder Ton, wenigstens erträglich, jedes Intervall seyn könnte; bis man endlich zur gleich schwebenden Temperatur gelangte.«

»Doch betrift dieß hauptsächlich nur Instrumente, wo man den Ton nicht in seiner Gewalt hat, und besonders das Klavier; bey der Stimme und auf Geigen entscheidet das Gehör im lebendigen Vortrag.«

»Sänger und Virtuosen sollten aber vorher die Wirkung der verschiednen Verhältnisse der Intervallen wohl untersucht haben. Und dafür giebt es keinen bessern Lehrmeister, als ein zartes reines Gehör und lebendiges Herz bey einem guten Monochord. Schon der Stammvater der neuern Musik, Guido von Arezzo, preist dieses in seinem kurzen Unterricht über die Musik auf der ersten Seite vorzüglich an8[70]

»Pythagoras, der erhabne Erfinder desselben9, empfahl es auf dem Sterbelager seinen Freunden, als den einzigen untrüglichen Wegweiser in dieser göttlichen Kunst.«

»Der große Haufe der gewöhnlichen Tonkünstler bekümmert sich darum sehr wenig, und hält dieß für Grillen; sie bringen aber auch oft so falsche Intervallen hervor, daß sie ein reines geübtes Ohr foltern.«

»Unser Klavier sollte hauptsächlich gleichsam zum Kompaß auf dem weiten Ozean der Musik dienen. Wir finden darin jede Seite ihrer Sphäre in höchster Richtigkeit, so vollkommen, wie die Alten sie nicht kannten; und können sie die Kreuz und die Quere, wie das geschmeidigste Element, nach Belieben, ohne zu irren, umschiffen. Aber bey einzelnen Intervallen und Melodien aus wenig Grundtönen kann gar wohl die reine Natur über die gesammte Kunst herrschen. Gabrieli, Pacchiarotti, Tartini und Pugnani können ihre Konsonanzen und Dissonanzen so rein wie möglich und in den ausdruckvollsten Verhältnissen hervorbringen, ohne sie nach dem Bedürfnisse der zwölf Töne in eine Oktave zu modeln. Dieses thun sie auch zum Entzücken; und es bleibt wahr, das Höchste der Kunst besteht im lebendigen Vortrag und in der Aufführung.«[71]

»Die Griechen hatten die Musik noch nicht für die allgemeine Natur ausgearbeitet; und ihre Tonleitern, möcht' ich sagen, waren nur für besondre Charakter. Für Melodie könnten sie einem musikalischen Genie übrigens noch sehr ergiebig seyn.«

Hildegard dankte Lockmannen aufs verbindlichste für diesen Anfang; und sagte dann zur Frau von Lupfen: »Ich will Dir nicht umsonst gesungen haben, und Du sollst dafür Dich auch hören lassen. Also geschwind aus Klavier.«

Frau von Lupfen sträubte und weigerte sich; aber man suchte Musik. Sie wählte aus; inzwischen stimmte Lockmann in kurzer Frist das Klavier wieder in die gleichschwebende Temperatur. Und nach einigen angenehmen Modulazionen spielte sie eine meisterhafte Phantasie von Mozart so fertig, mit so viel Ausdruck und Gewalt über alle Eigenschaften des Fortepiano, dessen leiseste Zartheit und allerhöchste Stärke, daß Lockmann einmal über das andre ihr Beyfall zurief.

Sie war kaum zu Ende, als sie den jungen Hohenthal ergriff, und zu ihm sagte: »Nachdem Sie Ihre Stimme wie ich verloren haben, so sollen Sie Sich mit mir auf Ihrer Violine hören lassen.«

Sie spielten dann mit einander noch eine der schönsten Sonaten von demselben Meister zu allgemeiner Freude. Man hörte wohl, daß Hohenthal Sänger gewesen war; er griff die Töne so rein, trug alle Melodie so geschmeidig vor, und begleitete sie überhaupt mit so viel Geschmack, daß Lockmann am Ende leise für sich in folgende unerwartete Apostrophe ausbrach: »O vortreflicher Vater, das muß dich noch im Himmel freuen! Warum durftest du das Glück einer so musterhaften Erziehung mit einer so würdigen Gattin nicht länger auf Erden genießen!«[72]

Dieß rührte alle bis zu Thränen; die Mutter begab sich weg, und man ging darauf bald aus einander.

»Welch eine Familie! was für ein Mädchen!« sprach er oft für sich unterwegs, eine Symphonie von Empfindungen durch sein ganzes Wesen.

Den andern Morgen war Generalprobe. Hildegard stellte sich mit ihrem Bruder dazu ein; sie hatte den Abend zu Hause erzählt, daß sie dem Verlangen nicht habe widerstehen können, dem unsterblichen Händel mit ihrer Stimme ein Opfer zu bringen.

Miserere und Fratres gewannen unbeschreiblich durch sie; und Messias entzückte doppelt aufs neue.

Das Miserere ward Sonnabends zur Vesper in der großen Kirche aufgeführt, so gut, und vielleicht mit mehr Andacht und Gefühl, als zu Rom.

Hof und Volk und Herren und Damen aus dem Ort und der Nachbarschaft wurden von der rührenden Neuheit des Gesangs überrascht und entzückt; sie hätten ihn beym Schlusse gern noch einmal und zweymal hören mögen. Der Fürst war davon im Innersten durchdrungen.

Sonntags früh hörte man mit gleicher Andacht und Seelenlust die heiligen Chöre des Palestrina bey der Messe; aber der Messias übertraf den Nachmittag bey weitem die Wirkung der beyden vorigen Werke. Hildegard trat darin auf mit allem Zauber jugendlicher Schönheit in himmlischer Stimme, Gestalt und Kleidung; eine wunderbare, entzückende Erscheinung. Alle Gefühle der Religion wallten nach und nach mit hohem Leben in die Herzen der Zuhörer; die bittern Dolchstiche des Leidens verstärkten die Süßigkeit der Erlösung, und den Vorgeschmack ewiger Wonne; und bey[73] der Fuge: Preis und Anbetung und Ehre und Macht sey ihm, der da sitzet auf seinem Thron, wollten Alle mit singen, wenn sie nur gekonnt hätten. Es war ein allgemeiner Jubel. Beym Ausgang aus dem Tempel sagte jeder: so etwas Himmlisches haben wir noch nicht gehört, solch ein Fest noch nicht gehabt.

Der Fürst belohnte Abends Lockmannen mit einer goldnen Repetiruhr von großem Werth, und mit gefühlten und verdienten Lobsprüchen. Aber Hildegard erhielt die mehrste Bewunderung: ein Engel des Lichts vom Himmel auf Erden könnte nicht mehr Erstaunen erregen. Der Fürst wußte zwar, daß sie Musik trieb, sang und eine schöne Stimme hatte; aber solche Ausbildung und Vollkommenheit mit so wahrem Ausdruck hatte er nicht erwartet. Noch gefiel ihm über die Maaßen, daß sie ihm eine so unverhoffte Freude hatte machen wollen, und nicht zu stolz gewesen war, zugleich auch das Volk zu ergötzen. Gleich nach der Musik dankte er ihr tief gerührt herzlich für sich und für alle; und beglückte mit seinem kräftig ausgedrückten Beyfall den Meister und die ganze Kapelle.

Gleich den Montag darauf Nachmittags ging Lockmann zu Hildegarden, und nahm Musik mit sich. Er traf sie bey ihrer Mutter; sie stickte an einer Weste für ihren Bruder, und hatte Feldblumen von den schönsten Blüthen und Farben vor sich liegen. Sie sagte: »Es muß bey der Mode immer etwas Seltnes seyn; und wer die Botanik nur ein wenig versteht, findet Vorrath von den schönsten Blumen in Menge.«

Die Mutter fragte ihn dann, was er für Musik mit sich bringe.

Er antwortete: »Miserere und nichts als Miserere! Weil wir vorgestern mit dem von Allegri großen Beyfall erhalten haben, und es für ein heilig gesprochnes Werk gehalten wird: so hab' ich die[74] Musik einiger andern großen Meister zu denselben Worten mit mir genommen, um sie mit der von Allegri zu vergleichen, damit wir Sinn und Verstand uns nicht durch fremdes Urtheil bestechen lassen.«

»Wohl, sehr wohl, vortreflich!« sagten Beyde, standen auf, und gingen mit ihm nach dem Musiksaal.

Das erste war das Miserere von Leo.

»Was das von Allegri für Rom ist, ist das von Leo für Neapel; jenes nur ungefähr um hundert Jahr älter.«

»Nur was Wirkung, aber nicht was Kunst betrift, lassen sich beyde vergleichen. Wenn Allegri ein holder schöner Jüngling ist, der in einem Schäfertanz mit wenig gemeßnen Schritten in dem süßen Reize der Unschuld erscheint, und, denselben Tanz wärmer und glühender wiederhohlend, entzückt: so ist Leo ein Vestris, ihm nichts damit zum Nachtheil gesagt, der die höchste Kunst und deren ganzen Reichthum in seiner Gewalt hat. Seine Musik ist so recht eine Quelle von Klang, und erquickt Ohr und Seele. Dieses Werk gleicht in seiner Art der Arbeit am Torso des Herkules.«

»Das Ganze ist nicht zusammengereiht und gestickt; es ist eine erhabne Einheit, die wie ein Strom von unzählbaren reinen Quellen und Bächen immer mehr anschwillt, und in Wonnefluthen und Strudeln bald die Herzen herumtreibt, woraus Entzücken entsteht und ein neues Leben kommt.«

»Welche Rührung überwallt das Gefühl gleich beym Anfang: Miserere mei Deus! so recht die reuende Klage sinnlicher verführter Menschheit in sich schämender holder Nacktheit. Secundum magnam misericordiam tuam; wie die Töne bey dem misericordiam gleichsam die Knie umschlingen!«[75]

»Wie die Feyerlichkeit des Volksgebetes beym dritten Verse immer mehr sich verstärkt, und das Ganze in den Lüften tiefe Wurzel faßt! und das ab iniquitate, wie ein eingebohrter Pfeil des Uebels aus dem Leben gezogen, oder wie der Schlamm und Koth von dem Kinde scharf abgerieben wird, daß es weint, und ihm die Augen dabey übergehen!«

»Beym fünften fängt der Strom schon an zu schwellen, und der zweyte Chor tritt in die Harmonie ein; oder vielmehr zwey Ströme wallen neben einander fort, und vermischen sich bey et vincas und cum judicaris.«

»Der siebente Vers Ecce enim gleicht einem tiefen Genfersee voll Majestät, doch überall noch im Zuge des Stroms, und tausendfach lebendig. Wie klar und entzückend sich das verschlingt und in einander quillt: ecce enim veritatem dilexisti, und das incerta et oculta wie eine Offenbarung hervorgeht! Es ist ganz erhaben. Und der Jubel dabey mit vollem Gefühl: manifestasti mihi! Es ist ganz groß, und wie ein prächtiger Triumph; die Seele wird gleichsam untergetaucht, und am Ende kommt sie aus den tiefen Wonnestrudeln hervor, und schwebt still im Schwimmen, und schaut mit entzückten Blicken in den heitern Aether des unendlichen Himmels.«

»Das laetitiam geht wie Nektar herunter. Welch ein lyrischer Schwung bey et exultabunt ossa, wie die Stimmen zu ihrem Anstand gar nicht mehr auf einander Acht zu geben scheinen, und jede nach der andern wie Strahlen von Brillanten hervorbricht!«

»Und wie das humiliata bis in den Mittelpunkt des Wesens Kontrast alter Kränkung macht; gerad' auf die letzt die Momente eines Gefangnen, wo er sich wieder ganz frey und glücklich fühlt; wie sich das bindet und löst und in einander schmilzt!«[76]

»Cor mundum crea ist reine liebliche Schönheit mit Rosen gekränzt; et spiritum rectum innova, wie Thetis im Homer den Zevs bittet; und so fort bis zu visceribus meis.«

»Libera me; das lyrische Feuer schlägt in höhere hellere Flammen, und die Begeisterung erreicht den höchsten Flug.«

»Quoniam si voluisses ist hohe Tempelpracht; man glaubt in dem zu Ephesos zu sitzen und zu hören; es ist alles schon so ganz eingeweiht und heilig.«

»Sacrificium Deo spiritus contribulatus: cor contritum et humiliatum Deus non despicies: ist der concentrirteste Lebenspunkt vom Ganzen. Dieser Vers ist wie der Kopf der Mutter Niobe in der Gruppe, nur alles von Skopas selbst; und gehört unter das Erhabenste der Musik. Es ist so bittend, so voll Seele schmeichelnd, daß ein Phalaris nicht dagegen aushalten könnte. Man meint, einen Chor auserwählter Griechischer Jünglinge und Jungfrauen im Tempel des Apollo bey einer allgemeinen Landplage zu hören.«

»Der Schluß vollendet so recht in Majestät das große Ganze voll Plan und Ueberlegung, wozu ein göttlicher Verstand die Idee entwarf. Wie voll Heiligkeit, tiefer Andacht und Ehrfurcht das Tunc imponent super altare hervorgeht! Man kann davon sagen, daß dieß so recht voller Klang ist, und jeder geheime schöne Ton aus der Natur dazu hervorgelockt und gezaubert.«

»Aber man muß auch würdiger Mensch genug seyn, um so etwas klar genießen zu können. Die hohe Kunst erfordert Verstand und Wissenschaft, und geläuterte Sinne. Sie ist deßwegen nicht Künsteley, weil sie der Bauer oder rohe Mensch nicht faßt; der zwar auch ein angenehmes und oft rührendes Geschwirr von Tönen hört, aber nicht den auf jede Fiber eindringenden erquickenden Genuß[77] hat. Nur Wenige sehen das Weltsystem an wie Keppler und Newton; aber ist die Natur, die es hervorbrachte, deßwegen eine Grillenfängerin, und sind sie Pedanten, weil sie sich ganz anders darüber freuen, als der große Haufen? Unwissende, eingebildete Gecken möchten freylich bey hoher Kunst zuweilen so etwas behaupten.«

»Es ist in diesem Werk alles vereinigt, tiefes Gefühl, erstaunlicher Reichthum der Kunst, reine Schönheit und Proporzion im Ganzen und in den Theilen; keusche Verzierungen und edler Schmuck.«

Hildegard mußte zuweilen über Lockmanns schwärmerische Ausdrücke lächeln; sagte aber, nachdem sie alles mit ihm durchgegangen war, und das Schönste mit ihm gesungen hatte: »Das Miserere von Allegri, so himmlisch es ist, und so vielen Seelenklang es hat, der voll schmelzender Süßigkeit ins innerste Wesen hinunter steigt, muß doch diesem weichen. Es ist bloß Traube oder Most, und dieß ist Wein.«

Lockmann fügte hinzu: »Verschiedne neuere Lieblingsdissonanzen sind sehr sparsam bey ihm ausgesät, als die übermäßige Sext, verkleinerte Septime; aber dafür hat das Ganze auch einen männlichern ununterbrochnern Charakter. Die übermäßige Sext ist wenigemal da, und immer sehr vorbereitet, so daß sie mit ihrem Stachel nur einschleicht; als bey spiritum rectum, in visceribus, und bey contribulatus, wo kurz voran zugleich die übermäßige Sekund' ihre herrliche Wirkung thut.« etc.

Sie sprachen alsdann von Leo überhaupt, mit Durante dem größten Stifter der Schule von Neapel, dem Lustort der Sirenen. Hildegard selbst hatte von ihm nur die Solfeggi und La Morte d'Abel, ein Oratorium nach der Poesie von Metastasio, und hohlte beydes.[78]

Sie gingen geschwind das letztre durch. Er bemerkte dabey: »In der Poesie ist nicht genug Stoff zu einem Morde da; es fehlt ganz die poetische Wahrscheinlichkeit. Nach dem Grundtrieb im Menschen, der Geselligkeit, mußte Abel die andre Hälfte von Kain seyn, da dieser ihn allein als männlichen Spielkameraden auf der weiten Erde hatte. Die Einbildungskraft des damals zu jungen Metastasio war noch nicht stark und reich genug, so etwas Schweres täuschend darzustellen; die Poesie ist zu gekünstelt und hat nicht die Natur der ersten Menschen. Für musikalischen Ausdruck ist wenig da; moralische und theologische Sentenzen erlauben wenig Abwechslung der Stimme. Auch gehen in der Musik altväterisch die Formen gar wenig hervor. Die immer trocknen Recitative, ohne alle Begleitung, ermüden; ob sie gleich in der Harmonie Abwechslung, und oft glückliche Declamazion haben. Die Arien, wo lange Läufe auf unbedeutenden Worten sind, ermüden noch mehr; bloße Musik in ernsthaftem Styl. Im Ganzen, das in zwey Theilen besteht, ist nur ein einziges Recitativ mit Begleitung; das der Eva am Ende, wo Abel erschlagen gefunden wird. Der Kontrast thut Wirkung, als ob es eins von Jomelli wäre.«

»Die Meisterstücke darin aber sind die zwey Chöre am Ende des ersten Theils, und am Ende des zweyten. Solche erhabne Musik hören wir nicht mehr in unsern Kirchen; solche feyerliche Modulazionen, rührende und herzergreifende Verschmelzungen, die so wahr die Gefühle einer leidenschaftlichen Seele ausdrücken. Der erste Chor fängt an:

Oh di superbia figlia, d'ogni vizio radice, nemica di te stessa invidia rea.«

»Der Anfang in lauter Oktaven ist prächtig, der Ausdruck sinnlich.«[79]

»Der letzte Chor: Parla l'estinto Abelle, ist noch feyerlicher; die Harmonie geht Pindarisch ins Außerordentliche, aus D dur in E dur, Cis moll und Cis dur; und ist so recht erhabner Kirchenstyl.«

Lockmann hatte angefangen, Hildegarden dabey das Italiänische ins Deutsche zu übersetzen; sie sagte ihm aber zu seiner großen Freude, daß dieß nicht nöthig sey, und sie die Sprache hinlänglich verstehe.

Dann sang sie zur Uebung einige von den Solfeggen vortreflich ohne Fehler, wozu Lockmann sie begleitete.

Sie sprachen wenig über das Miserere, oder Pietà Signore, von Jomelli, welches Hildegard schon kannte. Lockmann sagte: »Es wäre ohne Zweifel besser, wenn Jomelli die bekannten Lateinischen Worte genommen hätte. Die Lingua volgare, auch in einer treflichen Uebersetzung, wie hier nicht immer der Fall ist, paßt nicht zu dem feyerlichen Psalm.«

»Die Musik ist merkwürdig, weil Jomelli sie in seiner letzten Passionszeit, kurz vor seinem Tode, geschrieben hat. Es ist auch, meinem Gefühl nach, wenig Lebendiges mehr darin; aber sehr viel strenge einschneidende Kunst der Harmonie. Wenn man die Worte nicht schon weiß, so wird man ihren Sinn wenig merken. Der wahre Geschmack, oder die eigentliche Schönheit ist dieß gewiß nicht.«

»Mit den großen klassischen Werken der Kirchenmusik, seinem Requiem aeternam, und seinem erhabnen erschütternden Benedictus dominus Deus Israel für die Peterskirche zu Rom, läßt es sich, was Vollkommenheit betrift, in gar keine Vergleichung stellen.«

Flüchtig zum Beschlusse nahmen sie noch das Miserere von Sarti vor. Die Begleitung machen drey Bratschen, und das Violoncell Solo, mit Abwechslung der ersten Bratsche.

[80] Lockmann nannt' es ein Meisterstück der neuern Kirchenmusik, worin das alte Vortrefliche mit dem neuern vereinigt wäre: Geschmeidigkeit und Geschwindigkeit der Kehlen und Instrumente in den Solos, und volle ernste Harmonie in den Chören; und durchaus gefälliger Vortrag, und rührende reizende Melodie in der schönsten Ausbildung. Die Begleitung bloß von drey Bratschen und dem Violoncell, sagte er, benehme der Musik das Theatralische. Auch auf den Ausdruck sey immer gesehen; das Ganze mit einer angenehmen und vortreflich ausgeführten Fuge beschlossen.

Unterdessen fand sich Hildegards Bruder ein. Sie gingen, weil es kühl geworden war, und der Abend einsank, in den Garten; und unterredeten sich über die Frage: ob man die neuern Erfindungen in der Musik, und das Ausgebildete der Melodie und Begleitung auch bey Kirchenmusik brauchen solle?

Lockmann fuhr, nach wechselseitiger Erzählung von verschiednen Beyspielen, ferner fort: »Die mehrsten und wichtigsten Stimmen sagen nein. Die Ursache, welche man dazu angiebt, ist, daß es an das Theater erinnere, und die Kirche entweihe.«

»Wenn man aber reizende Melodie und ausgebildete Harmonie brauchte, die nicht auf dem Theater vorkäme? Es ist doch höhere Vollkommenheit; und sie würde sehr für eine liebenswürdige schwärmerische Frömmigkeit passen.«

»Die wahre Ursache mag wohl seyn, daß die höchste Ausbildung der Kunst sich nicht für unsern Glauben schickt; und daß so, wie die Lateinischen Worte dieselben sind, auch immer die Musik gewissermaaßen dieselbe bleiben müsse. Wahr ist es jedoch auch, daß man schon, wenn man mit einer hohen Person, einem Fürsten und Monarchen, spricht, sich ernst und würdig ausdrücken soll; zierlich kann[81] man wohl dabey seyn, aber es dürfen keine Luftsprünge, oder Seiltänzereyen vorkommen. Inzwischen giebt es Feste von Heiligen, die Witz und Laune und alle Feinheiten der neuern Kunst vertragen sollten.«

»Bey den Italiänern, wo die Musik am mehrsten lebendig und volksmäßig ist, braucht man sie auch oft in ihrem ganzen Umfang in den Kirchen; jedoch besonders ausschweifend zu Venedig. Es ist ein erstaunlicher Kontrast, wenn man eben von den erhabenen Psalmen des Benedetto Marcello zu Hause weg manche neuere Musik in ihren Ospitaletten hört; Sarti ist dagegen noch sehr bescheiden zu Werke gegangen.«

Hildegard erwiederte darauf: »Ihre Bemerkungen scheinen gegründet zu seyn. Wenn man aber bey einem solchen Text, wie die Worte des Miserere, die Musik des Allegri und Leo mit der von Sarti vergleicht, so kann wohl kein Mensch von Verstand und Geschmack zweifeln, wo Wahrheit, Würde und Schönheit, und wo Ziererey und oft nur leeres Tongepränge sey. Und doch ist Sartis Werk ein Meisterstück der neuern Kunst; und ohne den Allegri oder Leo gehört, oder noch in frischem Gedächtnisse zu haben, hört es wahrscheinlich jedermann mit Vergnügen. So viel kommt auf Gewohnheit und Vorurtheil in der Musik an.«

Sie dankte ihm dann mit holdem Blick für die Mittheilung und Erklärung der besondern Schönheiten in dem Meisterstücke des großen Leonardo Leo. Er sagte ihr, durchdrungen von Zärtlichkeit und Bewunderung, als die Dämmerung die Aussichten schon in ihren magischen Schleyer hüllte, mit gedämpftem Ton der Stimme: »Kein größeres Glück für mich, als wenn ich alles, was ich weiß und vermag, Ihnen zu Füßen legen kann, und Sie es gütig annehmen wollen.«[82]

Sie waren eine Strecke voran, und bey der Umkehr in einen andern dunklen Gang, faßt' er ihr, geschwind wie der Blitz, die zarte Rechte. Hildegard wollte sie zurückziehn, vermochte es aber nicht. Er drückte die Hand feurig an seine Lippen, indeß sie, halb spottend und halb in Furcht gesehen zu werden, sich zurück wandte, und empfahl sich.

Er war kaum auf seinem Zimmer, und sah zum Fenster hinaus nach der Wasservertiefung, als ein Bothe, der schon einmal da gewesen war, vom Fürsten kam, daß er ihn sprechen wolle.

Der Fürst sagte: »Ihr Ruhm verbreitet sich schon im Lande. Die Aebtissin im Gebirge verlangt von Ihnen, daß Sie ihr eine Musik aufführen sollen, und bittet mich darum, und um die Leute, die Sie dazu brauchen. Es ist große Wallfahrt zu einem alten wunderthätigen Marienbild in ihrem Kloster, und nächsten Donnerstag halten sie Fest und Prozession damit. Die kurze Spazierfahrt dahin wird Ihnen ganz angenehm seyn.«

Lockmann antwortete, daß er es mit Freuden thun werde.

Den andern Morgen ließ er einen großen Theil der Kapelle um zehn Uhr bestellen; und ging bey guter Zeit zu Hildegarden.

Sie spielte Federball mit ihrem Bruder im Speisesaal, und beyde waren munter und heiter. Er erzählte gleich den Auftrag des Fürsten; und fragte, ob sie wohl Lust hätten, eine Spazierfahrt insgesamt mit nach dem Kloster zu machen. Es wurde mit froher Begierde der Mutter vorgetragen; welche zwar anfangs einige Bedenklichkeit äußerte, doch endlich es erlaubte. Sie kannte die Aebtissin; hatte aber sie und das schön gelegne Kloster seit ihrer Rückkehr aus England nicht wieder gesehen, und wollte selbst dabey seyn.[83]

Darauf ging es nach dem Musiksaal. Lockmann zog zuerst das Salve regina von Pergolesi hervor. Sie kannten es alle; und Hildegard sang es vortreflich. Darauf das vom Londoner Bach. Auch dieses kannten sie; und es wurde gleichfalls vortreflich gesungen. Man sprach über den Unterschied beyder Musiken; und kam im Urtheil ziemlich überein.

»Wahrheit und Verstellung. Bach schrieb die seinige bey Champagner und Burgunder, gesund und in Wohlleben; Pergolesi, als er selbst bald seine Seele aushauchen wollte. Dieser für schwärmerisch fromme Lazzaroni und ihre Weiber, Söhne und Töchter; jener, ohne einen Funken Glauben, für eine Hofkapelle. Bach steht durchaus an Wahrheit des Ausdrucks unter dem Italiäner; hat aber dafür mehr Anstand, fromme Hofmiene, die er jedoch hier und da vergißt, als bey lacrimarum valle, wo man eben so gut Paradies, Bajä und Tempe unterlegen könnte. Pergolesi weint bey diesen Worten im Gegentheil zu sehr, gegen die Regel der Schönheit.«

»Gefühlvolle Menschen, denen es in dieser Welt wirklich übel geht, und die sich nach etwas Besserm sehnen, würden ohne Zweifel mehr in den Ausdruck des Pergolesi einstimmen. Aber auch bloß als Musik betrachtet, ist ohne Vergleichung mehr Kern und schöne Natur in seiner Komposizion.«

»Wie wahr und schön gefühlt im ersten Largo: Vita, dulcedo, et spes nostra, Salve! und mater, vita, dulcedo, Regina! so lyrisch am Ende. Und hernach das Ostende Jesum, wie eine Madonna von Raphael! Und das letzte: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria! Wahre Accente einer Heiligen; so innig, daß der Umfang der ganzen Melodie nur wenig Töne beträgt.«

»Bach hat inzwischen doch auch schöne Züge, und sein Werk ist[84] mehr gerundet zur Aufführung: Gementes et flentes ist vortreflich; und Eja ergo advocata hat selbst Pergolesischen Ausdruck, wenn es nur nicht wie das meiste andre zu gedehnt wäre. Welch ein Pomp gleich der Anfang vier Takte im Largo auf die Sylbe Sal----ve! wenn dieß nicht theatralischer Prunk ist, was soll es sonst seyn? Und gleich hernach wieder zwey Laufe darauf, und hernach gegen Ende noch ein ellenlanger. Und eben so ist das Clamamus.«

Nachdem eins um das andre dieß bemerkt hatte, und inzwischen die Zeit verstrichen war: bat er Hildegarden und ihren Bruder, sie möchten mit ihm in den Konzertsaal kommen; dort wolle er sie noch ein drittes Salve hören lassen, welches er aufzuführen gedenke; jedoch solle ihre Wahl entscheiden.

Hildegard wünscht' es noch vor der Probe zu sehen. Lockmann sagte, er habe dieß bey ihrer großen Fertigkeit nicht für nöthig erachtet; jedoch zog er die Partitur aus seiner linken Rocktasche nun auch hervor. Er setzte sich wieder ans Klavier, und sie sang.

Salve Regina, mater misericordiae, vita, dulcedo; dulcedo et spes nostra; et spes nostra salve! Salve Regina! Salve mater! Salve mater misericordiae! Salve Regina! Salve! Salve!

Alle riefen fast einstimmig aus: »Göttlich! göttlich! Nichts kann schöner seyn! es ist das Höchste! Wie weit bleibt Pergolesi zurück, auch an Ausdruck!«

»Dieß ist ein Werk,« sagte Lockmann, um alles Mißverständniß zu vermeiden, »von dem himmlischen Genius der Musik, dem jungen Neapolitaner Francesco Majo, der in einem kurzen Zeitraum den größten und bewundertsten Meistern seiner Zeit den Rang ablief, und leider zu früh Italien und Europa durch den Tod entrissen ward.«

[85] Hildegard sang und mußte gleich diese erste Stelle noch einmahl singen. Sie that es mit der Begeisterung einer jungen schwärmerischen Priesterin zum Entzücken. Lockmann strengte mit Gewalt allen seinen Verstand an, um nicht vor ihr auf die Knie zu fallen. Die Feuchtigkeit der Wonne quoll tropfenweise in seine Augen; so zauberisch hatt' er ihr inneres schönes Wesen noch nicht in den Lüften vernommen. Melodie und Harmonie war ganz wie aus ihrer Seele.

Er sagte nach der Wiederholung: »Hohe, süße Schönheit muß an und für sich schon bey allen Künsten sehr in Anschlag gebracht werden. Dieß gilt bey diesem Werk in vollem Maaße. Pergolesi übertrift ihn vielleicht, und kaum, bey einer oder zwey Stellen im Ausdruck; Majo aber steht an Schönheit weit über ihm. Bey dieser ersten Hauptstelle steht er auch an herzergreifendem Ausdruck im begleiteten Recitativ, welches für die Worte viel natürlicher ist, über seinem deßwegen allgemein bewunderten Landsmann. Der letztere gleicht in seinem Ausdruck einer leidenden abgehärmten Matrone; und Majo der schönsten Tochter der Niobe.«

Sie sang weiter.

In hac lacrimarum valle dünkte alle über die Maaßen rührender im schönsten Ausdruck; er hält darauf im eingestrichnen C, und die Begleitung spielt und weht pittoresk darum.

»Eja ergo advocata nostra illos tuos misericordes oculos ad nos converte; ist, obgleich mit aller Pracht der Begleitung von zwey obligaten Trompeten, zwey Fagotten, und einer Hoboe Solo, nebst noch zwey Ripientrompeten, doch äußerst zärtlich bittend vorgetragen, in solcher glänzenden Stimme der Begeisterung wie der ihrigen, die freylich dazu gehört, um dadurch immer hervor zu strahlen. [86] Pergolesi ist dagegen kleinlich und ängstlich; im Majo athmet überall mehr Schönheit, und ohne Vergleich mehr Würde des Menschen.«

»Man muß diese Begleitung als ächten herrlichen festlichen Schmuck ansehen, der jedermann erheitern und erfreuen soll; es ist gleichsam eine Volkshymne zur Ehre der Jungfrau. Solche Gesänge sind schlechterdings nicht, die Gefühle eines Lazareths auszudrücken; sondern die eines Volks, das nach Drangsalen Hofnung schöpft, und wieder glücklich wird.«

»Et Jesum benedictum fructum ventris tui nobis post hoc exilium ostende ist bey Pergolesi wie eine Madonne von Raphael; gewiß aber auch bey Majo, wie eine Madonne von Correggio mit allem Zauber des Kolorits und Helldunkeln.«

»Wahr ist es, im O clemens bleibt Pergolesi unübertroffen. Uebrigens muß man noch dessen Zeiten bedenken; er ist hier gleichsam Mantegna, wie schon gesagt, zu Correggio

»Jeder setzt seinen Charakter durch. Gestehen muß man inzwischen immer, daß Pergolesi tieferes Gefühl von Leiden gehabt hat; verkleinerte Sekunden, Quarten, Nonen – damit ist alles bey ihm verschmolzen. Es ist kein großer Styl, aber ein äußerst darstellender bis ins Feinste. Zu seiner Zeit war man noch nicht so weit in der freyen Schönheit von Melodie und Harmonie gekommen.«

»Man weidet sich recht an menschlicher Kunst, und menschlichem tiefen hohen und schönen Gefühl, wenn man von einer so süßen und gewaltigen Kehle beyde nach einander hört und vergleicht.«

»Im Schlusse noch ist Majo göttlich; die Wiederholung des Anfangs: Salve! rundet recht das reizende vollkommne Ganze.«

Selbst die Mutter stimmte meistens mit diesem Urtheil Lockmanns[87] überein; und freute sich auf die Aufführung mit voller Begleitung.

Hildegard kleidete sich zum Ausgehen an. Die Probe war ein allgemeiner Jubel. Besonders entzückte der Wettstreit des beliebten Virtuosen Frank auf der Hoboe mit Hildegards unvergleichlicher Stimme; und das prächtige Spiel der Trompeten und Fagotten dazwischen wurde gleichsam von den Ohren angestaunt, wie ein neues himmlisches Wunder.

Lockmann studirte alsdann, auf jeden Fall, mit seinen Leuten noch andre Sachen ein, einige bloß für blasende Instrumente zur Begleitung der Prozession; und eine der vortreflichsten Symphonien von Haydn, die zum Beschlusse für das Volksfest sich wohl schicken konnte.

Den folgenden Tag bereitete man sich recht darauf vor, besonders der junge Hoboist und die Solotrompeten; und den Donnerstag in aller Frühe fuhr Lockmann mit seinen Leuten voraus, und Hildegard mit Mutter und Bruder zu gehöriger Zeit nach.

Das Kloster war nur drey kleine Stunden entlegen, höchst erfreulich in der Tiefe eines fruchtbaren Thals, das ringsum bis zum Eingang desselben waldiges Gebirg' umschloß. Ein Bach rann durch eine Seitenvertiefung hinter dem Kloster herunter, erfrischte mit Fruchtbäumen eingefaßte kleine Teiche voll Forellen und Krebse; alles war reinlich, saftig grünend, und erschien für klösterliche Betrachtungen eingeweiht.

Sie trafen schon eine Menge Landvolk an, und einzelne Züge strömten noch herbey.

Lockmanns Leute erhielten gleich ein gutes Frühstück; und ihn bewillkommte die Aebtissin mit gefälligem Anstand und vieler Freundlichkeit.[88] Er meldete die Ankunft der Frau von Hohenthal mit Sohn und Tochter, welche sie höchlich freute; zugleich aber, daß sie Mittags wieder zurückkehren würden. Sie war eine Dame vielleicht an die Vierzig, aus der Familie von Friedeborn, und hatte ihre angenehme Gestalt wohl erhalten. Die vornehmsten Klosterfrauen gesellten sich bald zu ihnen; auch für Lockmann ward ein Frühstück gebracht, wovon er nur ein Paar Gläser Xeresersekt, den er noch nie getrunken hatte, mit einigen Bissen Brod zu sich nahm.

Er verlangte gleich nach der Kirche und Orgel; und eine blühende junge Elsasserin, die das Werk für das Kloster dirigirte, begleitete ihn dahin mit zwey viel altern Schwestern, welche die Balge treten sollten.

Die Kirche war ein ziemlich großes altes Gothisches Gebäude mit Kreuzgängen, und bemahlten Glasscheiben von prächtigen Farben in den Fenstern; die Orgel aber ein neueres Werk.

Die sittsame reizende junge Nonne zeigte ihm bescheiden die besten und am reinsten gestimmten Register. Er setzte sich auf die Bank, versuchte verschiedne einzeln, und dann zusammen. Sie lächelte dem jungen treflichen Meister bald Hochachtung, und dann Bewunderung zu, und ein lange zurückgedrängtes Gefühl fing an in den schönen schwarzen Augen zu wetterleuchten, als er sich von mehrern andern umringt sah, die, gleich den Schwalben beym warmen Hauch der Frühlingslüfte, aus ihren Zellen hervorgeflattert kamen. Er phantasirte ihnen zu gefallen die rührendst verflochtensten Gänge, mit kurzen zärtlichen Melodien und Imitazionen ausgeschmückt, die man für warme Andacht nehmen konnte; und ehe man sichs versah, war fast die ganze Kirche schon voll Leute, die[89] durch Seitenthüren geschlüpft waren, bevor man die großen Pforten noch geöfnet hatte.

Lockmann mußte plötzlich aufhören; die Nonnen zogen sich zurück. Die blühende Elsasserin, welcher er unterwegs nur mit einem Händedruck seine Verwunderung bezeigen konnte, ein so liebliches Kind wie sie von der Welt geschieden zu sehen, begleitete ihn, mit einem schmachtenden Blick gen Himmel, wieder zur Aebtissin, gerad' als diese ihnen selbst entgegen kam. Sie ordneten alsdann den ganzen Gottesdienst mit dem Pater, einem Kapuziner. Lockmann sagte, er habe Musik genug bey sich; wenn ihnen das Salve Regina vielleicht zu kurz schiene, so woll' er noch eine Messe aufführen. Beyde baten inständig darum; das Volk, sagten sie, wolle immer gern recht viel Musik.

»Lassen Sie uns also gleich anfangen, fuhr der Pater fort, da die Kirche schon voll Menschen ist.« Inzwischen waren Hildegard, Mutter, Sohn und Hofmeister angekommen, und wurden freundschaftlichst empfangen.

Lockmann theilte zuerst die Stimmen der Messe von Jomelli aus D dur herum, die mit Hoboen und Hörnern durchaus für ein Freudenfest bestimmt ist.

Messe und Musik wurde angefangen.

Das Kyrie eleison machte ein prächtiges Ganze schon an und für sich, und füllte Ohr und Seele. Die Begleitung, welche das Nähern zu Gott ausdrückt, bindet es meisterhaft. Das Thema zur Fuge ist gleichsam im Korinthischen Styl.

Das Gloria voll Jubel. Et in terra pax, voll Ausdruck. Qui tollis – miserere nobis eben so, die Begleitung überall glänzend in herrlicher Musik.

[90] Cum sancto spiritu in Gloria Dei patris vortrefliche Fuge die ganze Oktave von unten herauf; wahres Meisterstück mit der Begleitung.

Das Credo wieder ein Ganzes für sich. Stimmen einzeln, Stimmen verflochten auf mancherley Weise, und was nur etwas für die Musik darbietet, schön ausgedrückt. Damit es nicht zu einförmig werde, geht Jomelli mehrere Töne durch, aus dem D dur bis ins C dur und C moll. Et resurrexit voll Ausdruck; et ascendit in coelum eben so; wie resurrectionem mortuorum. Das Credo ist immer Chorus, und stellt in Oktaven die Gemeinde vor.

Das dona nobis pacem machte prachtvollen Beschluß.

Ein schönes Werk des Meisters, welches mit allgemeiner Lust und Freude angehört wurde, aber noch weit von seiner Todtenmesse absteht.

Die Messe war vorbey. Das wunderthätige Marienbild wurde von den vier jüngsten Nonnen herbeygetragen und vor den Hauptaltar gestellt. Alles fiel auf die Knie.

Das Bild war uralt, wenigstens aus dem vierzehnten Jahrhundert. Im Kopf der Mutter Gottes ist wirklich etwas Erhabnes, und dabey etwas stolz jungfräulich Mütterliches; ob er gleich verzeichnet, die Nase zu lang, und das Kinn zu klein ist. Die Kleidung Griechisch. Maria sitzt auf einem Sopha wie auf einem Thron. Auch das Kind hat Majestät im Gesicht, legt das Köpfchen ins Genick, wie ein junger Despot, und schlägt in seinem grünen Röckchen, welches unter den Armen ein rother Streif Seide zusammen hält, auf ihrem linken Arm getragen, die Beine übereinander. Sie hat ein rothes Unter- und ein himmelblaues Obergewand.

Man war wirklich im Himmel, nicht mehr auf Erden, als nun von [91] Hildegards reiner und gewaltiger Stimme durch die weiten geräumigen Gewölbe des Tempels in lieblichster Begleitung schmeichelnd bittend die Worte drangen: Salve regina, mater misericordiae, vita, dulcedo; dulcedo et spes nostra; et spes nostra salve! Salve Regina! Salve mater! Salve mater misericordiae! Salve regina! Salve! Salve!

Zu den Thronen des Himmels keine andre Tochter der Sterblichen, als Hildegard; diese Empfindung lebte und schwebte in aller Herzen.

Bey den letzten Worten: O clemens, o pia, o dulcis virgo Maria; und dem letzten Gruß: Salve regina, dulcedo et spes nostra, salve, salve! wollten diejenigen, die ihre Augen wieder von der Musik zurück auf das Bild hatten wenden können, einen lichten Glanz um die Köpfe strahlen, und die Mutter Gottes sich wirklich bewegen und nicken gesehen haben.

Als die Musik eine lange Weile zu Ende war, und die Prozession schon ihren Anfang hätte nehmen sollen: hörten alle immer still zu, als ob die Musik noch fort währte; besonders sahen sie gleichsam in den Lüften die göttliche Menschenstimme die obgleich vortrefliche Hoboe, wie den Falken einen andern Vogel überflügeln, und dann die heroischen Trompeten und alle Instrumente der entzückenden Schönheit huldigen.

Endlich zog die Prozession aus. Der ganze Himmel war heiter, und ein kühles Lüftchen spielte mit den Zweigen. Mit dem Wunderbilde voran, führten die Aebtissin und die Nonnen, ungefähr dreyßig an der Zahl, in ihren schönen Gewändern und Schleyern vom Orden des heiligen Benedikt, den Zug. Ihnen folgten die Kinder, nach einem Zwischenraum, den die Klarinetten, Hörner und Fagotten einnahmen; dann Hildegard und ihre Mutter mit einer[92] langen Reihe Mädchen und Weiber. Nun schmetterten abwechselnd die Trompeten und wirbelten die Pauken in die Wälder, und nach diesen kamen Jünglinge und Männer, alle in festlichem Schmuck.

Es ging um das Kloster herum, und dann die sanfte reine grüne Wiese am rechten Ufer des klaren Bachs hinab, bis zur Oefnung des Thals, wo an einem Wirthshause für die Ortschaften, welche zur Kirche gehörten, die Jäger des Forsts paradirten, die, als die Prozession ihnen zu Gesichte kam, sie mit dem Donner ihrer Büchsen begrüßten, daß es weit und breit, und mit verschiednen Schlägen, im Gebirge widerhallte. Als der Zug vor ihnen vorüber war, feuerten sie noch mehrmals ab. Es ging nun über die Brücke, und am linken Ufer des Bachs die Anhöhe hinauf durch ein Stück Wald hoher starker Buchenstämme wieder nach der Kirche. Unter der feyerlichen Musik der Klarinetten und Hörner, Trompeten und Pauken, und dem Donnerschall des Gewehrs murmelte, wie das Brausen der Meeresfluth zwischen Felsen, immer: »Gegrüßet seyst du Maria! und, heilige Mutter Gottes bitte für uns!« mit inbrünstigen Schlägen an die Brust, von allem Volke.

Der Himmel schien sich aufzuthun, und ein hellerer Glanz von ihm herab zu leuchten. Hehr und heilig und friedlich stand die Gegend, als sie zum Tempel hinein zogen.

Sie stellten das Bild wieder an den alten Ort. Die Aebtissin kniete davor nieder, nach ihr alle, und jagte mit so starker Stimme, als sie vermochte: »Sey gegrüßet große Fürsprecherin! walte ferner über uns, wende alles Uebel ab, segne die Früchte, und beschütze das Land!«

Lockmann hatte unterdessen seine Schaar auf dem Chor wieder[93] zurecht gestellt, und die Symphonie von Haydn mit einer Menge von Geigen und Bässen und allen blasenden Instrumenten vortreflich aufgeführt, schloß bezaubernd und berauschend.

Wenn das Volk die Sitte der höchst sinnlichen Römer und Neapolitaner verstanden hätte: so würd' es ihn und Hildegarden auch noch um das Kloster und durch das Thal in Prozession unter Jubel herumgetragen haben; so voll Bewunderung und Dankbarkeit war alles für beyde.

Sie und Mutter und Bruder wollten nun nach Hause zurückkehren; aber Aebtissin und Nonnen baten und flehten, und es ward ihnen nicht gestattet.

Man hatte sich für diesen Tag mit einem reichlichen Vorrath von Speisen versehen, und einige geschickte Köchinnen waren schon aus der Nachbar schaft herbey gerufen worden. Es mangelte außerdem im Kloster nie an allerley köstlich Eingemachtem, so wie an niedlichem Zuckerwerk, welches selbst zuzubereiten, verschiedne Schwestern ausgelernt verstanden. Die Aebtissin nahm für diesesmal an ihre Tafel, außer den zwey vornehmsten Alten, die immer mit ihr speisten, drey der schönsten und wohlerzogensten Nonnen, unter welchen sich die Elsasserin befand, und Hildegard wie die himmlische Venus neben ihren Grazien saß, wenn man Vestalinnen mit diesen vergleichen darf. Sie trug ein weiß seidnes Kleid über einem rosenfarbnen Untergewande; und überblühte alle an Gestalt, wie die königliche Rose die andern Blumen.

Unten im Kloster und in den Seitengebäuden waren mehrere Tafeln für die Kapelle und andre Gäste.

Der Kapuziner war lange in Rom gewesen, fing bald das Gespräch mit Lob über Hildegards Stimme an, und sagte, daß er binnen[94] zwölf Jahren nie eine schönere in Italien gehört habe, nicht eine, die damit zu vergleichen wäre.

Wie erstaunte Lockmann, als er sie im besten Toskanischen mit der wohllautendsten Römischen Aussprache antworten hörte: »Guter Vater, es schickt sich nicht für Sie, eine von Evens Töchtern, die sich leicht verführen lassen, mit Ihren Lobsprüchen eitel machen zu wollen.«

Der Kapuziner streichelte seinen grauen langen Bart vor Freude, und erwiederte im Italiänischen ferner: »Sie sind ohne Zweifel, obgleich so jung, schon in Italien gewesen, da Sie dessen Sprache so gut reden?«

»Nein, noch nicht, antwortete sie; aber ich habe gute Lehrmeister und Lehrmeisterinnen gehabt: Vater und Mutter, und Virtuosen und Sängerinnen aus diesem Lande der Schönheit und Künste. Jedoch nichts weiter in dieser Sprache! die frommen Schwestern hier möchten sonst glauben, Sie, ehrwürdiger Vater, hätten Ihren Zweck erreicht.«

Geschwind wie ein Blitz war dieß vorbey; Lockmann aber himmelweit davon entfernt nur die geringste Ahndung zu haben, warum sie gerade jetzt mit diesem neuen Reiz erschien.

Wie sich die Weiber selten einander etwas der Art gönnen, und auch die besten und wirklich keuschen eifersüchtig sind: so hatte Hildegard schon auf dem Chore bemerkt, daß die Elsasserin und der schöne junge Mann sich einander verstohlen lüstern angafften, indeß sie ziemlich fertig, doch immer Nonnenmäßig gehudelt, die Einleitungen und Antworten zur Declamazion des Priesters am Altare auf der Orgel griff, und sich deßwegen öfter, als nothwendig war, mit dem Köpfe rücklings wandte. Als sie zur Tafel traten, bemerkte Hildegard[95] dieß noch stärker; und so ging das Spiel, allen andern Augen verborgen, daran fort. Auch hatte die allerschlaueste nicht undeutliche Spuren von Absichten der Aebtissin selbst wahrgenommen. Als sie die wenigen Italiänischen Worte sprach, richtete sie nicht einen Blick auf Lockmannen; aber hernach redete sie bey Gelegenheit freundlich und gefällig mit ihm, jedoch ohne die mindeste Verletzung jungfräulicher Sittsamkeit und ihrer Würde.

Dieser konnte nicht unterlassen, ihr in eben der Sprache lebhaft sein Vergnügen zu bezeigen, daß sie so gut Italiänisch sprach. Die Nonne war für ihn ein bloßes neues Augen-, höchstens leichtes Sinnenspiel der warmen Jahrszeit; und von einer Vergleichung zwischen ihr und Hildegarden in seinem ganzen Wesen nicht die geringste Spur. Die Aebtissin pries beyde, sie und ihn, höchlich, und sagte, daß sie noch niemals auch nur eine ähnliche Musik gehabt hätten.

Der Kapuziner rühmte den schönen Ausdruck und das Glänzende der ganzen Musik im Salve Regina von Majo. Er kannte die größten neuern Kirchenkomponisten in Italien, wie er sie nannte, den Pater Martini zu Bologna, Pater Vallotti zu Padua, und Pater Zuccari zu Assisi persönlich. Ihre Musik, sagte er, sey strenge, heilig, gleiche der ehrwürdigen der unsterblichen Palestrina und Marcelli, und reiße, wenn sie von Sängern wie Guadagni vorgetragen werde, wie ein Strom mit sich fort; aber mit solcher Melodie, mit so etwas Himmlischem, kurz mit solcher Schönheit hätten sie sein Herz nie in Bewegung gesetzt, als Majo mit seinem ersten Salve. Guadagni und Pacchiarotti würden es aber auch nicht wagen, so etwas nach ihr, alles andere dazu gerechnet, singen zu wollen.

[96] Hildegard gab dem guten Pater einen neuen Verweis; aber er ließ sich von ihrem Lobe nicht abbringen.

»Man glaubt fälschlich, fuhr er fort, daß das Klima von Italien allein die bey weitem allervollkommensten Organe zum Singen hervorbringe, die zarten und zugleich höchst elastischen Fibern, Nerven und Muskeln zur Lunge, Brust und Kehle; und daß eine außerordentliche Stimme so wenig außerhalb Italiens zu finden sey, als eine andre mit einer vortreflichen Cremoneser Geige könne verglichen werden.«

Er beschrieb dann mit einer wirklich angenehmen Beredtsamkeit verschiedne große Feste dort, wobey er zugegen gewesen war; als das Fest des heiligen Franziskus zu Assisi, das Fest der Portiuncula, wobey er die schöne Kirche, und die Hütte des Heiligen noch unter der Kuppel, worin ihm der erste Gedanke zu seinem Orden war eingegeben worden, und die zwölf springenden Brunnen aus der einen Mauerwand der Kirche für die ungeheure Menge Volks von allen Landen her, nicht vergaß; so wie das fruchtbare Paradies das ganze lange Thal hin um Assisi. Er erzählte ferner die letzte Wahl des ersten Vorstehers seines Ordens, eines Deutschen, zu Rom; und beschrieb die schöne Lage ihres Klosters da, und den Reichthum der berühmten Gemählde in demselben.

Lockmann fiel hier ein, und sagte: »Der Erzengel Michael daselbst ist wirklich eins der schönsten Bilder von Guido, und noch lebendig in meiner Einbildungskraft. Der große Meister gefälliger Schönheiten hat einen himmlischen Jüngling darstellen wollen von zauberischer Gewalt. Der Kopf desselben ist die innigste Vereinigung reizender Männlichkeit und Weiblichkeit mit dem süßesten Ausdruck von Unschuld, besonders im Munde. Alles aufgeblüht an ihm wie[97] Blume ohne Anstrengung zeigt von der reinsten Seele, fähig alles Vollkommnen. Die Röthe auf den Wangen giebt ihm allein etwas Zorniges; sonst sieht er bloß aus, als ob er die Befehle eines Andern ausführte, gehorsam nicht eigenwillig. Das in die Höhe wallende Haar bildet reizend die Bewegung und das Niederschweben.«

Der Pater fügte hinzu: »Alles Nackende ist von hoher Schönheit, das linke Bein, der rechte Arm, die linke Faust voll göttlicher Kraft. Die Rüstung zeigt das Wunderbare seiner Stärke; so wie der Satan unter seinen Füßen.«

Lockmann fuhr weiter fort: »Die Bekleidung allein, dünkt mich, ist ein wenig zu mahlerisch, und hat nicht genug Wahrscheinlichkeit. Aber das Ganze bleibt immer eins der reizendsten Gemählde voll hoher Schönheit; es vergnügt, entzückt, und erweckt Heiterkeit in der Seele.«

Der Pater unterbrach ihn: »Man kann den Jüngling nicht ansehen, ohne ihm hold zu seyn; er ist so recht der Inbegriff von Schönheit und Güte mit hohem Geiste vereinigt; was man auf dieser Erde fast nicht findet. Mit einem Worte: Guido hat das Centrum getroffen; jeder Mensch, weß Standes er sey, würde sagen, wenn er so etwas in Wirklichkeit sähe, und kennen lernte: es ist ein wahrer Engel.«

Einmal im Zuge, könnt' er nicht aufhören, die reichen Klöster und prächtigen Kirchen in Italien zu beschreiben; das Wohlleben, das gute Essen und Trinken, die köstlichen Fische und wohlfeilen vortreflichen Weine.

Die Elsasserin unterbrach ihn mitten in seiner Begeisterung mit der naiven Frage: ob sie dort auch wohl einen so schönen Thurm hätten, wie den Straßburger?[98]

»Nein, war die Antwort nach einiger Ueberlegung, nur das nicht; und keine solche Sängerin.«

Hildegard mußte laut auflachen über die Kapuzinade; welche die andern auch andächtig anhören wollten.

Das Gespräch ging dann über auf das Kloster, die Zeit seiner Stiftung, was es für Einkünfte, Prozesse habe, u.s.w.

Mittlerweite legte die Aebtissin selbst Lockmannen freundlichst den größten, und ausgesucht grünen Spargel vor, und nöthigte ihn zum Trinken; und der Ton von bloßer Höflichkeit, womit sie den jungen Herrn von Hohenthal und dessen Hofmeister nöthigte, entging Hildegarden nicht. Lockmann fing an stiller zu werden, und saß in Gedanken, zuweilen vor sich hin blickend. Sie legte es mit Recht für sich aus; aber auch die blühende Elsasserin legte es für sich aus, und nicht weniger die Aebtissin.

Feyerabend suchte bey Gelegenheit der Musik das Gespräch auf England zu lenken, und pries dessen Wohlstand und vortrefliche Regierungsform. Mutter und Sohn stimmten zwar ein; aber es wollte natürlicher Weise nicht haften. Man ergötzte sich zu guter letzt an dem unvergleichlichen Zuckergebäck, den köstlichen eingemachten Aprikosen, und andern frischen Früchten. Dann trank man verschiedne Gesundheiten in ächten ausländischen Weinen der besten Arten. Die letzte Gesundheit war: noch viele solche frohe Feste! und lange leben und gesund seyn!

Man stand auf. Die Aebtissin zog Lockmannen bey Seite, und steckte ihm ein Geschenk zu für seine Musiker; für ihn selbst zwar nur eine schildkrötene Dose, worauf aber eine meisterhafte Kopie in Miniatur von Raphaels berühmtem Gemählde der heiligen Cäcilia zu Bologna stark mit Gold eingefaßt war. Er weigerte sich anfangs[99] sie anzunehmen; aber bey dem Blick auf die Schönheit der Vorstellung ließ er sich doch leicht dazu bewegen. Er küßte ihr aus Dankbarkeit die schöne Hand, und fühlte wohl den sanften Zug und Druck derselben auf seine Lippen.

Selbst Hildegard mußte den Werth und das Passende des Geschenks loben. Die Aebtissin hatte die Miniatur von einem jungen durchreisenden Mahler Brand, welcher ihr Porträt machte, und bald darauf zu früh verstarb, für wenig Geld erkauft. Das letztre verschwieg sie schicklicher Weise.

Es entstanden während des Kaffeetrinkens verschiedne Gruppen im Saale. Herr von Hohenthal scherzte mit den drey jungen Nonnen; die Mutter, die Aebtissin, Feyerabend, und die zwey alten blieben am Tische sitzen, und unterhielten sich von ernsthaften Dingen; Hildegard, Lockmann und der Pater standen am Fenster, und sprachen lebhaft Italiänisch über Musik mit so geläufiger Zunge, daß man es in dem Kaffeehause zu Monte Citorio in Rom, wo gewöhnlich eine auserlesene Gesellschaft Advokaten es am besten in ganz Italien spricht, nicht reiner und schöner hätte hören können. Die Elsasserin blickte und bewegte sich immer nach ihnen.

Hildegard schlug endlich der Mutter einen Spaziergang durch das schöne Thal vor, und beyde kamen überein, daß sie den Wagen an das Wirthshaus vorfahren lassen, und dort einsteigen wollten, um wieder zurück zu kehren.

Der Zug ging alsdann die Treppe hinab; Lockmann wurde von Hildegarden am Arme gefaßt. Als sie unten waren, hatte er sein schönes Rohr vergessen; er flog zurück, um es auf dem Wege zu haben, und traf im Zimmer die blühende Elsasserin allein, welche am Fenster stand, ihnen traurig nachzusehen. Die zwey andern[100] jungen Nonnen waren schon durch Seitenthüren wieder bey ihren Gespielinnen, um diesen den Abzug anzuzeigen, und alles zu erzählen. Als Lockmann die Thür aufriß und hineinsprang, drehte sie sich um. Wie konnt' er der vollen Gewalt der Natur widerstehn? ein Kuß auf ihre süßen zarten Lippen: o es war erquickendes Labsal für den Brand, den Hildegard in ihm erregte! und noch ein Kuß, wo er ihre schmachtende Unterlippe an seine feuchte Zunge schlürfte: Zähren glänzten über das Wonnelicht ihrer Augen, und die jungen Brüste wallten hoch in sein Wesen. Der zweyte Kuß hielt an; er mußte fort. Den dritten gab das reizende Mädchen, als Nonne, die nicht lange spröde thun und sich verbergen darf, ihm selbst, glühte über und über, und sagte dann: »Ach, ich Unglückliche!« und so schieden sie von einander.

Er stolperte die Treppe hinunter. Hildegard wartete auf ihn; sie bemerkte wohl an seinem verirrten Blick und an den röthern Lippen, daß etwas vorgefallen seyn mochte; ließ sich aber klug nichts merken, und verfügte sich mit ihm zu der Gesellschaft.

Lockmann fing wieder an zu denken: du hast mit einem seligen Augenblick die Langeweile ihres Zustandes beseelt; was ist es weiter! Hildegard ging neben ihm, wie die stolzeste Zierde der Schöpfung. Die Nonne, und der fatale Kreis, wohinein sie gebannt war, verschwand nach und nach; wie erfrischt und gestärkt, ward er lebendiger, fröhlicher und heitrer.

Vor dem Wirthshause und im großen Saal desselben mit ausgehobnen Fenstern machten sich seine Leute, Mädchen und Weiber, und das junge Landvolk lustig, und tanzten bey fürstlicher Musik von Klarinetten, Hörnern und Fagotten, wozu zuweilen die Trompeten in Wald und Gebirge schmetterten. Er wollte mit Feyerabenden[101] zu Fuß nach Hause, um sie nicht zu stören: aber Hildegard gestattete es nicht; der Wagen war geräumig, und Platz genug, daß die drey Herren beysammen sitzen konnten.

Man dankte, nahm Abschied, stieg ein; die Aebtissin empfahl zuletzt sich und ihre Kirche noch einmal dem schönen, jungen, wohlgebauten Lockmann. Der Wagen rollte fort, daß der Staub flog; und Kloster, Thal und Wald und Gebirge blieben zurück.

Die Mutter verlangte nun noch einmal die Dose zu sehen; sie rühmte das Gemählde. Nach ihr nahm sie Hildegard in die Hand; und bemerkte: »Die Heilige und Paulus sind die zwey besten Figuren, voll tiefer schöner Empfindung im Ganzen, in Stellung und Geberde. Sie ist verzückt in himmlische Melodien; Paulus mit etwas mehr Gedanke. Aber alle Gestalten sind nicht so edel und schön, als man sie von dem Meister aller Meister erwarten sollte. Cäcilia und Johannes haben ganz gemeine Gesichter; nur der Ausdruck erhebt sie über das Gewöhnliche. Vermuthlich ist dieß jedoch Schuld des Kopisten.«

Lockmann versetzte: »Selbst zu Bologna ist es keins von seinen besten Gemählden; Ihre Bemerkungen würden vielleicht auch dort gegründet seyn. Aber die Empfindung des Göttlichen macht alles von ihm anziehend.«

Dann erhielt Feyerabend die Dose, und sagte: »Wenn es ein andrer gemahlt hätte, so würd' es nicht so berühmt seyn. Selbst für Raphael mag das Vorurtheil zuweilen nicht wenig thun.«

Er schöpfte frische Luft, gab die Dose zurück, und sagte: »Aber wie es Menschen, vernünftige Geschöpfe geben kann, die im Ernst an wunderthätige Marienbilder glauben, das fällt mir hart auf.«

»Warum nicht? antwortete Lockmann, nachdem er um sich her[102] gesehen und überlegt hatte; sie durften nur erst an die Mutter Gottes selbst glauben, das andre war leicht. Da die mahlerischen Phantasien so selten sind, selbst bey den Mahlern, und sie ihre Gestalt im leeren Luftraum sich nicht vorstellen konnten: so sahen sie sich bald das Bild lebendig, und endlich völlig verkörpert. Unerwartetes Glück, unverhofte Befreyung von Uebeln, Krankheiten, weßwegen sie zu ihr unter dieser Gestalt flehten, da sie keine andre hatten, alle günstige Zufälle, wovon sie die Ursachen nicht erkannten, wurden dann, zuverlässig kindisch, aber doch wahr und aufrichtig, und wenn Sie wollen, Griechisch, dem Bilde selbst zugeschrieben. Alte und erwachsene Kinder sahen es wohl noch die Augen bewegen; vielleicht den Kopf gar, durch klösterliche Betrügereyen, denen doch solche Erfahrungen, auf die man sich verließ, vorhergehen mußten.«

»Der gewöhnliche Mensch kann sich überhaupt kein Wesen, sey es noch so mächtig, als Sonne, Luft und Elemente, anders vernünftig und verständig und hülfreich auf Bitten in der Noth vorstellen, als unter seinem Bilde. Selbst die größten Philosophen sehen alles in der Natur als nothwendige Erscheinungen an, und die Thoren verzweifeln endlich an ihrem eignen freyen Willen.«

Feyerabend erwiederte: »Vielleicht mehr werth, als der ganze dicke Atlas Marianus; aber gerade die klösterlichen Betrügereyen, um goldne und silberne Opfer zu gewinnen, sollte man nicht gestatten. Die Religion soll nicht allein glücklich, sondern den Menschen auch besser und rechtschaffener machen; und nicht auf der einen Seite fetten Müßiggang, und auf der andern magern und armen Fleiß ins Land bringen.«

Hildegard suchte das Grelle des Hofmeisters zu mildern, und sagte: »Man darf überall nie zu streng seyn. Auch die guten Künste der[103] Einbildungskraft leben auf Kosten der Stärke. Wenn das Unkraut nur nicht zu häufig unter dem Weizen ist! mit allzu genauem Ausjäten zertritt und verderbt man endlich selbst die Saat. Da so viele Mädchen an keinen Mann kommen können: warum wollte man zwanzig oder dreyßig alten Jungfern ein wenig Feinheit übel nehmen, die sie sich erlauben, eine bequeme Pflegestätte zu haben? Und dann unterstützen sie wieder die Armen und Kranken; und ihre Ceremonien sind ein erfreuliches Schauspiel für das Volk.«

Ihr Bruder stand nun seinem Feyerabend bey: »O ja, die Klöster sind gar etwas Erbauliches. Wenn es auf die Damen ankäme: so hätten wir ihrer noch einmal so viel. Inzwischen als gemeinschaftliche Hülfsquellen, und nicht zu zahlreich besetzt, könnte man immer ein Paar auf einige Meilen in der Runde dulden.«

Lockmann saß Hildegarden gegenüber, liebenswürdiger, als sie ihn noch gesehen hatte; obgleich ihre Augen in der Bekanntschaft den Worten weit voraus waren. Ein Geist der Liebe umleuchtete seine Locken, glänzte auf seinen Wangen, und röthete süß die Lippen. Sie betrachteten oft einander, und ihre Seelen unterhielten sich lebhaft im Stillschweigen. Nicht weit vom Hause warf ein Stoß des Wagens von einer Anhöhe herunter sie fast in seine Arme; ihre Knie berührten die seinigen, und ihre rechte Hand kam gerade flach mit dem zartesten Sinn des Gefühls auf seine gewölbte breite warme Brust. O, wie ihm das wohl that! O, wie auch ihr das wohl that! Aber sie war geschwind wieder auf ihrer Stelle. Man scherzte über den Zufall, kam an, und ging aus einander.

Daß Hildegard so fertig und gut Italiänisch sprach, war für Lockmannen die angenehmste Entdeckung, das unverhofte Glück, und das Liebste der ganzen Spazierfahrt. Die drey Küsse, recht schmackhaft,[104] frisch und voll, waren auch etwas werth, und er fühlte sich noch mit der blühenden Weiblichkeit verschlungen und verdoppelt; aber der Gedanke: Nonne! verdarb alles; und dann war es nur Schatten gegen Hildegarden, ein Husarenraub, geschwind erhascht, genossen und vergessen.

Er wählte noch denselben Abend Musik für sie aus, um sie in allerley Gestalten erscheinen zu sehen, und verlangte sehnlichst, sie von ihr zu hören. Um ungestörte Muße zu bekommen, wandt' er die folgenden Morgen zu Proben an für die nächsten Sonntage und Feste; und vertheilte das Geschenk der Aebtissin. Eine prächtige Messe im hohen Styl von Piccini, welche dieser jüngst für die Spanische Kirche zu Rom gesetzt, als man ihn zum Kapellmeister daran ernannt hatte, mit der Freyheit abwesend bleiben zu dürfen, und der bloßen Pflicht, nur zuweilen dafür zu schreiben, war das Schwerste und Schönste.

Den andern Tag nach der Klosterfeyerlichkeit traf ihn wieder im Schloßgarten der Fürst mit Hildegarden, Mutter und Bruder, der Frau von Lupfen und ihrem Gemahl, welche am Hofe gespeist hatten, und, nach einer Spazierfahrt, nun zu Fuß durch den Garten wieder zurückkehrten. Die Rede kam gleich auf die beste Einrichtung eines wöchentlichen Konzerts, welches allezeit Mittwochs sollte gehalten werden; und der Fürst befragte Lockmannen um seine Meinung.

Der Inhalt ihres Gesprächs war ungefähr folgender.


»Konzert


ist eine musikalische Versammlung, Akademie; nach der ursprünglichen Bedeutung des Worts, ein Wettstreit, Concertatio, Certamen. In der neuern Bedeutung kommt das Wort aus dem Französischen,[105] und heißt so viel, als musikalische Probe; Tonkünstler kommen zusammen, verabreden sich, und probiren die größern Musiken, bevor sie dieselben vor dem Volke aufführen. Jetzt ist die ursprüngliche und neuere Bedeutung zugleich in dem Worte. Man fand die Proben so angenehm und bequem, daß man sie selbst zu wirklichen Vorstellungen machte.«

»Jetzt ist ein Konzert ungefähr das, was bey den Griechen Rhapsodie war: ein einzelnes Stück, oder mehrere einzelne Stücke, aus einem oder mehrern großen Ganzen, von Virtuosen und Liebhabern vorgetragen.«

»In Paris und London sind sie zuweilen ein förmlicher Wettstreit, ein Olympisches musikalisches Spiel, wo die berühmtesten Sänger und Sängerinnen und Virtuosen aus allen Ländern von Europa zusammentreffen. Man sieht dabey weiter gar nicht auf ein Ganzes, sondern nur auf angenehme Abwechslung und schickliche Eintheilung für den bestimmten Zeitraum.«

»In kleinern Städten und an Höfen ist es eine wöchentliche Zusammenkunft, wo eine Gesellschaft sich unterreden will, und die leeren Augenblicke mit Musik ausfüllt; oder das stumme Spiel der Karten mit Musik begleiten läßt, und dadurch die öde Stille wegbringt.«

»Man könnte sie auf mancherley Art zu wahren Schulen der Musik machen.«

»1. Mit einem Theil der Einkünfte die größten Meisterstücke der Musik aller Zeiten und Gegenden, die noch übrig sind, da sammeln, aufbewahren, und nach einander studiren, aufführen, und mit einander vergleichen. Dieß wäre unstreitig der allerhöchste Zweck, den man dabey sich vorsetzen könnte. Die Geister der großen Erfinder[106] in der Musik kämpften hier mit einander; und man hätte den Genius verschiedener Zeiten und Völker am sinnlichsten vor Ohr und Seele. Um diesen Zweck vollkommen zu erreichen, gehören freylich Städte dazu wie London, Paris, Neapel, Wien, Berlin; und Unterstützung von Königen, Fürsten, und reichen Liebhabern.«

»Wenn man inzwischen nur einmal den Anfang damit machte! Man brauchte nicht ganze große Komposizionen aufzuführen, sondern nähme nur die schönsten und bedeutungsvollsten Stücke daraus. Künstler und Kenner könnten nachher die Partituren für sich besser studiren. Man brauchte anfangs auch nicht bis zu den Griechen und Chinesen zurückzukehren und auszuschweifen; sondern nähme nur die Hauptsachen von Palestrina an bis auf unsre Zeiten.«

»Durch starke Kontraste würde das Vergnügen sehr erhöht werden. Zum Beyspiel nach einander ein Stück von Durante oder Vinci; und darauf eins von Paesiello oder Cimarosa; eins von dem berühmten Kapellmeister Karls des Sechsten Fux: und darauf eins von Gluck oder Naumann

»Ein Konzert, auf diese Art mit Geschmack eingerichtet, würde bald alle mittelmäßige theure Opern zu Schanden machen. Das nämliche verstände sich auch von Instrumentalmusik. Die Virtuosen müßten sich in den Genius der Zeit so viel wie möglich einstudiren, wenigstens anfangs von Corelli und Vivaldi an, und Tartini, bis zu unserm Ariost Haydn. Die Kunst der Musik würde dadurch nach und nach mehr Tiefe in der Geschichte der Menschheit gewinnen.«

»2. Was noch geschieht, aber mehr von ungefähr, als aus Zweck: alle Anfänger da prüfen durch das Publikum; und leicht die Stimmen sammeln, ob sie fortfahren sollen in dieser Kunst, unterstützt[107] zu werden verdienen, oder nicht; und ihnen guten Rath ertheilen, so wohl was Komposizion, als Ausübung betrift.«

»3. Nachrichten einsammeln von neuen Werken und Virtuosen in den verschiednen Städten Deutschlands und andrer Länder durch musikalische Korrespondenzen.«

»4. Sich unterreden, wie Kirchen-, Theater- und andre Musik in einen bessern Zustand zu versetzen sey.«

»5. Die berühmtesten Sänger, Sängerinnen und Virtuosen auf ihren Reisen da hören, ihr Vortrefliches und ihre Eigenheiten prüfen.«

»Um diese und mehrere Zwecke zu erreichen, müßten Kenner und in der Geschichte der Musik Erfahrne an der Spitze stehen, regieren und leiten.«

»Die angenehmsten Konzerte heutiges Tags sind solche, wie sie die Italiäner haben. In ihren häufigen Opern jedes Jahrs werden gewöhnlich nur einige Scenen vorzüglich gut ausgearbeitet; und diese aus verschiednen Städten führen sie darin nach einander auf. Ihre Konzerte sind also gleichsam die Ernte von jedem Jahre. Und so geht es noch mit der Instrumentalmusik.«

»Unsre gewöhnlichen Konzerte erfordern nothwendig wenigstens diese Verbesserung, daß man bey den Scenen und Arien, welche da in fremden Sprachen gesungen werden, die Worte übersetze, und das Ganze angebe, worin sie sich befinden; denn sonst ist ein bloßes Gurgeln und Trillern, mit Lärm von Instrumenten, wobey die mehrsten schlechterdings nicht wissen, was sie denken und empfinden sollen.«

Der Fürst endigte die Unterredung, indem er sagte: »Ritterliche Wettstreite werden wir an unserm Hofe halten, wenn sich Gegner für[108] solche Bradamanten und Marfisen finden sollten; und die andern guten Ideen zur Ausführung zu bringen, wird nicht wenig von dem treflichen Meister abhangen, der sie uns mittheilte. Aufmerksame Zuhörer, wahrscheinlich; einen eifrigen Befördrer hat er gewiß.«

Hildegard gewann immer mehr des Fürsten Gunst; wenn er sie einmahl bey sich hatte, konnte sie so leicht nicht wegkommen. Sie betrug sich mit gehörigem Anstand gegen Lockmann, und sprach weniger mit ihm, als das erste mal, doch immer gefällig. Statt ihrer aber gesellte sich besonders die Frau von Lupfen zu ihm, welche ihn mit ihrem Gemahl bekannt machte. Diesem mußte er Duetten für Waldhörner versprechen; wofür er freye Jagd und ein vortrefliches Gewehr dazu bekommen sollte.

Montags gleich nach dem Frühstück war Lockmann bey Hildegarden. Sie empfing ihn wieder bey ihrer Mutter. Er brachte eine Oper mit sich, die er für eine der besten unter allen Italiänischen hielt: die Armida von Jomelli. Er fing an.

»Die Kirchenmusik ist viel allgemeiner, als die Musik der Oper, welche weit mehr ein Werk des Genies ist, und einzelne Menschen und deren Leidenschaften darstellen soll.«

»Darstellen überhaupt heißt Merkmale von etwas geben, wodurch es der Seele gegenwärtig wird.«

»Jeder, der sich Kenntnisse sammeln und andern mittheilen will, muß diese Kunst besitzen; und alle Wissenschaften und andre Künste beruhen auf ihr. Sie ist die erste und unentbehrlichste von allen. Die andern sind gleichsam nur ihre Kinder, und theilen sich in ihren Reichthum, ihr Vermögen.«

»Die Bildhauerkunst hat die Form zum Erbtheil erhalten; die[109] Mahlerey die Farbe; die Tanzkunst, im weitläuftigen Verstande genommen, die Bewegung am Menschen; die Musik den Ton; die Poesie die Sprache; deren Vasallen sind Beredtsamkeit, Geschichte, und alle Wissenschaften, die durch die Sprache mitgetheilt werden. Mathematik, die durch den bloßen Raum darstellt, hat das weiteste Reich.«

»Wenn sich aber auch die Kunst der Darstellung mit ihrer ganzen Familie vereinigt: so kann sie doch die Wirklichkeit nicht ganz geben; es wäre gegen den Satz des Widerspruchs und des nicht zu Unterscheidenden. Dieß soll sie auch nicht. Alle Kunst der Darstellung geht immer auf den bestimmten Zweck, das besondre Wesen einer Sache und ihr Bild tief in die Seele zu prägen, zu deren Nutzen und Vergnügen. Ob sie gleich die Wirklichkeit nicht ganz giebt: so giebt sie doch das Brauchbare davon, das Gediegne für den Menschen herausgehoben, von allen Schlacken gereinigt; und ergreift mehr, als die Wirklichkeit selbst, weil sie alles Zerstreuende davon entfernt, und die Merkmale jeder Art in einen Brennpunkt bringt.«

»Die Darstellungskunst kann sich mit dem größten Theil ihrer Familie am mehrsten im Schauspiel vereinigen. In ihrer höchsten Vortreflichkeit wird sie sich aber da vielleicht so selten zeigen, als Sonne, Mond, Merkur und Venus, Mars, Jupiter, Saturnus und Uranus am Himmel um die Erde in einem harmonischen und lieblichen Kranze auf einer Stelle zusammenkommen. Ein Sophokles, ein Gluck, ein Tizian, die Gabrieli, Marchesi, Pugnani, die Noverre, die Vestris stehen in Zeit und Ort immer weit von einander.«

»Die besten Merkmale sind diejenigen, welche den besondern Charakter einer Sache bezeichnen; denn eben dadurch wird sie der Seele[110] am gegenwärtigsten. Wer täuschen will, muß diese treffen; und derjenige trägt den Preis davon, der sie am besten trift.«

»Homer hat die höchsten Muster persönlicher Tapferkeit mit allen Schattirungen aufgestellt; und ist deßwegen als Heldendichter der erste. Achill, Ajax, Diomed, Odüsseus, bleiben noch unübertroffen. Ein Dichter, welcher einen Alexander, Hannibal, Cäsar darstellte, einen Tromp und Ruyter, Türenne, Friederich, meisterhaft das Unterscheidende träfe, wodurch sie sich von andern Heerführern auszeichneten, würde gewiß einen höhern Rang einnehmen; aber dazu gehört so viel Leben und Erfahrung, daß es noch keiner gethan hat. Sie lassen sich eben nicht so sinnlich darstellen, als ein Achill. Wie leicht und ergreifend fängt die Iliade an, die Sie in der Uebersetzung von Pope gelesen haben werden, mit einem Wortwechsel! und wie schmachtet alles auf die Wiederversöhnung, wie dürres zerrißnes Land auf einen Sommerregen!«

»Das höchste aller Kunst besteht in dem von allem andern Unterscheidenden, Individuellen, Täuschenden; nicht gerad' in der Vollkommenheit der Formen, Farben, Töne, Worte, Harmonie und Schönheit derselben. Deßwegen sagt man von den Figuren, welche bloß fleißige Künstler den Antiken nachmachen: es ist keine Seele darin; das ist: es ist nichts darin, was das Ganze zusammenhält und individuell lebendig macht. Die Formen können schön, proporzionirt; die Farben, Licht und Schatten harmonisch, kurz, alles nach der Regel treflich seyn: und stellt doch nichts dar, und täuscht nicht.«

»Was einer darstellen will, muß er erst in Natur recht gefaßt haben. Welch ein sichrer scharfer Blick, welche feste geübte Hand gehört nicht dazu, eh einer nur den Umriß von der geringsten Sache rein aufnimmt!«[111]

»Die Griechische Kunst war weit reicher, als die unsrige, an individuellen Formen. Die alten Griechen und Römer stellten die alten Griechen und Römer am besten dar. Wir Neuern haben die vollkommne Natur aller Art nicht so beysammen; deßwegen sollten unsre Künstler herumreisen, das Vortrefliche studiren und aufnehmen.«

»Um das Unterscheidende zu treffen, muß man erst das Allgemeine der Klasse kennen; und folglich viel Individuelles. Deßwegen setzt ein Meisterstück die Schönheit, Vollkommenheit des Allgemeinen schon voraus. Die feinen Abweichungen sind am schwersten aufzufassen. Wie ist der Charakter der Aspasia von dem der Phryne unterschieden? wie von jedem schönen Weibe? Wer dieß in einem Hauptzuge, oder in wenigen angiebt, der ist für den Mann von Verstand und Kenner der Meister; durch die neue Idee, wie auf einen hohen Berggipfel hingezaubert, übersieht dieser nachher selbst alles. Solche Züge, aus der edeln Natur gleichsam hervorgeblüht, sind hernach Brillanten und Sterne in jedem Kunstwerk.«

»Homer läßt die Helden ihr Leben erzählen. Dieß ist freylich am wirksamsten; nur muß man das Langweilige vermeiden.«

»Porträte, vortrefliche, von berühmten Personen, besonders die man aus ihren eignen Worten kennt, sind wahre Schätze für den Künstler. Die Charakter großer Menschen von treflichen Geschichtschreibern sind Schätze für den Dichter.«

»Was stellt die Musik dar«

»Masse, und zugleich Bewegung derselben, durch Töne; das reine, von allem abgesonderte, Leben in der Natur und im Menschen.«

»Ton ist die sinnlichste Darstellung der Seele, und gleichsam das[112] wahrste Bild ihres reinen sich in sich selbst regenden Wesens. Veränderung desselben, Melodie, Harmonie, Disharmonie zeigt ihr Leben.«

»So wie die Seelen, sie mögen bestehen, woraus man will, an und für sich selbst in ihrem Wesen verschieden sind: so sind es auch die Töne nach Art der Massen und der Gefäße, die sie hervorbringen, und worin sie hervorgebracht werden.«

»Jeder, der nur einigermaaßen ein gutes Gehör hat, wird im Dunkeln seine Bekannten und Freunde auch am bloßen Ton der Stimme kennen, und von einander unterscheiden. Im Ton der Stimme liegt etwas Charakteristisches, was die besondre Art der Nerven anzeigt, woraus ein Mensch besteht. Für einen Blindgebornen ist er die sinnliche Schönheit. Eine quikende, grelle, heisere, schreyende Stimme benimmt einer Helena, einem Paris an Gestalt den Reiz. Ein erfahrnes zartes Ohr ist eben so gut physiognomischer Sinn, als ein erfahrnes scharfes Auge.«

»Die mehrsten Instrumente sind Nachahmungen vom Ton der Menschenstimme; erreichen sie aber an Mannigfaltigkeit bey weitem noch nicht, geschweige an lebendigem Vortrage.«

»Die verschiedne Art des Tons allein verändert schon den Ausdruck eines und eben desselben Zweyklanges. Die große Terz zum Beyspiel in stiller Nacht auf einer Laute in Andalusien vor dem Schlafzimmer einer holden Jungfrau geklimpert; und die große Terz in stiller Nacht von einer Trompete an die Felsen eines Lagers vor dem Feinde geschmettert: welch ein Unterschied!«

»Durch die Klaviere besonders scheinen wir in der neuern Musik das Gefühl für Mannigfaltigkeit von Ton gestümpft zu haben; und doch giebt es einen Unterschied zwischen einem und demselben, sogar[113] schönem und reinem, wie zwischen Wasser und Kapwein. Das meiste bey unsrer Musik besteht endlich bloß in einer Abwechslung von Konsonanzen und Dissonanzen.«

»Die erste Eigenschaft eines Komponisten muß immer seyn, daß er ein äußerst seines und zartes Gehör für Ton hat, für die Harmonie und Disharmonie, den besondern Charakter von verschiednem Einklang. Dann kommen erst die Konsonanzen und Dissonanzen; dann deren Zusammensetzung und Abwechslung zu einem Ganzen, klein und groß. Darauf kommt es an, daß jede Art von Ton ist, wo es die Natur, Empfindung und Leidenschaft erfordert.«

»Dieselbe Oper von einer andern Gesellschaft vorgestellt, ist nicht mehr dieselbe. Deßwegen hat man in einem so musikalischen Lande wie Italien eingeführt, daß Dichter und Komponisten für bestimmte Sänger und Sängerinnen schreiben.«

»Warum machen zwey gleich vortrefliche Meister, oder mehrere, zu denselben Worten verschiedne Musik, auch wenn die Worte die bestimmteste Leidenschaft enthalten?«

»Man darf nicht mehr von der Kunst verlangen, als sie leisten kann. Zwey gleich vortrefliche Bildhauer können, ohne von einander etwas zu wissen, von derselben Person dasselbe Porträt machen. Nicht so wohl zwey gleich vortrefliche Mahler; die bloße Form, die jene nachbilden, bleibt ganz dieselbe: bey diesen wechselt schon Kolorit, Wendung und Stellung in Licht und Schatten.«

»Nun nehmen wir zwey gleich vortrefliche Tonkünstler, zum Beyspiel Sarti und Paesiello. Diese sollen das Leidenschaftlichste, was eine große Monarchin, die sie beyde persönlich kennen, bey der wichtigsten Begebenheit ihres Lebens sagte, in Melodie und Harmonie bringen. Wie weit werden diese am Individuellen[114] von der Bildhauerkunst abstehen, und von einander selbst abweichen!«

»Wenn sie ein Drama von dieser großen Begebenheit zu Neapel aufführen sollten, was vermöchten sie vom Individuellen oder Eigenthümlichen, dem wahren Charakter und dem ächten Ausdruck der Leidenschaft darzustellen?«

»Das Sinnlichste und Täuschendste unter allem ist: sie suchen


1. eine Sängerin aus, die der Monarchin an Gestalt und damaligem Alter gleicht;

2. hauptsächlich denselben Ton der Stimme hat. Was aber

3. Melodie und Harmonie betrift: diese müssen sie aus ihrem eignen Gefühl schöpfen; denn sie hat bloß gesprochen und nicht gesungen. Die Erhöhung und Erniedrigung der Stimme, den Accent können sie bezeichnen, höchstens! das ist alles. Uebrigens ahmt die Sängerin

4. noch ihr Mienen- und Geberdenspiel nach.«


»Also bleibt der Ton der Stimme, deren Umfang und Geschmeidigkeit, das Wesentlichste vom Individuellen, was ein Tonkünstler nachzuahmen hat. Deren Charakter muß durch das ganze Drama herrschen; süß für die Edeln, heroisch für die Kriegsschaaren, nie furchtsam und verworfen.«

»Menschen von vieler Biegsamkeit, Geschmeidigkeit haben auch einen weiten Umfang von Stimme; wenigstens muß man dieß in der Kunst annehmen. Einem so rauhen Charakter wie Cato war, kann man nur einen geringen Umfang von Tönen geben; Piccini, der ihn wie einen Kastraten gurgeln läßt, hat ihn ganz verfehlt. Eben so verfehlte Sarti den Kaiser Titus im Giulio Sabino.«[115]

»Die begleitenden Instrumente müssen alle zum Charakter der Stimme und des Ausdrucks passen.«

»Gewaltige Leidenschaften treiben die Stimme aus einander. Wenn sie bey einer Armida, Sophonisbe, einem jungen Achill, Orest, den Umfang von drittehalb Oktaven haben kann: so doch nicht bey einem Themistokles, der sein Innres mehr in Gewalt haben soll; und bey Personen in ruhigem Zustande.«

»Ferner hat der Tonkünstler zur Bezeichnung des Charakters das Konvenzionelle unsers musikalischen Systems, welches jedoch auf Natur gegründet ist. Männer, durch ihren Stand erhaben, bezeichnet treflich Es dur; Weiber und deren süße Leidenschaften E dur, A dur. Und so die Molltöne bey Traurigkeit und Leiden nach eben dieser Stufe.«

»Das Leben der Tonkunst ist übrigens so sinnlich, daß zwey vortrefliche Komponisten voll Gefühl leicht dieselben Konsonanzen und Dissonanzen in Melodie und Harmonie treffen könnten, wenn sie auf den wahren Ausdruck arbeiten wollten. Aber bey keiner andern Kunst herrscht so stark die Sucht, neu zu seyn und zu überraschen durch fremde Melodie und Harmonie.«

»In der Melodie ist jedoch weit mehr Willkürliches und Augenblickliches als in der Harmonie.«

»Und dann denkt sich der Dichter sowohl, als der Tonkünstler eine Dido, einen Alexander jeder nach seinem Fassungsvermögen und seiner Erfahrung; so wie manche Gans von Schauspielerin eine Elisabeth, eine Roxelane macht. Und die Zuschauer und Zuhörer haben eben so wenig ein ächtes Bild davon in der Seele.«

»Die meisten Tonkünstler suchen also überhaupt etwas Angenehmes für das Ohr, und Rührendes für das Herz zu machen; und, wenn[116] zwölf Musiken auf denselben Text gemacht worden sind, die dreyzehnte verschiedne neue, sie mag dazu passen oder nicht. Sänger und Sängerinnen wagen auf die Unwissenheit des Publikums endlich gar so viel, daß sie andre Scenen von ganz anderm Inhalt und Charakter, die sie fertig singen können, in Opern und Operetten einflicken. Ein so ganz bloßes Ohrenspiel ist die Musik für den großen Haufen.«

»Da die Auswahl der Stimme nach Ton und Umfang so äußerst selten in des Komponisten Gewalt steht: so fällt das Hauptindividuelle von selbst weg. Derselbe Sänger, und dieselbe Sängerin stellen mehrere Personen von dem verschiedensten Charakter vor. Der Dichter muß alles thun; und der Komponist trachtet bloß nach schöner Melodie und Harmonie, und schweift aus nach Belieben, wie bey Instrumentalmusik. Leere Bewunderung ist alles, was er verlangt.«

»Pergolesi drückt in seinem Se cerca, se dice die reinste gefühlvollste Natur aus, und entzückt die Kenner. Ein andrer zieht mit einem Pomp von Instrumenten, und einem Schwall von Harmonie und Disharmonie auf, die nichts sagt, und bezaubert den Janhagel. Der Schwarm mittelmäßiger Komponisten richtet sich nach dem letztern, und nicht nach dem ersten; und die vortreflichen Meister endlich selbst nach dem großen Haufen. Und so stehen denn die Komposizionen nach denselben Texten himmelweit von einander; die Musik zu einer Oper von Metastasio könnte man zu allen seinen andern brauchen, wenn man nur das Sylbenmaaß darnach veränderte; so wenig Charakter und eignen bestimmten Ausdruck hat die heute gewöhnliche Musik.«

»Das Klassische gleicht einem Wald von hohen Stämmen; es faßt[117] nur mit der Zeit tiefe Wurzel, und strebt hoch in die Lüfte. Homer, Sophokles, und Euripides wurden durch die Zeit bewährt; so Horaz und Virgil; so Petrarca, Ariost, und Tasso; Raphael, Tizian und Correggio; so Corneille, Racine und Moliere. Und so hat es die Zeit schon an Allegri, Leo, Händel und Jomelli gethan; und so wird sie es bald thun mit Traetta, Majo, Gluck und andern. Neid und Kabale, seichtes Gefühl und schwache Einbildungskraft, obgleich zuweilen bey guter Theorie, welche mittelmäßige Werke ausposaunen, und vortrefliche lästern; kindische Liebhabereyen des rohen gemißleiteten Pöbels müssen endlich vor dem Urtheil der Kenner und der großen dauernden Wirkung verstummen. Das Klassische, wenn es keine teufelische Zerstörung angreift, hält sich mit der Zeit selbst fest. Verstand und Klugheit aber ist es, der Zeit zu Hülfe zu kommen, und dessen Wirkungen zu vervielfältigen. Man sollte die entschiednen großen Meisterstücke wenigstens jährlich einmal wieder in die Seelen bringen; aber nicht verhunzt sondern vortreflich. Bey den Kirchenmusiken geschieht es mit einigen; bey den Opern noch nicht. Das Brodstudium der lebenden Komponisten wird es aber nicht lange mehr hindern.«

Hildegard antwortete: »Es ist eine wahre Lust für mich, solche Unterredungen zu hören, und darüber nachzudenken. Ein verzweifelter Streich aber wär' es, wenn die Monarchin, von der Sie sprachen, keine gute Stimme hätte!«

Lockmann versetzte: »Nach aller Ohrenphysiognomik muß sie eine haben, oder sie könnte die große Frau, das Wunder ihres Jahrhunderts nicht seyn.«

Hildegard erwiederte: »Wie aber, wenn sie nur die Sprachorgane, und nicht die Singorgane ausgebildet hätte?«

[118] Lockmann sagte lachend darauf: »Nun, so muß man sie bey dem lyrischen Drama für passend und ausgebildet annehmen; es bleibt nichts anders übrig.«

Hildegard hohlte alsdann ihren Bruder und Feyerabenden herbey, für die Bratsche und Geige; und es ging nach dem Musiksaal.

Sie kannte schon die schönsten Scenen dieser Armida, und hatte sie zu London mehr als einmal gesungen.

Er sagte darüber noch Folgendes.

»Die Armida abbandonata von Jomelli ist die schönste Rhapsodie aus dem befreyten Jerusalem des Tasso, und macht ein großes reiches Ganze für die lyrische Bühne. Es gleicht einem Gewitter in schönen Frühlingstagen, das mit fürchterlichen Blitzen und Wetterschlägen schnell vorüber rollt.«

»Um eine volle Oper zu machen, hat der Dichter noch einige andre Personen aus dem großen Gedicht in diese Episode hineingezogen, den Widerstand gegen die Armida durch den Tankred verstärkt, und mit dem bezauberten Walde pittoresk beschlossen.«

»Das Wesen, der Hauptcharakter derselben ist die Leidenschaft der Liebe mit ihren Leiden und Freuden in dem Herzen einer gewaltigen jungen Zauberin, durch die treffendsten Seelenklänge dargestellt und ausgedrückt; Eifersucht, Genuß, und Friede, Verlassung und Verzweiflung, Zorn und Rache, mit dem höchsten Reiz und brennendsten Feuer; und diese Oper mag wohl unter dem Klassischen über diese Leidenschaft den ersten Rang behaupten. Es ist wenig Pracht und Pomp darin, aber Melodie, Rhythmus, und Begleitung, die so rein und scharf und schön und sicher die Gefühle darstellt, wie die Kunst des Praxiteles oder eines Apelles die Formen und Gestalten auserwählter Menschen.«[119]

»Der ganze erste Akt ist nur Vorspiel und Einleitung, bis auf das göttliche Duett am Ende, wo die volle Gluth der Liebe in den reinsten Himmelsmelodieen und Harmonieen die Herzen in Entzücken schmelzt. Rinald wird vorher reizend mit tanzenden Mädchen aufgeführt in Eifersucht unter der Anführung einer schönen Ciacconne.«

»Ueberhaupt sind Rinald und Armida zwey ächt lyrische Personen, immer in Leidenschaft, und nie in Ruhe. Die erste Arie des Rinaldo, und die erste der Armida sind fast nur zur Bravour, um ihre Kehlen in Bewegung zu setzen. Besser wär' es gewesen, wenn sie gleich ins Ganze gegriffen hätten. Das Duett samt dem Recitativ gehört unter die schönen der Italiänischen Musik; die edelste und süßeste Melodie, die reizendste Begleitung, und Abwechslung in den Stimmen; und vortreflicher Ausdruck durchaus.«

»Der zweyte Akt ist der Kern vom Ganzen. Nach meinem Gefühl gehört er unter das allerhöchste der Musik.«

»Schon geht das Heitersüße in Bangigkeit über, und es entsteht Kampf, der noch einmal sich selig auflöst in der wahrhaft zärtlichen Arie des Rinaldo Caro mio Ben, mia Vita, deh! non turbar que' rai10

»Nun kommt die Ahndung der schrecklichen Katastrophe bey der Armida in dem meisterlichen Recitativ mit Begleitung Misera me! und der kummervollen Arie Ah, ti sento mio povero core11! Alles ist so recht ausgearbeitet, immer in neuer Melodie und Harmonie! nach dem Texte, nichts von Schlendrian.«[120]

»Die Arien des Ubald und Tankred dienen zur Abwechslung, und sind voll harmonischer Künste.«

»Endlich rückt die große Katastrophe heran, bey der Scene, wo Armida zu Rinalden sagt: dove corri o Rinaldo? Wie vortreflich alles declamirt ist! Griechischer Rhythmus. Und nun kommt das Tragische, wo Rinald von Instrumenten begleitet spricht: Jo gia ti lascio, gia ti lascio Armida; alles lauter innigst gefühlte Seelenaccente tiefer Zärtlichkeit.«

»Die heftigen Ausbrüche von Armidens Leidenschaft darauf gehören unter das erhabenste Lyrische der Musik; und ich kenne wenig, das sich ihm an die Seite stellen kann, recht hell und heftig brennendes Feuer; wahr klassisch, keine Note zu viel und zu wenig.«

Vivi felice? – Indegno, perfido, traditore –

»Wenn man hier so fühlt, wie die Instrumente den Ausdruck verstärken, und wie mit Blitzen in die Seele brennen: so läßt sich an dem Vorzug der neuern Musik vor der Griechischen nicht mehr zweifeln. Welche Stellen: l'inferno tutto svolgero contro te! Vanne, vanne! ma pensa, che nudo spirto ed ombra m'avrai sempre seguace!12 und wie ganz vollkommen sinnliche wahre Natur sichs schließt: Chiamarmi a nome, e sara tardi allora13. Göttliche Darstellung durchaus.«

»Diese Scene mit der Arie Rinalds: Guarda chi lascio, guarda! ist der Triumph der Italiänischen Musik über alle andre. Man kann nicht mit mehr wahrer Leidenschaft, mit reinerer Keuschheit und zartem Gefühl von Harmonie und schönerm Kontur und[121] treflicherm Rhythmus in der Melodie, mit mehr Fülle von Leidenschaft, und Adel, Grazie im Ausdruck solche Worte und Situazion in Töne bringen. Deh, amato Bene, non partirò! – oh pene, oh barbaro dolore! ah mi si spezza il cor fra tanti affanni14! Wie göttlich! welche Begleitung! Man fühlt so recht lebendig, wie der Meister die Sprache der Töne in seiner Gewalt hat.«

»Und eben so ist das Misera Armida der Verlaßnen der Triumph der Italiänischen Musik; klassisch durchaus mit dem Odio, furor, dispetto. Und das Udite, o Furie, udite! vi muova il mio tormento15. Donnerkeil des Aischylos

»So wie das Folgende ein wahres ganzes tragisches Gewitter, lauter reine Stärke und Gewalt ohne Ueberladung. Il ciel s'oscura – bis auf or che farà lo sdegno? Wie pittoresk die Abfahrt der Armida durch die Luft!«

»Im dritten Akt ist die Scene vom bezauberten Wald die Hauptscene; der Uebergang über den Fluß pittoresk, Hörner und Hoboen begleiten wie Strom; die Zaubergegend lieblich; die Nymphen aus den Büschen naive Mädchenmusik; u.s.w.«

»Diese Oper rundet sich schön zu einem Ganzen. Die Hauptpersonen strahlen immer hervor, und die andern weichen zurück. Bey den wenigen Instrumenten ist doch die Einförmigkeit vermieden; sie sind aber auch meisterhaft gebraucht.«

Sie fingen gleich mit dem Duett an, und es ging vortreflich; Lockmann machte den Rinald.

Im zweyten Akt aber bey der großen Scene dünkte diesen, als ob er Hildegarden noch gar nicht gehört hätte. Sie konnte die Scene[122] auswendig, und spielte sie, als ob sie auf dem Theater wäre, mit einer Leichtigkeit, Freyheit, mit solcher Leidenschaft, so starkem Ausdruck, ganz die wollüstige verführerische junge reizende Zauberin in ihrem nachlässigen Morgenanzug, mit so neuen eignen überraschenden Läufen und Manieren, einer solchen Süßigkeit, Reinheit, Gewandtheit, Gewalt der göttlichen Stimme, wo die Töne wie Perlen groß und klein entzückend im reichsten erstaunlichen Umfang hervorrollten, daß er gar nicht mehr wußte, wo er war, ob in Neapel bey der Gabrieli, oder in einem Zauberrevier bey der Todi; und beyde verschwanden bey Hildegards himmlischer Gestalt und vor ihren Reizen.

Kurz, so etwas hatte er noch gar nicht gehört. Er wußte nicht, wie er in Gegenwart der beyden andern seine Gefühle auslassen sollte; seine Brust schwoll, seine Wangen glühten, seine Augen brannten. »Was verliert die Welt, daß Sie nur uns in solchen Wonnestrudeln herumtreiben! welche Kehle, welcher Vortrag, welches wahre leidenschaftliche Spiel! und wie eine gebohrne Römerin die Sprache! welcher neue glänzende passende Reiz in den Verzierungen!« war ein Ausruf über den andern.

Ob es sie gleich inniglich freute, so lachte sie doch muthwillig darüber; und war überhaupt ausgelaßner in Abwesenheit der Mutter, als er sie noch gesehn hatte. Während der Action öfnete sich bey der heftigen Bewegung das Gewand: und beyde Brüste blickten hervor in herber jungfräulicher Ründlichkeit, zart und schwanenweiß. Die Fenster standen alle offen, ein Lüftchen blies herein, und verwehte das Haar, nur in einen Knoten gebunden, reizend darüber. Die wahre Armida, wie Tasso seine schönste Tochter schilderte! Der Bruder und Feyerabend waren auf die Noten erpicht, und[123] bemerkten es nicht; Lockmann aber war ganz lüsternes Auge, nur versteckte sie die Unschuldigen zu geschwind wieder.

Man wurde zu Tische gerufen; wie schnell verstrich die Zeit! Hildegard faßte ihn heiter und huldreich am Arm. Er sagte, mit kühnem Blick in ihre Seele: »Als Armida wird Ihnen keine Sängerin auf der Erde den Rang streitig machen; als solche können Sie auftreten, wo Sie wollen.«

Bey Tische sprach er nur wenig von ihr, rühmte aber desto mehr die Fertigkeit im Lesen, das gute Ohr, und den reinen Griff ihres Bruders, und auch Feyerabends.

Hohenthal antwortete: »Die Musik ist, als Liebhaberey betrachtet, mehr eine Sache für Frauenzimmer, als für Mannspersonen. Die Stimme der Melodie, oder der Sopran ist überhaupt das Vorzüglichste der ganzen Musik; und diesen haben natürlicher Weise die Frauenzimmer allein: denn von Kindern ist nicht die Rede. Wenn ein guter Kopf das Vortrefliche nicht haben kann: so giebt er sich mit dem Geringern weniger ab.«

Hildegard widersprach ihm hierin, und sagte: daß eine schöne Tenorstimme bey Männern dasselbe sey, was beym Frauenzimmer der Sopran.

»Gewiß nicht so ganz für das Ohr, erwiederte er, und das Tiefere darf und kann nicht die leichte Schnelligkeit haben. Doch darüber wollen wir nicht streiten. Ferner, und was das Wichtigste ist, müssen wir unsre Zeit zu andern Dingen anwenden; und vollkommen kann keiner in irgend einer Kunst werden, wenn er nicht seine ganze Zeit darauf verwendet. Also ist die Musik bey mir nur Erhohlung, Zeitvertreib, den ich aber unendlich höher schätze, als Kartenspiel und andre elende Beschäftigungen.«[124]

»Wenn einer leistet, was er vermag und im Stande ist, nicht heuchelt und schmeichelt, und sich nicht über seinen Grad von Vollkommenheit erhebt, und sollte er auch mittelmäßig seyn: den muß man schonen. Freylich kommt es einem schwer vor, wenn andre dieß rühmen und preisen. Wenn einer aber bey seiner Mittelmäßigkeit übermüthig ist, die Vortreflichen lästert und Kabalen schmiedet: da muß man streng seyn. Es ist nichts unerträglicher, als wenn Pigmäen auf Stelzen einher schreiten, und es für natürliche Größe ausgeben wollen.«

»Sie, Herr Lockmann, und alle Künstler, meine Schwester und alle Frauenzimmer, die es so gemächlich haben, wie Sie, sind weit besser daran, als wir, wenn wir das leisten wollen, wozu uns unsre Bestimmung fordert. Sie können frey nach Vollkommenheit streben: wir müssen es nach Verdienst und Nutzen.«

Hildegard, die neben ihm saß, drückte ihm die Hand dafür, und sagte: »Wie freut es mich, Dich so sprechen zu hören! Es ist schön, edel und wahr. Doch müssen wir etwas genauer bestimmen, was eigentlich Vollkommenheit und Verdienst, und Nutzen und Vergnügen von einander unterscheide.«

Ihr Bruder erwiederte: »Um mich durch ein Exempel zu erklären; ein Europäer am Kap giebt zehn und mehr Negern für ein Arabisches Pferd, weil es das ausnehmende Verdienst hat, daß er schnell und bequem darauf reiten kann; denn es ist doch wohl keine Frage, welches das vollkommnere Geschöpf ist.«

Feyerabend fügte hinzu: »Wenn ein König gesund und stark und der Wollust ergeben ist, und ihm mangelt der Verstand und die Tugend der Gerechtigkeit: so haben die Pompaduren, die dü Barry das erste Verdienst; liebt er die Jagd: vielleicht schon ein[125] guter Büchsenspanner; fürchtet er sich vor Tod und Hölle: vielleicht ein Scharlatan von Mediziner, ein Kapuziner. In Rom war ein Marius mehr, als Homer und Aristoteles. Bey Verdienst kommt es immer auf das Bedürfniß der andern an: bey Vollkommenheit auf den Grad der Vortreflichkeit unter seines gleichen, unter seinem Geschlecht, in der ganzen Natur.«

Hildegard. Wohl! ich begreife. Es gehört mehr warmer zarter Sinn, scharfer Verstand, Kunst und Erfahrung dazu, eine Armida wie Jomelli zu machen, als diese und jene Schlacht zu gewinnen, wo oft das Glück entscheidet. Nur Menschen vom ersten Range können richtig über Vollkommenheit urtheilen; der Janhagel weiß von nichts als Verdienst.

Lockmann. Es giebt Staaten, wo die vollkommensten Menschen fast nicht gebraucht werden, und man sie als unnütz betrachtet. So hat ferner ein mittelmäßiger Mensch in jeder Kunst bey einem rohen Volke mehr Verdienst, als ein vortreflicher. Kanonenstücke und Staatsactionen kann manches Publikum besser fassen, als einen Tartüffe oder Misanthrop. So findet ein Niederländer mehr Vergnügen an einem Gemählde von Ostade, als an der Verklärung Raphaels.

Feyerabend. Nutzen überhaupt bezieht sich mehr auf die Dauer der Existenz; und Vergnügen auf Genuß derselben. Beyde greifen in einander ein. Wir sind nicht bloß da, daß wir leben, sondern daß wir auch das Leben genießen sollen. Wenn der Vogel sich gesättigt, und seine Jungen gefüttert und ausgebrütet hat: so singt und spielt er, und fliegt zur Lust in den Lüften herum. Ein Mensch, der auf weiter nichts denkt, als Geld und Gut zusammen zu scharren, vergißt ganz, weßwegen er da ist. Es giebt keine Freude, die nicht,[126] wenn sie in gehörigem Mvaße genossen wird, auch wieder zur Erhaltung des Lebens beytrüge.

Die nützlichen Wissenschaften und Künste dienen den schönen Wissenschaften und Künsten zur Grundlage; so wie in den Staaten, die vom Ackerbau leben, auf dem Bauer alles ruht. Poesie, Mahlerey und Musik in hoher Vortreflichkeit sind in jeder bürgerlichen Gesellschaft Phänomene von Wohlstand. Auch haben sie sich immer auf die Erdstriche eingeschränkt, wo man für Nahrung, Kleider und Wohnung wenig zu sorgen hat, wo die Schooßkinder der Natur sind.

Lockmann. Sie sind Aufbewahrerinnen der stärksten und süßesten Gefühle der Menschen, und der höchsten Vollkommenheiten der Natur. Nach großen und schönen Thaten zur Erhaltung und Verstärkung der Existenz schmeckt das Vergnügen am besten. Wo große Kräfte reifen, und in ihrer höchsten Gewalt sich äußern, da sind die Zeiten der Kunst. Wo kein Stoff, kein Gehalt ist, ist bey der schönsten Form nur Traum und Schatten, und ein leeres Luftgebilde.

Hildegard. Das größte Vergnügen, die größte Freude, Glückseligkeit, und wie die Worte alle lauten, bleibt immer, seine Fähigkeiten im höchsten Grad anzuwenden; so wie hingegen der größte Schmerz, das größte Leiden, wenn eines Menschen oder Geschöpfes Kräfte im höchsten Grad unterdrückt, oder gar vernichtet werden. Die Künste wiederhohlen diese Gefühle an erdichteten Gegenständen.

Diese Worte sagte Hildegard mit vielem Nachdruck.

Die Mutter beschloß diese Materie, indem sie sagte: »Es scheint, daß die Natur Freude und Leid jedem Wesen mit gleicher Wagschale zugewogen habe.«[127]

Dieser Anfang des Gesprächs hatte alle etwas angegriffen. Hildegard suchte es auf leichtere, und ganz leichte Gegenstände bis zum Scherz zu leiten; und erzählte: daß Sacchini, der ihr einige Zeit zu London Unterricht gab, ihr die schönsten Scenen aus der Oper des Jomelli mitgetheilt, wie er sie bewundert;

und die Mutter erzählte ferner, wo sie dieselben mit Pacchiarotti gesungen habe, mit mehrern Umständen.

Lockmann bemerkte, daß er Pacchiarotti'n in derselben Oper, aber mit der alltäglichen Musik von Bertoni, zu Venedig die Rolle des Rinaldo recitiren gehört; und wie leid es diesem habe thun müssen, sich in Erinnerung aus Neapel vom Pferd auf den Esel zu setzen.

Man sprach dann von dem äußerst angenehmen Cantabile des Sacchini, von der Mara und Todi; und die jetzt so bekannten Anekdoten von den Wortspielen über ihre Namen zu Paris: c'est bientôt dit; und Bravo und Brava, Mara, und Maro, mit der Bedeutung des letztern im Französischen, wurden beygebracht.

Man sprach nun über Namen überhaupt; und Lockmann fragte hierbey, wie sie den schönen Namen Hildegard bekommen habe.

Die Mutter antwortete: »Er ist alt in meiner Familie; meine Großmutter hieß so, und meine Tochter hat ihn von meiner Mutter Schwester, ihrer Pathe.«

Feyerabend fügte hinzu: »Man sollte mehrere altdeutsche Namen wieder einführen, die so bedeutend wären, wie die Griechischen, und selbst neue nach dem Charakter der Personen endlich einmal wieder erfinden. Es ist gar zu leer und gedankenlos, an allen Ecken und Enden nichts als Anna, Maria, Elisabeth und Lotte, Johann und Peter zu hören.«

[128] Hohenthal fuhr ferner fort: »Dieß schickte sich wohl für uns, da wir überhaupt in Europa die erfinderische Nazion sind. Die Erfindungen in England werden mehrentheils von Deutschen gemacht, welche sich dann mit einem reichen Londoner in Verbindung setzen, um sie in Gang zu bringen.«

Hildegard bestätigte dieß mit wichtigen Beyspielen; und sagte: »Ohne Eitelkeit! der Deutsche ist unter allen neuern Nazionen der beste von Natur für eigne erste Ideen.«

Sie schenkte dann aus einer Flasche alten Hochheimer die Gläser voll. Man stieß an: »Zum rühmlichen Andenken der Schwarz, Gutenberg, Kopernik, Leibnitz, Kant, Händel, Gluck, Herschel! und auf glückliche Nacheifrung der Unsterblichen!«

Man stand auf, und trank den Kaffee in einem Zimmer der Mutter. Hier sah Lockmann zuerst das Porträt des verstorbnen Vaters in Lebensgröße; es war durchaus so vortreflich, wie lebendig, von Reynolds, und schien recht mit Liebe gemahlt zu seyn, so meisterhaft und entschieden in der Nähe die Arbeit.

Die Mutter sah es mit zärtlicher Rührung an, und sagte: »Sie werden vielleicht einmal in London wenig Gemählde von diesem großen Mahler so wohl erhalten sehen. Es wurde gleich nach der Verfertigung hieher gebracht. Die Fettigkeit vom Rauch und Dunst der Steinkohlen füllt dort die Zwischenräume der Lasur an. Dadurch bekommen die Gemählde in kurzer Zeit ein verdorbnes Ansehen; und man weiß noch kein Mittel, diese Fettigkeit herauszubringen.«

Lockmann weidete Sinn und Herz an der geistreichen, edeln und einnehmenden Gestalt.

Hildegard nahm ihn dann mit ihrem Bruder bey Seite, und sagte[129] zu ihm: »Wenn Sie noch einige Zeit haben, und nichts Bessers zu thun wissen, so gehen wir wieder auf unsern Musiksaal. In meiner Sammlung finden Sie noch eine gute Gesellschaft Armiden; und überhaupt ist es dort luftiger und kühler.«

Alle und die Mutter selbst gingen dahin. Hildegard hohlte ihrer mehrere hervor. Die erste war:


Armide par Gluck. Text von Quinault.


Lockmann kannte sie gar gut, und sagte darüber: »Ob sie gleich in Paris am mehrsten ist aufgeführt worden; so steht sie doch, selbst im Theatralischen, weit unter seiner Iphigenia in Tauris. Im Ganzen ist wenig Natur; die Teufel und die Person Haß sind zu künstlich; und die Chöre meistens hinein gezwungen. Nur einige Scenen ragen hervor; die, wo Armida den schlafenden Rinald tödten will, noch eine andre, und die letzte, wo sie allein bleibt von Rinalden verlassen.«

»Glucks Musik ist hier meistens Declamazion; und die Begleitung oft voll wie ein Wasserfall. Tänze und Chöre geben seinen Opern vor den Italiänischen großen Reichthum. Was ihn darin von allen unterscheidet, ist die Einheit der Instrumentalmusik durch das Ganze; und die immerwährend eigne Declamazion der Stimmen voll Rhythmus. Es ist Gluckischer Accent, Gluckische Originalität. Der vortrefliche Ausdruck des Heftigen, Gewaltigen und Leidenden setzt ihn unter die ersten tragischen Meister. Wir werden nächstens seine Bahn durchgehen, und wollen uns das Vergnügen nicht unterbrechen.«

»Glucks Armida muß mit allem ihrem Pomp doch der von Jomelli weichen. Die einzige Scene, wo sich Armida in den schlafenden Rinald verliebt, fehlt diesem. Sie macht einen reizenden Anfang[130] der Leidenschaft. Der Italiänische Dichter ließ sie aus, um das Ganze nicht zu weitläuftig zu machen. Der Schluß ist bey Glucken voll Feuer; kommt aber dem im zweyten Akt von Jomelli an Schönheit, Pittoreskem und Leidenschaft nicht gleich.«


Renaud. Tragédie lyrique en trois Actes, par Sacchini.


Auch diese kannte Lockmann.

»Eigentlich die Aussöhnung der Armida mit Rinalden. Das Gedicht ist nach dem Tasso, und hat nichts Hervorstechendes; doch ist es oft gut für die Musik mit einzeln schönen Stellen.«

»Die Musik ist rein, Neapolitanisch schön durchaus; nichts beleidigt, oder greift zu rauh an; sie macht Vergnügen, ergreift aber selten, und erschüttert fast nie. Sich an den süßen Tönen schöner Kehlen zu weiden in den geschmeidigsten Melodien und Harmonien, scheint immer Sacchini's Zweck für die Zuschauer gewesen zu seyn.«

»Der dritte Akt ist das Vortreflichste darin. Die erste Scene, die einen Wald beym Schlachtfeld vorstellt, hat Pathos und Pittoreskes; aber doch mehr angenommenes, als eigentliche Natur. Für die Menge bleibt sie jedoch von großer Wirkung; besonders die Arie der verzweifelnden Armida: Ciel injuste! Die darauf folgende Cavatine: Et comment veux tu, que je vive! ist voll ächter Zärtlichkeit und Grazie, und eine Perle, so wie das Duo hernach. Sacchini'n kann man als den ersten ansehen, der den lieblichen Styl der neuern Italiänischen Musik eingeführt hat. Und nächst ihm seine zwey berühmten Schulfreunde Piccini und Guglielmi; sie sind noch nicht so weichlich und zierlich, als Paesiello und Cimarosa

»Unter den Stücken zum Tanze sind die reizendsten Sachen. Das Schönste unter allen ist Seite 74 aus dem E dur.«[131]

»Bey den Chören merkt man, daß er die von Glucken gehört hat. Sogar bey Arien; als eben bey der angeführten Cavatine, die ganz in Glucks Geist ist, nur mit süßerer Melodie und Begleitung.«

»Den Charakter der Armida haben alle drey besser getroffen, als den des Rinald. Doch ist er beym Tasso selbst nicht natürlich; das Heroische erscheint zu wenig in ächten Zügen.«

»Unter dem Allervortreflichsten dieser drey Opern behauptet Glucks Non, jamais de l'amour tu n'as senti le charme; und die letzte Scene Le perfide Renaud me fuit, an wahrem tragischen ungekünstelten Ausdruck und leidenschaftlicher Erhabenheit mit Jo melli's vortreflichen Scenen den ersten Rang. Sacchini hat nichts, was diesem gleich zu stellen wäre.«


Il Trionfo d' Armida di Traetta.


Der Text nach Quinault.

Man fand die ganze Oper mager, und meistens Schlendrian; die Scene allein, wo sich Armida in Rinalden verliebt, indeß sie ihn ermorden will, vortreflich; und nebst der Ankunft des Rinald, seiner Bezauberung und seinem Einschlafen, das einzig Gute.

»Die ältern Opern, fuhr Lockmann fort, sind fast alle bloß so bearbeitet, daß eine oder zwey Gruppen, wie Gemählde, hervorspringen; das Uebrige ist Ausfüllung, um in den Logen dabey spielen zu können. Ländlich, sittlich. Diese Scene gewinnt viel, wenn man weiß, daß sie für die Gabrieli geschrieben ist. Zur Zeit selbst, wo sie neu und Erfindung war, muß sie entzückt haben. Der Ausdruck ist meisterhaft. Aber wahr ist es, alles andre wäre jetzt unerträglich.«


Armida von Salieri.


»Gute Italiänische Musik; nichts Neues, und wenig Vorzügliches.[132] Die einzige gute Scene des Traetta zeigt mehr Genie. Salieri hat viel bessere Werke hervorgebracht. Die letzte Arie der Armida ist das Beste; und doch scheint auch im Leidenschaftlichen der Begleitung Jomelli nachgeahmt zu seyn.«

»Righini, der jüngst denselben Text von Coltelini, jedoch nur im Auszuge, zu Wien bearbeitete, und einige Scenen von andern Meistern einschaltete, übertrift ihn bey den Hauptscenen, hat neue Melodie, neue Begleitung, und ist zuweilen stark im Ausdruck.«

»Coltelini hat eine glänzendere poetische Sprache, als Jomelli's Dichter, und plündert hier und da den Metastasio; aber dieser hat das Natürliche des Ganzen reiner herausgegriffen.«

Noch gingen sie einige Scenen einer Armida von Haydn durch, und das Terzet: Partirò, ma pensa ingrato; und der bezauberte Wald, die beyde jedoch nicht zum Wesentlichen gehören, gefielen. Doch dünkten sie ihnen nicht originell Haydnische Musik, sondern nachgeahmte Italiänische. Der Göttliche kam ihnen beym Texte zuweilen vor, wie ein zusammengekuppeltes Windspiel im Laufen.

Gegen Abend wurden Hohenthal und Feyerabend von einem guten Freund in Gesellschaft abgehohlt; und Lockmann empfahl sich gleich darauf. Als er unten im Hofe war, sah er die Gartenthür offen; und im Betrachten, daß sie von beyden Seiten konnte verschlossen, und innen verriegelt werden, lockte ihn das muthwillige Spiel der himmlischen Gestalt, auf einmal wieder höchst lebendig im Gedächtnisse, zur Wasservertiefung am Ende unter den hohen alten Linden. Lauter süße volle Empfindung, wandelte er schüchtern durch die schattigen Gänge dahin; sah die erste reizende Scene nur noch viel gegenwärtiger, und setzte sich in eine Laube von duftendem[133] blühendem Geisblatt, recht wie ein verliebter Schäfer in Gedanken versunken und verloren.

Nachdem er lange so gesessen, traten ihm die Thränen in die Augen, und er brach in die Worte aus: »Wie willst du sie losreißen aus dem Schooß ihrer Familie, aus dem Zirkel der Bewunderung! wie willst du dich losreißen! Mit wie viel schönern Aussichten stiegst du den Gotthard herunter, an Begierde den kühnen Stürzen der Reuß nach in das Paradies deines Vaterlandes! Aber o wallendes klopfendes Herz, du kannst ohne sie nicht leben.« –

Und sie rauschte vor ihm hin, und streifte sich schon das leichte Gewand ab, sich in der Dämmerung von der Gluth des Tages abzukühlen in dem reinen Quellwasser.

Sie konnten keine Worte finden, die Ueberraschung auszudrücken.

Der Obertheil ihres Leibes war entblößt. Sie wollte fliehen; aber verwegne Leidenschaft ergrif sie, und hielt sie fest.

Sie trieb ihn mit beyden verschränkten Armen auf seine Brust mit aller Gewalt von sich: »Lockmann, Lockmann! Würdiger, Vortreflicher! nichts Laffenmäßiges!«

Ihre Augen blitzten Gewitterzorn, und der Donner des furchtbarsten Einschlagens rollte vor seinen Ohren. Er mußte sie loslassen; doch hatt' er ihr einige Küsse auf Mund und Wangen gedrückt.

Sie blieb. Kaum war das Gewand, noch immer offen, nur wieder über die Schultern gezogen: so faßte sie seine Rechte mit ihrer Rechten, hielt sie warm und herzlich, und sprach, indeß er Entschuldigungen und Ueberfülle von Liebe stammelte, mit feyerlichem Ernst die Worte: »Freundschaft, wahre ächte Freundschaft bey jedem Wechsel des Glücks, diese sollen Sie von mir haben; und Traulichkeit, wenn Sie Sich ihrer werth machen, wie ich hoffe und wünsche; aber nichts[134] weiter. Befürchten Sie jedoch nicht, daß ich einem Andern so bald zu Theil werde. Die hundische Liebe, wenn ich das edle Wort mißbrauchen darf, hat wie eine Pest die ganze neuere Welt angesteckt, hemmt die schönsten Thaten, und erdrückt den Adlerflug himmlischer Geister. Wohl mir, wenn ich den Deinigen, wahrhaftig schöner junger Mann, davon retten kann! Zage nicht; der Lohn für diese Anstrengung wird allen, bald schalen, wie selbst die Ninons und die neuern Gedichte und Romane zeigen, welche ich kenne, gewöhnlichen Genuß übertreffen. Eine immer reine edle Jungfrau als Freundin am Herzen kannst Du noch einen schönen Strich durch das Leben machen, und mit erhabnen Melodien und Harmonien die Sterblichen bezaubern. Und damit Du überzeugst seyst, daß meine Worte die Wahrheit der innern Empfindung selbst sind: so empfange von mir diesen keuschen Kuß zum Siegel.«

So schloß sie ihn an sich, und ihre Seele hing an seinen Lippen, und ihr schöner jugendlicher Körper an dem seinigen, wie zu lauter verklärtem Geist geworden.

Sie drückte ihm noch einmal zärtlich die Hand, mit den Worten: »Freundschaft und Traulichkeit, aber nichts weiter! Nun bedenke, und überlege.« Und entwich.

Wenigstens hatte sie sich damit gut aus der Schlinge gezogen. Ein Richelieu würde die Gelegenheit, jedoch umsonst, besser zu gebrauchen gesucht haben. Es war der allergefährlichste Auftritt: die Gartenthür verriegelt, sie schon halb entkleidet, der Ort entlegen, sie völlig in seiner Gewalt. Vielleicht sah sie dieß alles, gab gleich gute Worte; sonst würd' er wahrscheinlich sie so geschwind so weit nicht gebracht haben; und entschlüpfte.

Erstaunt, gerührt, betroffen, und doch nicht zufrieden mit sich, sprach[135] er, als sie mit behendem Gang ihm aus den Augen war: »Bloße Freundschaft; und eine Jungfrau mit solchem Körperbau, solchen Reizen in meinen Armen! Die Wirklichkeit der Fabel vom Tantalus. Jetzt so kalt und keusch wie der Mond: und diesen Morgen ganz Wollust, Gluth und Leidenschaft mit allem Verführerischen einer Armida? Unbegreiflich! Inzwischen hat sie doch Wahrheit gesagt; ich fühl' es, o ich fühl' es. Immer ein großer Schritt weiter; die Freundschaft wird das Eis zur Liebe aufthauen und schmelzen.«

Nachdem er dieß mit vielen Pausen für sich gesprochen, und überlegt hatte: fand er die Thür offen, und begab sich nach Hause; denn er mußte von diesem allen ausrasten.

Kaum hatte sie ihn fortgehen sehen: so war sie auch schon unten wieder im Garten; aber mehr um frische Luft zu schöpfen, als sich zu baden.

Sie setzte große Hofnung auf ihn: »Er ist gut und folgt, auch im Sturm der Leidenschaft; das hast du gesehen. Das letztre hättest du vielleicht nicht thun sollen! aber es war Zug der Natur; und doch es ist gut, auf einmal, ungekünstelt, rein und rund. Es wird alles leichter, edler und schöner.« Ihre Mutter allein lag ihr im Sinn.

Sie kam an die Wasservertiefung, betrachtete die Stelle des Auftrittes, und stand voll tiefer Empfindung und weiter Ahndung unbewegt eine lange Weile; eine wahre Minerva von Phidias. Endlich kleidete sie sich doch aus, warf sich hinein, und schwamm nur einigemal hinüber und herüber, herum, und stieg wieder heraus; kleidete sich an, und ging zurück.

Kaum eine halbe Stunde allein, ließ die Mutter sie rufen.

Welch ein neuer Auftritt![136]

Diese wandelte in ihrem Zimmer auf und ab, und empfing sie mit Blicken, die Unruhe und etwas Wichtiges anzeigten. Hildegard glaubte schon, ihr Eingang und Ausgang im Garten, und Lockmann nachher wäre von ihr bemerkt worden; mit reiner Seele war sie auf alles gefaßt.

»Liebe Tochter,« sprach die Mutter freundlich zu ihr, nachdem sie mit einander einigemal auf und ab gegangen waren, »Du hast nun alle Eigenschaften, eine vortrefliche Gattin zu werden, und einem Hauswesen wohl vorzustehen. Zwar bist Du noch jung; aber die Schönheit bey uns ist eine Blume, die bald vergeht, und welcher mancherley Gefahren drohen. Herr von Wolfseck, ein stattlicher Mann, von altem Adel, großem Reichthum und vielen Gütern, dessen Vater des Fürsten rechte Hand ist, verlangt Dich zu besitzen, und sich mit unsrer Familie zu verbinden. Die Fürstin unterstützt ihn, und hat gleich bey ihrer Ankunft mir den Antrag gethan, immer mit mir darüber gesprochen, und so eben geschrieben. Ich habe alles wohl überlegt, Dein Bestes darin gefunden, und thue den Antrag jetzt Dir; Dein seliger Vater selbst würde ihn billigen.«

»O nein, theure Mutter, das würd' er nicht!« versetzte Hildegard, indem sie die Rechte ihrer Mutter faßte, tief bewegt küßte, und an ihr Herz drückte.

»Ich erkenne das alles, was Sie am Herrn von Wolfseck rühmen; aber er ist der Mann nicht, mich glücklich zu machen. Unsre Neigungen sind ganz verschieden. Und dann fühl' ich noch nicht den mindesten Trieb und Beruf in mir zu heurathen.

Lassen Sie mich, liebe theure, verehrte Mutter, noch einige Zeit froh und vergnügt, wie ich bin. Bey allen andern Dingen, nur in diesem wichtigsten aller Punkte nicht, kann ich Ihnen leicht gehorchen.«[137]

»Prüfe Dein Herz,« antwortete sie, mütterlich gerührt und erschrocken, »ob es nicht bloße vorgefaßte Meinung bey Deinem gewöhnlichen Zeitvertreibe sey, dem Du auch gewiß nichts desto weniger ungestört wirst nachhängen können; und sieh Dich mit Deinem guten Verstand um. Bey unserm Stande sind solche Gelegenheiten selten. Herr von Wolfseck hat das nicht, was beym ersten Anblick und Umgang jungen Frauenzimmern gefällt; jedoch gründliche Kenntnisse in seinem Fache, um als ein Mann von Ehre zu bestehen. Und die andern Vortheile überwiegen solche Kleinigkeiten weit.«

»O liebe Mutter, liebe Mutter«, sagte sie, warf sich vor ihr nieder, und umfaßte ihre Knie, »dringen Sie damit nicht in mich; es ist mir unmöglich. In Ketten und Banden könnt' ich meine Einwilligung dazu nicht geben.«

Frau von Hohenthal hob sie auf, und schloß sie erweicht an ihren Busen. »Wie kannst Du solche Worte brauchen gegen Deine gute Mutter, deren Augapfel Du bist!«

Hildegard bat um Vergebung, daß sie nicht länger bleiben könne, und begab sich auf ihr Zimmer.

Sie schlief die ganze Nacht nicht. Den andern Morgen ließ sie zum Frühstück sagen: sie befinde sich nicht wohl, und könne nicht hinunter.

Mutter und Bruder waren gleich bey ihr. Sie lag noch im Bette; die Wangen glühten, und ihr Puls ging voll und heftig. Man schickte schleunig zum Arzte; die Mutter rang die Hände.

Er kam geschwind; es war der Leibarzt des Fürsten, ein bejahrter Mann, mit Namen Schweiger. Nach Erkundigung, daß sie noch nie krank, und immer gesund und stark gewesen wäre: schrieb er die Krankheit einer Verkältung zu; und dachte bey sich, indem er scharf[138] in die Sonne ihrer Augen blickte, und Verlegenheit bemerkte, vielleicht heftiger Gemüthsbewegung.

Und so wars auch. Nach den verschiednen Anstrengungen des gestrigen Tages war ihr das Quellenbad höchst schädlich. Er verschrieb die gehörigen Mittel, empfahl Ruhe; und versprach baldige Wiederherstellung.

Unterdessen kam Lockmann, um sie und ihren Bruder zu bitten, bey der Probe des Konzerts zu seyn, wo sie die Scenen der Armida nur mit halber Stimme singen möchte.

Wie erschrak er, als der Bediente ihm sagte: das Fräulein sey die Nacht plötzlich krank geworden, und der Arzt bey ihr. Er besann sich, was für ihn zu thun wäre; und ging zu Feyerabenden. Bey diesem traf er Hildegards Kammerjungfer, welcher er nur einigemal begegnet war, die er aber noch nicht gesprochen hatte; ein Londoner Mädchen, wohl gebildet und wohl gewachsen, fast eben so jung als Hildegard, mit einem Auge voll Geist, und Leben in jeder Bewegung. Sie hieß Fanny, sprach schon fertig Deutsch, und sagte: es sey weiter nichts, als eine starke Verkältung. Hohenthal kam dazu, und versicherte dasselbe. Etwas getröstet ging Lockmann fort, und begegnete auf der Treppe der Mutter, welche das nämliche wiederhohlte; aber mit einer Thräne im Auge bekümmert aussah.

Er probirte mit seinen Leuten aus der Armida, so viel ohne die Hauptperson zu probiren war; und dann inzwischen Symphonien von Pugnani, von Haydn, und leichte Scenen von neuern Meistern für seine Sängerinnen und Sänger zu einem gewöhnlichen Konzerte; hatte aber bey der ganzen Probe gar nicht die gewöhnliche Gegenwart des Geistes.

[139] Hildegard, welche fühlte, daß es nöthig war, nahm ohne Ueberredung von den verordneten Arzeneymitteln ein, und fiel, unter immerwährender Ueberlegung der Verbindung, die mit aller Gewalt sie bestürmen, und in jeder Rücksicht ihr Verdruß verursachen würde, in einen unruhigen Schlaf, welcher der Absicht gemäß mehrere Stunden dauerte.

Der Arzt, ein Mann, wie sie seyn sollen, ein philosophischer Kopf aus der Schule des Hippokrates, blieb im Hause, und suchte während der Zeit alles zu erforschen; welches ihm aber nicht gelang. Er erfuhr nur von ihrem Bruder, daß sie gestern Morgen, wie so oft, Musik gemacht, wobey sie sich etwas mehr angegriffen habe. Eine Hauptperson fischte er doch gut heraus, den jungen schönen Kapellmeister; hinter die andern Gänge und Wege und Vorfälle konnt' er aber nicht kommen.

Er befühlte darnach den Puls, fand das Fieber etwas vermindert; beobachtete das Athemhohlen, und ihre Gesichtszüge. Einige Minuten mit ihr allein, sprach er ihr zu, als ein Mann von Charakter, der Zutrauen verdient: sie möchte alle Gedanken zu entfernen, und alle Gemüthsbewegungen zu stillen suchen, die sie vielleicht beunruhigten, durch andre, die ihr gewöhnlich Vergnügen machten, und ihre blühende Jugend und Schönheit nicht verderben. Es that ihr wohl, daß er ihr dieß allein sagte; sie antwortete ihm freundlich und gefällig: sie hoffe, unter Besorgung eines so würdigen Mannes bald wieder hergestellt zu seyn.

Er bat sie, nun aufzustehen; verordnete, was sie essen und trinken sollte. Nach Tische könne sie leichte Musik machen, sich aus ihrem liebsten Buche etwas vorlesen lassen, mit ihren angenehmsten Freunden scherzen; und so möchte sie sich des Schlafs bis zur[140] gewöhnlichen Zeit erwehren. Gegen Abend werd' er wieder aufwarten, und mit Vergnügen vernehmen, daß sie sich viel besser befinde. Bey allem, was die Gesundheit des Menschen angreife, hebe man gleich anfangs das Uebel am leichtesten mit Verstand und Klugheit.

Sie versprach mit Hand und Mund, ihm in allem zu folgen.

Es kamen öftere Boten von dem Fürsten und der Fürstin, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

Sie stand auf, ging auf ihrem Zimmer herum, aß dann ein wenig; und ihre Mutter blieb endlich bey ihr allein, und sagte: »Ich erstaune, wenn das, wovon wir gestern mit einander gesprochen haben, zum Theil Schuld an Deiner Krankheit seyn sollte. Wer wird Dich zwingen wollen! Man spricht nur fürs erste dar über, und giebt hin und wieder seine Gründe an.«

Hildegard antwortete: »Herr von Wolfseck hat seine Sachen gleich mit Form und Ceremonie angefangen. Hätt' er sich vorher beworben, meine Gesinnungen in Rücksicht seiner auszuforschen, so würd' er leicht erfahren haben, daß er wenigstens nicht für mich ist. Aber die Fürstin voran zu schicken! Die schlechtesten Ehen unter allen sind gewöhnlich die Hofehen. Doch, liebe Mutter, lassen Sie uns jetzt nicht mehr davon reden; es greift meinen Kopf an.«

»Liebe Tochter, das wollen wir auch nicht; nur versichre ich Dir, daß Du hierüber meinetwegen ohne Sorge seyn kannst. Sey wieder heiter und gutes Muthes.«

Hand und Mund küßte Hildegard ihr für diese erfreulichen Worte; denn sie enthielten alles, was sie verlangte. »O gute zärtliche Mutter, wie ich Sie liebe!«

Die Frau von Lupfen trat darüber herein: »Du krank? Du Göttin[141] der Gesundheit, Hildegard? und so plötzlich? Es ist nicht möglich!«

»Wer sollte nicht krank werden! Der fatale lange Wolfseck will mich heurathen, und hat die Fürstin deßwegen an meine Mutter abgeschickt; weil weder er noch sie den Muth hatten, mir den Antrag ins Gesicht zu machen. Ihr Sinn war klüger als ihr Verstand, und versagte, wie ich oft bemerkte, beyden hierüber die Rede. Doch Verschwiegenheit! wir kennen uns. Auch Deinem Manne davon keine Sylbe.«

Der Bruder kam über den Musiksaal herbey, und spielte auf der Geige ein Solo für eine Bacchantin aus einem neuen Ballet, die nettesten Läufe, Staccato, mit so gewaltigem Bogen, wie Cramer selbst; wiederhohlt' es, immer reizender verändert, und sagte: »Singen sollst Du heute nicht, zartes Kind, aber vielleicht Deine Verkältung wieder aus dem Leibe tanzen.«

Von dem gestrigen kalten Bade hatte die Kluge noch nicht ein Wort gesprochen. Niemand kannte die Krankheit besser, als sie; am wenigsten Lockmann, der sich zu Hause die wunderlichsten Vorstellungen davon machte.

»Was das für ein reizbares Geschöpf ist! von einer Umarmung so krank zu werden, daß das ganze Haus in Allarm kommt, man den Doctor hohlt, und alles trauert. Es ist eben ein genialisches Wesen, bey welchem von einem einzigen Gefühl, einem Gedanken alles andre, Tage lang, verschlungen wird, und zuweilen Blut und Lebensgeister in die heftigste Wallung gerathen. Etwas schwärmerisch, aber edel und liebenswürdig, gewiß, o gewiß! im höchsten Grade.«

Man ging in den Musiksaal; und ihr Bruder und die Frau von Lupfen suchten sie mit kurzweiligen Dingen aufzuheitern und zu[142] zerstreuen. Erst spielten sie muntre Tänze voll Rhythmus von glänzenden Bällen zu London, wo auch sie von der Partie gewesen, und vor andern war bewundert worden.

Dann sangen sie Italiänische verliebte Kantaten, wechselsweise, sie den Sopran, er den Alt, mit Petrarchischen kläglichen Texten, welche beyder ausgeartete Stimmen zu Scenen einer Opera buffa machten. Es waren zwar die berühmten von Porpora, einem der größten Stifter der Schule von Neapel; aber nun so altväterisch in Melodie und Begleitung, daß Hildegard sich nicht erwehren konnte zu denken, es sänge sie ein Greis von siebenzig Jahren einem jungen Mädchen; oder, was noch ärger ist, ein Kastrat von sechzig bis siebenzig Jahren.

Darauf sangen sie doch zusammen einige neuere höchst schöne Duetten und Terzetten und Kanons.

Und nun erzählten sie lustige Anekdoten; einige damals ganz neu. Zum Beyspiel nur eine von der Frau von Lupfen, die bey der Begebenheit zugegen war.

»In einer benachbarten Residenz ward die letzte Charwoche in der Schloßkirche das Miserere von Sarti aufgeführt. Unten standen eine Menge Offiziere in Parade. Oben über diesen hatte der alte Staatsminister B** seinen Stand, welcher, schon an und für sich eine komische Figur, immer bey dem Gottesdienst in einem Pohlnischen Gebetbuche ziem lich laut zu lesen pflegte. Den vorigen Tag war in die Loge mit Fenstern ein schlafender Pudel eingesperrt worden. Als B** die Thür aufschloß, hineintrat, und sie wieder zumachte, bemerkte er mit seinem kurzen Gesicht diesen nicht; öfnete das Fenster und fing, als man mit der Musik in der Mitte war, und die feyerlichste Stille herrschte, an zu lesen. Kaum hörte der Pudel die Zauberformeln[143] der ungewohnten Sprache: so that er vor Angst einen Satz zum Fenster hinaus, und sprang, schwarz wie der exorzisirte Satanas, den Offizieren auf die gepuderten Köpft. Dem Minister fiel vor Schrecken die Brille von der Nase, der Hof erstaunte, die Helden fluchten, und die ganze fromme Versammlung brach aus in ein allgemeines Gelächter.«

»Zum Glück hatte der Pudel nur das Steife einiger Locken zertreten, sich selbst keinen Schaden gethan, und lief schreyend davon.«

Gegen Abend kam der Arzt, fand Hildegarden lebhaft und aufgeräumt, aber den Puls noch immer unregelmäßig, und das Fieber etwas stärker. Er verordnete, mit ein wenig Veränderung, dieselben Mittel; und sagte: so bald sie darauf Schlaf spüre, möchte sie sich zu Bette legen. Eine ruhige Nacht, mit der Heiterkeit in der Seele, und der junge Stamm von Gesundheit werde das Uebel gewaltig verdrängen.

Lockmann zauderte um das Haus herum, bis er, wie von ungefähr auf der Straße, von einem Bedienten erfuhr, daß es besser stände.

Den folgenden Morgen befand sie sich so gut, wie vollkommen wieder hergestellt; brauchte keine Arzeney mehr, und nahm ihre gewöhnlichen Beschäftigungen wieder vor.

Gegen Abend machte die Mutter der Fürstin einen Besuch, und erzählte, was geschehen war. Es blieb nichts anders zu thun übrig, als dem Herrn von Wolfseck das Körbchen auf die feinste Weise beyzubringen, und den Verliebten von fernern Bemühungen und Zudringlichkeiten abzuhalten. »Die Fürstin habe nur ihre Gesinnungen sanft ausgeforscht; sie fühle sich noch zu jung, das Joch der Ehe bis jetzt überhaupt nicht für ihren freyen Nacken.«

Der Mutter von der Fürstin weg begegnete Lockmann, als er zum[144] Konzert ging, und vernahm zu seinem größten Vergnügen, daß Hildegard sich wieder vollkommen wohl befinde. Er hatt' es noch nicht gewagt, ihr unter die Augen zu kommen. Während der Zeit war er aber oft die Beschäftigung ihrer Gedanken.

Den andern Tag um Abendzeit ging er wieder zu ihr, mit dem Vorsatze, das reine, himmlische, genialische Wesen, so selten unter ihrem Geschlecht, zu schonen; und traf sie allein auf dem Musiksaal, an welchen ihre Zimmer stießen. Er erröthete, näherte sich schüchtern, küßte ihr bescheiden die Hand. Auch sie erröthete, überließ sie seinem zärtlichen Druck und sagte: »Ohne den geschickten Herrn Schweiger und meine gute Mutter hätt' ich vielleicht gefährlich krank werden können. Gottlob, daß es vorbey ist!«

Er freute sich darüber unaussprechlich; scheute sich aber, nach der Ursache der Krankheit zu forschen.

»Lieber Freund, fuhr sie fort, doch dieß unter uns allein! denn die Welt versteht es nicht, und braucht es nicht zu wissen. Was bringen Sie hier mit sich?«

Die Mutter hatte ihn über die Straße kommen sehen, und die Kammerjungfer unten ihm sagen hören: »Mein Fräulein ist auf dem Musiksaal. Gehen Sie nur hinauf, Herr Kapellmeister; die Verkältung ist ganz vorbey, und sie so gesund und munter, wie vorher.«

Der natürliche Gedanke war ihr so gut wie Schweigern aufgestiegen, daß der schöne junge Mann, von Charakter, Kunst und Wissenschaft so ganz für sie, wahrscheinlich mehr Eindruck auf ihr Herz gemacht, als noch je ein andrer, besonders da sie in London mehr Zerstreuung gehabt hätte, und nach dem Tod ihres Vaters nun auch ein Jahr älter geworden wäre. Was sie bey ihrer Hildegard[145] noch nie that, that sie jetzt; sie schlich ihm nach, und wollte wenigstens die erste Zusammenkunft nach der Krankheit belauschen.

Für die letztern Worte Hildegards aber war sie zu spät gekommen; sie hörte nur an der angelehnten Thür, was Lockmann antwortete.

»Vorgestern Morgens war ich hier, Sie mit Ihrem Herrn Bruder zur Probe des zweyten Akts der Armida zu bitten. Diese heben wir also für das nächste Konzert auf, wenn Sie Lust finden. Für heute hab' ich etwas Leichtes mitgenommen, wobey Sie gar nicht zu singen brauchen; etwas für die Hofsängerinnen und Hofsänger; und was Sie wahrscheinlich beynahe schon vergessen haben: la buona figliola von Piccini

»Die Opera buffa ist ganz zu Neapel einheimisch, besonders unter dem jetzigen König, der sie liebt; und wird über die Alpen hin fast immer unglücklich verpflanzt.«

»Die Operetten der Franzosen stehen an entschiednem Charakter weit unter ihr, und sind meistens bloß kleine rührende Komödien, Mitteldinge zwischen Tragischem und Komischem. Die Opera buffa soll weiter nichts als Farce, Spaßmacherey seyn, die zuweilen verzweifelt ins Ernsthafte komisch übergeht; Karrikaturen, wo viel Talent dazu gehört, den Charakter der Natur beyzubehalten. Schade, daß die Neapolitaner noch keinen Moliere dafür haben! mit dem Aristophanes der größte komische Genius aller Zeiten.«

»Die Franzosen und auch die Deutschen möchten gern das edle Komische in Musik haben; aber dieses schickt sich selten dazu, es ist zu wenig Leidenschaft da. Witz und Ränke gehören in das Reich des Verstandes und der Feinheit; die Musik verlangt Abwechslung von Tönen, und die Gescheidtheit verträgt nur die meistens monotone gewöhnliche Aussprache.«

[146] Hildegard unterbrach ihn hier, und sagte: »Man scheint dieß so gefühlt zu haben, daß man das Recitativ ganz weggelassen, und nur Arien, Finalen und Chöre beybehalten hat.«

Er fuhr fort: »Unnatürlich genug! Die Italiäner beobachten die Einheit, und zeigen dadurch ein weit feineres Gefühl.«

»Die vornehmen gesitteten Leute, welche Spaßmacher nicht leiden können, sollten in keine Opera buffa gehen.«

»So bald die Leidenschaften nicht mehr schicklich sind in den Augen der Vernunft, werden sie komisch, ihr Vortrag mag auch noch so ernsthaft seyn. Ein häßlicher kleiner Kerl Scarron, das Z, und die hohe junge Schönheit Maintenon machen allezeit ein komisches Paar; das geistreichste Betragen auf seiner, und das sittsamste auf ihrer Seite können das Komische nicht wegbringen, sondern erheben es vielmehr. (Dieß schoß der guten Mutter auf.) Ein eifersüchtiger Alter, eine verliebte Alte, eine koquette Alte sind Personen der Opera buffa; ein Don Quischott, der allein eine Armee angreift. Das Lächerliche sowohl in der Poesie als Musik entsteht gewöhnlich durch Kontrast.«

»Die neuere Opera buffa hat durch Erfindung der Finalen eine ganz eigne Form erhalten. Sie sind eine Nachahmung der Katastrophen in den tragischen Opern; das heroisch-Furchtbare ist menschlich und gesprächig geworden; das schreckliche Tragische gar süß gemildert. Die Finalen von Sarti, Paesiello und Cimarosa sind Meisterstücke. Die Form ist so glücklich schön, daß man nun schon viele Jahre nach einander sich an derselben nicht satt hören kann.«

»Die ersten bekannten Finalen dieser Art sind eben in der buona figliola von Piccini; welcher sie von einem unbedeutenden Palermitaner aufgenommen haben soll.«[147]

»Der Stoff zu dieser Operette ist etwas Gewöhnliches, und es giebt viel bessere ältere Texte. Das gute Mädchen ist ein Findling, dient als Gärtnerin; der Marchese della Conchiglia verliebt sich in sie, und will sie heurathen. Seine Schwester ist mit dem Cavaliere Armidoro versprochen, welcher deßwegen die Ehe rückgängig machen, will. Sie wird also weggebracht; durch einen Deutschen Soldaten jedoch dabey bekannt, daß sie die Tochter eines Deutschen Obersten ist, die während des Kriegs in Italien verloren wurde; und alles läuft glücklich ab.«

»Paoluccia, die Kammerjungfer der Marchesin, und eine Bäuerin Sandrina machen die Intriguen; ein Bauer Mengotto den Liebhaber von ihr; und das gute Kind wird auf mancherley Weise gefoppt und verfolgt.«

»Der Gang des Stücks ist ziemlich gut gehalten; das Ganze aber mehr naiv als komisch; der Deutsche Soldat allein niedrig komischer Charakter. Sonst springt keine ächt komische Situazion hervor. Kurz, das Gedicht ist ein ziemlich ordentliches mittelmäßiges Werk, und zeigt wenig von komischem Genie. Schade, daß die Musik dazu unter die ersten Hauptwerke der Opera buffa gehört!«

»Piccini schreibt einen guten komischen Styl. Muster davon sind hier im ersten Akt die Arie des Marchese E pur bella la Cecchina, mi fa tutto giubilar. Und Muster zugleich des Naiven: Una povera ragazza, padre e madre che non a, die Arie der Cecchina. Hauptsächlich aber das Quintett, oder Finale.«

»Wenn dieß das erste, und Piccini der Erfinder dieser Form ist: so hat er's gleich sehr weit gebracht; denn nach ihm ist nur Abwechslung dazu gekommen.«

»Cecchina fängt an: Vo cercando e non ritrovo la mia pace e il[148] mio conforto, che per tutto meco porto una spina in mezzo al cor.«

»Aber gewiß hat man die Form von den Quintetten, Quartetten der Opera seria entlehnt, und nur komischen Styl hinzugebracht. Höchlich schön und ergötzend bleibt sie immer, und übertrift an Mannigfaltigkeit die Chöre.«

»Im zweyten Akt

hat die Arie des Deutschen, Tagliaferro, Charakter, und macht Spaß auf dem Theater mit den Instrumenten. Viel besser, rund und vortreflich ist die Erzählung der Paoluccia und Sandrina: per il buco della chiave.«

»Cecchina hat schöne Arien, die aber nicht ins komische Fach gehören; als Vieni il mio seno di duol ripieno dolce riposo a consolar16. So wie auch im ersten Akt die Lucinde. Dieß giebt dem Ganzen eine gute Mannigfaltigkeit.«

»Das Quintett Si Signora di la sù si è veduto che quagiù col Soldato fortunato si badava a divertir, mag zu seiner Zeit sehr schön gewesen seyn; jetzt ist vieles zu gemein geworden. Hier gehört es zur Erfindung der neuen Form.«

»Noch ist das Duett schön und dramatisch zwischen dem Marchesen und der Cecchina, wo alles entdeckt wird: la Baronessa, amabile Idolo mio, sei tu. Und das kleine Quintett, womit sich das Stück schließt.«

Lockmann hatte von Verschiednem bey der Erklärung das Thema auf dem Klavier angegeben, und dazu gesungen.

Hildegard sagte nun: »Ein Paar Arien der Cecchina, die mir außerordentlich gefallen, möcht' ich wohl noch singen. Erlauben Sie,[149] daß ich meinen Bruder rufe und Feyerabenden, mich zu begleiten. Dann wollen wir den Untergang der Sonne im Garten genießen.«

»Das wird mir große Freude machen;« versetzte Lockmann.

Die Mutter hatte bis jetzt zugehört, zum Theil auch gesehen, und begab sich weg, beschämt über ihren Argwohn.

Hohenthal und Feyerabend kamen. Mit dem rührendsten und süßesten Ausdruck sang Hildegard zuletzt die Arie: Vieni il mio seno di duol ripieno dolce riposo a consolar; und beschloß: »Dieß wäre mir vorgestern vielleicht so gut gewesen, als das Recept des Herrn Schweiger. Göttliche Tonkunst, du bist die beste Arzeney der Seelen!«

Ihr Bruder und Feyerabend überhörten dieß, indem sie ihre Instrumente bey Seite legten; und Lockmannen quoll eine Thräne in die Augen, da er sich einbildete, daß dieß ihn beträfe.

Sie gingen in den Garten, wohin die Mutter folgte, sahen den prachtvollen Untergang der Sonne, welche die ganze Gegend mit ihrem Purpurlicht zu einem Eden überglänzte, hielten unter den Linden ein angenehmes Gespräch über die Gestade des Ozeans; und beym Weggehn erhaschte Lockmann noch, mit Hildegarden allein in der Dämmerung, einen freundschaftlichen Kuß, der unterwegs seinem Wesen einigermaaßen die angenehme friedliche Stimmung gab, welche sie verlangte.

Die folgenden Tage fing er an, mit Eifer, Feuer und Fülle, den ersten Akt des Achill in Skyros in Musik zu setzen. Hildegards Stimme leitete ihn immer bey der Hauptrolle, sie war sein Modell; und die kriegerischen Ausbrüche des jungen Helden schöpfte er dabey aus seinem eignen Herzen.

Ob er gleich der junge schöne Mann war, so hatte bis jetzt die volle[150] Leidenschaft der Liebe doch noch nicht in ihm geherrscht; lüsterne Weiber verführten ihn nur einigemal zu Venedig und Neapel, wie auf den Raub. Sinnenlust und weiter nichts. Die Vollkommne durchaus für Herz und Geist und Sinn war noch nicht erschienen; und der gewaltige Trieb, die höchsten Gipfel seiner Kunst zu ersteigen, besiegte alles. Hildegard allein fesselte ihn zuerst mit den unsichtbaren unzerreißlichen Ketten, sanft aber unwiderstehlich. Alles, was er nun begann und that, that er für sie.

Das nächste Konzert führten sie die vortreflichen Scenen aus der Armida des Jomelli auf. Lockmann hatte in einem gedruckten halben Bogen den Plan angegeben, und den Text der Scenen mit der Uebersetzung beygefügt. Hildegard erregte Bewunderung und Erstaunen; betrug sich aber dabey sehr anständig, und war bey weitem nicht die Armida bey der Probe auf ihrem Musiksaal. Der alte Reinhold wankte sehr in seiner Meinung, daß eine schöne Kastratenstimme alle weiblichen überträfe. Auch Lockmann ärntete als Rinald viel Lob ein. Allen fiel auf, wie wohl er sich für diese Armida schicke; am mehrsten aber der Fürstin und dem Herrn von Wolfseck. Dieser lernte nun bloße Höflichkeit von Gefälligkeit und Neigung besser unterscheiden. Fein, und aller äußern Bewegungen mächtig, stellte Hildegard sich gegen ihn, als ob in Rücksicht seiner gar nichts vorgegangen wäre. Er aber vermochte dieß nicht, und hielt sich anfangs in Entfernung; er hatte geglaubt, wie auch die Fürstin, sie würde als ein kluges Frauenzimmer die vortheilhafte Partie mit beyden Händen ergreifen. Zwar besaß ihr Bruder reiche Güter in Franken und der Pfalz, die von ehrlichen und verständigen Pächtern verwaltet wurden; aber die Schwester hatte darauf keinen Anspruch zu machen. Sie kannten ihren Charakter nicht, der sich in[151] dem freyen London ausbildete. Was Lockmannen betraf: so wußten sie nicht die geringste Spur; und beyde schienen lediglich mit ihrer Kunst beschäftigt. Selbst Schweigern verging sein Verdacht bey der leichten Genesung. Inzwischen entstand nun erst durch den Widerstand eigentliche Leidenschaft bey dem Herrn von Wolfseck; die Fürstin hatte ihm nach Hofsitte nicht alle Hofnung benommen, und ihn nur zurückgescheucht.

Diese war als Vorsteherin der weiblichen Geschäfte bey dem mißglückten Brautwerben empfindlich gereizt worden, und brachte bey dem kalten Lobe des angenehmen gesellschaftlichen Talents der Hildegard unvermerkt die Rede auf die Erziehung überhaupt, und zog den Hofmeister Feyerabend, der zugegen war, in Beyseyn des Fürsten und der Mutter, mit in das Gespräch, um an ihm dieser ihre Unzufriedenheit zu zeigen; sie hielt die ganze Krankheit der Hildegard für bloße Verstellung.

»Man klügelt jetzt so viel an der Erziehungskunst, daß die Eltern den Kindern bald werden gehorchen müssen; ich lobe mir die alte!« Dieß war nach einigen vorläufigen Bemerkungen der ziemlich bittre Ausfall.

Feyerabend antwortete: »Wenn Ihro Durchlaucht darunter vortreflich eingerichtete öffentliche Schulen verstehen, so war der selige Herr von Hohenthal ganz derselben Meinung: auch hat sein Sohn den öffentlichen Unterricht zu London genossen, und ich war mehr sein Gehülfe und Begleiter, als daß ich dessen Erziehung besonders und allein auf mich genommen hätte.«

»Das Wichtigste für den Menschen überhaupt ist Menschenkenntniß; denn der Mensch selbst bleibt doch der Hauptquell der Glückseligkeit für Menschen. Kinder können sie platterdings nicht besser erlangen,[152] als bey andern Kindern, die gleiche Neigungen und Bedürfnisse haben; die ältern Menschen können sie noch nicht fassen. Und so muß es immer stufenweise fortgehen, bis zu öffentlichen Aemtern, bey Frauenzimmern und Mannspersonen bis zur Vermählung. Wer den besten Mann, die beste Frau aussuchen will, muß erst viele andre kennen; sonst kann er sich leicht etwas weis machen lassen, und ist dann elend auf sein ganzes Leben.«

Die Mutter, ob sie gleich über die letzten Worte erschrak, hätte ihn doch küssen mögen für die Gegenpille, die er Ihro Durchlaucht so derb und rund in aller Unschuld beybrachte, daß sie vor widrigem Geschmack nicht wußte, wie sie die Lippen bewegen sollte. Da sie jedoch nichts sagte, so fuhr er ferner fort, um sich bey dieser Gelegenheit vielleicht zu empfehlen.

»Die öffentlichen Schulen bey uns haben nur den Fehler, (wenn auch ausgesucht vortrefliche Männer darin Unterricht ertheilen, welches bey manchen nicht immer der Fall seyn soll,) daß die Wissenschaften da zu sehr zerstückelt werden; früh Morgens um acht Uhr dieses, um neun Uhr jenes, um zehn Uhr wieder ganz etwas anders, u.s.w. Auf diese Weise kann nichts vollständig in einem Zug in die Seele kommen; kein vortreflicher Mann in irgend einem Fache ist es so geworden.«

»Dieser Fehler findet jedoch auch bey der gewöhnlichen Privaterziehung Statt. Die Meister geben ihre Lehren stundenweise; und lassen sich so dafür bezahlen. Der Sprachmeister geht diese Stunde dahin, die andre dorthin.«

»Ein Fehler unsrer Erziehung überhaupt ist, daß die Kinder mehr Worte als Sachen lernen. Wer Mann und Weib noch nicht kennt, wie soll der Geschichte verstehen und Nutzen daraus ziehen? Wer[153] noch nicht Meer, Gebirg und Thal, Lauf von irgend einem großen Strom, Ursprung der Quellen, vielleicht noch keinen Zimmermann und Maurer arbeiten sah, wie will der Geographie, Reisebeschreibungen verstehen? Wer weder Menschen noch Thiere und Pflanzen einigermaaßen kennt, wie will der vortreflich reden und schreiben lernen in irgend einer Sprache, wenn die Quelle der Beredtsamkeit und des guten Styls erfahrner Sinn und geübter Verstand ist?«

»Man soll Kinder lernen lassen, was sie lernen können. Das Wichtigste ist, Leibesübungen treiben, die sich für sie schicken; als tanzen, schwimmen, laufen, marschiren, exerziren, hungern, dursten, Hitze und Frost ausstehen, wachen; überhaupt den Körper lenken und bilden, und mit der Seele Gewalt darüber bekommen. Dieß war des seligen Herrn von Hohenthal Grundsatz. Und selbst unser Fräulein schwimmt trotz einem in Europa; und hat ihren schönen Körper dadurch abgehärtet.«

»Dann die Natur um sie herum kennen; und rechnen, Geometrie und zeichnen dabey. Die Elemente, so viel sie, und vielleicht wir alle, davon verstehen können; unser Sonnensystem, mathematische Geographie, unser Dutzend Fixsterne der ersten Größe; und dann erst die Geographie im Großen, und Wind und Wetter, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, Thiere, Pflanzen und Steine zur Nothdurft.«

»Und dann die andern Künste und Wissenschaften und Sprachen nach ihrer Bestimmung von Natur oder Stand.«

»Ferner ist noch ein Hauptfehler, daß man die Kinder mit Stunden überhäuft. Man läßt ihnen keine Zeit, sich selbst zum Urtheilen zu gewöhnen; und erstickt durch den zu frühzeitigen Wörterkram allen Trieb und Reiz.«[154]

»Was Religion und Theologie betrift, die leider in unsern Schulen die mehrste Zeit wegnimmt: so darf man mit Kindern darüber gar nicht räsonniren, sondern sie müssen ihren Morgen- und Abendsegen beten und in die Kirche gehen nach Landesgebrauch. Metaphysik, und das Schwerste derselben, ist wahrlich nicht für sie; und spotten über ältere sollen sie auch nicht. So wenig als möglich von Theologie; denn es bleiben doch bloße Worte für die Kleinen.«

Die Fürstin konnte nichts anders darauf antworten, so gern sie auch dem Freymüthigen den Kopf hätte waschen mögen, als: »Im Allgemeinen läßt sich so etwas wohl hören; aber die Ordnung, die Sie mir zu tadeln scheinen, ist bey der Erziehung die Hauptsache, man kann die Kinder nicht streng und frühzeitig genug dazu angewöhnen. Die Religion fertigen Sie gar zu kurz ab; und es ist gut, sie bey Zeiten gründlich zu verstehen.«

Feyerabend erwiederte: »Wenn Ihro Durchlaucht die gute Ordnung, oder die Ordnung nach der Natur der Dinge, meinen; so hab' ich mich vielleicht nur nicht deutlich genug ausgedrückt. Niemand kann mehr dafür seyn als ich. Und was die Religion betrift: so war es ganz auch meine Meinung, daß die Kinder das Wesentliche wissen sollen.«

Der Fürst legte sich dazwischen, und sagte: »Hohenthal wird auch fleißig die klassische Litteratur getrieben haben?«

Die Mutter antwortete: »Ich wünschte, daß Sie, gnädigster Herr, selbst einmal ihn prüfen möchten. Alles, was wir sagen, kann doch nur partheyisch lauten. Und so bitt' ich, wendete sie sich darauf zur Fürstin, mit gebührender Bescheidenheit um den höhern Unterricht einer so erhabnen Frau über ihr Geschlecht für meine Tochter.«

Darüber ging es zur Tafel. Herr von Wolfseck faßte doch den[155] Muth, Hildegarden wie gewöhnlich dahin zu führen, und sagte ihr einige aufgeraffte Worte über ihren Gesang. Sie begegnete ihm gerade so höflich wie sonst.

Die Rede kam bald auf das Vogelschießen, welches künftige Woche gehalten werden sollte. Hohenthal pries dieses Volksfest in Deutschland, und die vortrefliche Einrichtung des wöchentlichen Scheibenschießens mit Herrn von Lupfen. Man ging davon über auf den Zweykampf. Hierbey zeigte sich Herr von Wolfseck, und sagte:

»Was wird durch den Zweykampf entschieden? Nach der Vernunft platterdings nichts mehr, als wer der beste Fechter oder Pistolenschütze sey.«

»Wessen Ehre, vorzügliche Ehre, besteht darin? Die der Fechtmeister und Pistolenschützen. Auch die der Offiziere, Hauptleute, Generale, Edelleute?«

Hohenthal antwortete: »Vorzügliche Ehre? gewiß nicht. Es gehört bey diesen nur zur guten Erziehung, und ist theils nothwendig für ihre Laufbahn, daß jeder diese Kunst getrieben hat; und niemals wird verlangt, daß einer sie bis zur höchsten Vollkommenheit getrieben haben sollte, um wichtigere Eigenschaften dagegen zu vernachlässigen.«

Wolfseck erwiederte: »Wenn einer aus dieser Klasse von dem andern beleidigt worden ist, und denselben zum Zweykampf herausfordert, was will er dadurch erreichen? beweisen? Doch warlich nicht, daß er ein besserer Fechter, Pistolenschütze sey! sondern daß der andre ihn mit Unrecht beleidigt habe. Wird dieß durch den Erfolg entschieden? Auf keinen Fall; den einzigen ausgenommen, wenn die Beleidigung, das Unrecht darin bestände, daß der andre ihn einen schlechten Fechter, Pistolenschützen gescholten hätte. Was[156] will also die eingeführte Gewohnheit sagen? Der beste Fechter, der beste Pistolenschütze, oder der Stärkere kann thun, was er will, und er hat wahrscheinlich allezeit Recht.«

Herr von Wolfseck war hier in seinem Elemente, und sprach wie ein Buch. Hohenthal gab ihm hierin völlig Beyfall; und fügte noch hinzu:

»Um sich gegen die Frechheit, den Uebermuth dieser Gladiatoren zu schützen, wenn die Regierung nicht schützt und die Kultur der Gesellschaft, ist bey den gebildetern Nazionen, den Griechen, Römern, Italiänern, gegen die Barbaren der Meuchelmord entstanden.«

Er entwickelte diese Materie noch weiter.

»Man sagt: meine Ehre ist mir lieber als mein Leben. Deine Ehre besteht also darin, daß du die Tollheit hast, dich von einem Fechtmeister niederstoßen zu lassen?«

»Mit einem Fechtmeister braucht man sich nicht zu schlagen.«

»Also weißt du vorher, daß dein Gegner kein ausgelernter Fechter ist, oder daß du ihm in dieser Kunst überlegen bist? Bleibt dann, wenn du gewiß bist, ihn zu erlegen, der Zweykampf etwas anders als Mord? Wenn ein St. George einen ungeübten Deutschen Baron zu Paris vor sich hat, ist der Unterschied viel größer, als wenn einer den Dolch heimlich einem Unbewafneten, einem Weibe ins Herz stößt?«

»Heimlich? Dieß macht einen gewaltigen Unterschied! Der Junker kann die Ohrfeige einstecken, und braucht sich nicht zu schlagen.«

»So lang' er aber muß, wenn er in Gesellschaft, in eurer menschlichen Gesellschaft bleiben will? Ist dieß nicht auf alle Weise Mord?«

»Also Meuchelmord, Mord, Zweykampf ist nicht so sehr verschieden.«[157]

»Soll das Glück entscheiden, wie ungefähr auf dem Billard zwischen zwey gleich vortreflichen Spielern, oder zwey ganz ungeschickten: so ist der Würfel viel bequemer; und der Gewinner stoße den andern nie der.«

»Dieß mag wohl das Stärkste seyn, was sich gegen die eingeführte Sitte sagen läßt. Allein es ist nicht immer der Tod auf dem Spiel; sondern es soll oft nur ausgemacht werden, wer der Stärkere sey, und Ehrerbietung von dem andern zu fordern habe, wie in allen Künsten; und damit dieß nachdrücklicher eingeschärft werde: so nimmt man statt des Rappiers den blanken Degen. Ein offenbarer Krieg, nur zwischen Zweyen. Beym Pistolenschießen ist er zwischen zwey vortreflichen Schützen jedoch ein völliges Würfelspiel; wer den ersten Schuß hat, erlegt den andern. Und dieß sollte nie gestattet werden.«

»Mit dem Degen ist der Zweykampf aber oft nur Kampf, wie zwischen Stieren und Hirschen; man sucht dem andern nur ein wenig das hitzige Blut abzuzapfen. Dergleichen Sachen können nicht wohl vor Gerichten ausgemacht werden; und auch bey andern läßt es ein gewisser edler Celtischer Stolz nicht zu, daß Philister entscheiden dürfen, wie ich gerade Manches empfinden und darüber denken soll. Unsre Stärke äußert sich nun einmal mit Degen und Schießgewehr, und nicht mehr mit Prügeln, Ringen und Fauststößen. Wer sich selbst nicht vertheidigt, vertheidigt schwerlich auch mit Gefahr seines Lebens Vaterland oder das Recht seines Fürsten; und es zeigt allemal wenig Gefühl ursprünglicher Vortreflichkeit an, wenn man den Tod allzusehr scheuet, und seinen Balg allzusehr schont.«

»Wer das Recht hat, einen Degen zu tragen, mit dem muß man sich auch schlagen. Wer in einer Gesellschaft leben will, muß sich[158] nach den eingeführten Gewohnheiten richten, oder so wenig Neigung zur Geselligkeit haben, um sich von ihr verachten lassen zu können.«

»Ferner, wer das Recht haben will, einen Degen zu tragen, muß ihn auch zu gebrauchen wissen; um dieß zu zeigen, trägt er ihn. Wer nicht Griechisch lesen kann, braucht keine prächtige Ausgabe des Homer in seiner Handbibliothek zu haben; wenigstens darf er nicht damit prahlen.«

»Man soll die Leute kennen, mit denen man umgeht, und umgehen muß. Offiziere, Edelleute, die mit einander leben, sollen immer wissen, welches die geschicktesten sind im Fechten und Pistolenschießen, und sich in Acht nehmen, diese zu beleidigen.«

»Kriegerische Stärke behauptet immer den ersten Rang; denn sie ist zur Erhaltung die nothwendigste.«

»Wenn sich ein Mensch aber darauf verläßt, und muthwillig und frech Unschuldige beleidigt, verwundet und tödtet: dann werden sich mehrere bald gegen ihn verschwören, bis endlich Meuchelmord erfolgt, wo die Regierung nicht schützen kann. Oder man schickt einen stärkern, ausgelernten Fechtmeister unbekannt über ihn, wie in Frankreich geschieht; und vertilgt ihn aus der Gesellschaft.«

»Bey einem Volke, ja bey Ständen, wo der Zweykampf nicht im Gebrauch ist, herrschen auch grobe Sitten. Die berühmten Athenienser, Philosophen, Redner, Dichter, und noch zuweilen unsre Gelehrten, schimpfen sich einander wie die Sachsenhäuser. Die Messerstiche machen die heutigen Römer zu den feinsten Gesellschaftern. Und die Vernunft gewinnt dabey; man geräth nicht ins Wilde, die Leidenschaft wird im Zügel gehalten.«

Der Fürst antwortete auf dieses alles: »Ich liebe das jugendliche[159] Feuer, und schätze zugleich die Beredtsamkeit, womit Sie die Sitte Ihres Standes zu vertheidigen suchen. Aber in einem wohlgeordneten Staate darf kein Mitglied das Leben eines andern angreifen; besonders wegen Kleinigkeiten und Zänkereyen, wie meistens der Fall ist. Dieses Uebel ist uns noch aus den Faustrechtszeiten übrig, wo Ritter und Räuber unumschränkt und im Stande der Natur zu seyn wähnten.«

»Das Gelindeste, was man thun kann, ist, daß man bey sonst vortreflichen Männern, die das noch nicht ausgerottete Vorurtheil von Schande zwingt, sich so zu vertheidigen, zuweilen durch die Finger sieht.«

Hohenthal machte Miene, noch etwas, wahrscheinlich zum Lobe des Fürsten, darauf zu erwiedern; aber die Mutter winkte ihm zu schweigen; und so sprach man gleich von andern Dingen. Jedoch gefiel den mehrsten, besonders den Damen, die sich die Ritterzeiten gar reizend vorstellen, was er gesagt hatte.

Lockmann setzte einen neuen Marsch für die Schützengesellschaft und Jäger, worüber sie großen Jubel bezeigten; und suchte unter seinen alten Sachen Duetten für Waldhörner, Quartetten, Quintetten und Sextetten für mehrere blasende Instrumente hervor.

Montags Nachmittags zog man in aller Pracht aus.

Der Schießplatz war in einer angenehmen Gegend von den Bächen umflossen, und mit hohen Bäumen eingefaßt, der Sicherheit wegen beynah eine halbe Stunde weit; die Vogelstange stand auf einer Anhöhe. Der Fürst that in Person den ersten Schuß, und traf so glücklich, daß der Reichsapfel stürzte. Die Damen schmückten das Fest, und einige kamen zu Pferde, Hildegard mit ihrem Bruder heroisch und reizend auf zwey raschen schönen Engländern, sie auf[160] einem milchweißen Rammeskopp, er auf einem stolzen Rappen. Sie wurden von Trompeten und Pauken bewillkommt, womit Hörner und Klarinetten freudig abwechselten. Der Himmel war mit einem dünnen Gewölk überzogen, welches vom Donner der Büchsen bald aus einander ging, und den blauen Aether zeigte.

Aus der ganzen Gegend herum hatten sich Men schen herbeygesammelt. Buden mit allerley kostbaren Sachen waren aufgeschlagen. In allen Ecken Spiel und Tanz und Gelag. Manches schöne Kind in der Nachbarschaft entdeckte man hier zuerst. Die ganze liebenswürdige Geselligkeit des Menschen erschien bey Lust und Vergnügen.

Der Fürst und die Fürstin und Herr von Lupfen hatten ansehnliche Geschenke ausgesetzt.

Dann schossen zwey Offiziere die Krallen ab; gegen Abend Hohenthal den rechten Flügel; und dem Kapellmeister sprach man auf der Scheibe wenigstens den zweyten Preis zu.

Den andern Morgen wurde da herrlich gefrühstückt, und weiter fort geschossen; Musik gemacht, Preise gewonnen, gesotten, gekocht, gebraten, und geschmaust, Andenken eingehandelt, gespielt, getanzt und gezecht, erzählt, geküßt, und gelacht, bis am Abend der Körper des Vogels nach langem Wackeln und Täuschungen von einem Kernschuß endlich abfiel, und unter allgemeinem Jauchzen die Höhe herabrollte. Eine Stimme rief der andern Katt zu; Katt, der junge geschickte Jäger aus dem Hennebergischen, im Dienst des Herrn von Lupfen, that den Schuß für den kleinen Junker Wilhelm.

Man behängte ihn sogleich in dessen Namen als König mit der Pracht der Schilde. Die Trompete schmetterte das Zeichen zum Einzug; und nachdem alle sich einfanden, erscholl feyerlich froh der[161] Marsch. Man schritt in muthiger Heldenreihe voran, und so vom jubelnden Volk auf beyden Seiten und vorn und hinten umgeben, den nur zu kurzen Weg im Triumph wieder in den Ort, zum nächtlichen Schmaus und Ball.

Den folgenden Abend ging es in eben dem lustigen Tone bey der Buona figliola im Konzert fort, von welcher Lockmann das Beste aufführte. Die schöne junge Madam Ewald machte die Cecchina treflich, und eben so die Demoisellen Busch und Löffler die Paoluccia und Sandrina; Zorn den Tagliaferro meisterlich. Das Stück war schon die vorige Woche probirt worden, und sie hatten es während der Zeit so einstudirt, als ob sie es auf einem Theater von Neapel spielen sollten. Hildegard sang diesesmal nicht mit, theilte aber reichlich Lob aus, besonders der Ewald und dem Zorn. Der Fürst kannte das Stück schon, und hatte besonders an den Finalen große Freude, so wie alle.

Während des Zwischenraums vor dem zweyten Akt wollt' er den jungen Hohenthal über seine Studien versuchen; er fing gleich mit der Römischen Litteratur an, und den Nachrichten Cäsars über den Gallischen und bürgerlichen Krieg, die er am besten kannte.

Der edle Jüngling hatte sie mehr als einmal mit vieler Aufmerksamkeit und Ueberlegung gelesen; und sagte: »Bey ihm kann man recht die Philosophie des Kriegs studiren. Er ist zwar nur der einzige unter den Römischen Schriftstellern dafür: aber an ihm und dem Feldzuge Xenophons, meinem liebsten Griechischen Buche, findet man genug zu denken.«

Der Fürst ging ins Besondre; es wäre äußerst anziehend, die Schweizer, Gallier und unsre Urväter daraus kennen zu lernen.[162] Zum Beyspiel gleich Anfangs den festen Charakter der Schweizer und ihre Beharrlichkeit.

»Aber auch Blindheit und Verwegenheit, versetzte der Jüngling. Bey der erstaunlichen Mauer zu Genf führten sie sich zwar ehrlich aber dumm auf. Eben so unvorsichtig lassen sie sich an der Saone schlagen; ihn darauf mit aller Bequemlichkeit über den Fluß gehen; und bekümmern sich weiter in ihrem Marsche weder um hinten, noch vorn, und auf den Seiten und oben und unten. Gewiß ein höchst tapferes, aber auch dummes und trotziges Volk; ich glaube, die Wilden in Amerika streiten mit mehr Klugheit.«

»Welch ein unendlich höherer Mensch ist Cäsar gegen sie in allem! Welche erstaunliche Thätigkeit, eigne Beständigkeit, sich auf Niemand anders zu verlassen, Menschenkenntniß, Geschwindigkeit in der Ausführung, Kühnheit und Klugheit, immer nur das Ziel vor Augen zu haben; ob er gleich bey dieser er sten Campagne sich auch wohl ein paarmal übereilte!«

Der alte Krieger mußte über die letztern Worte lächeln; doch hörte er ihm mit Lust zu, und fuhr dann ferner fort: »Für die Franzosen ist Cäsar nur ganz klassisch.«

»Wenn sie ihn fort lesen, versetzte Hohenthal, so werden sie nie einen mächtigern zu Hülfe rufen. Das kriegerische Genie Cäsars blickt hier immer mehr hervor; wie ein Fechter gerade das Fleckchen zu bemerken, den wesentlichen Punkt, auf den loszugehen ist. Beym Ariovist, der ohne Vergleich klüger war als die Schweizer, verpaßt er ihn einmal, und erzählt es ehrlich für diejenigen, welche durchsehen. Sein Styl ist nachlässig, wie ein großer Mann eben etwas für sich aufschreibt.«

»Es ist schön, wie er von allem Kundschaft einzieht, seine Feinde so[163] recht studirt, nie verachtet, seine Läger und die vortheilhaftesten Plätze zu Schlachten durchaus so vortreflich wählt, bey den größten Gefahren nie die Thätigkeit verliert, immer die kälteste Gegenwart des Geistes behält; und keine tapfre That seiner Leute, die er alle kannte, gut gezogen hatte, und mit denen er sich nichts für zu schwer hielt, unbelobt läßt.«

»Grausam war er gewiß einigemal gegen die Deutschen, aber noch mehr gegen die Gallier, und verbreitete oft mit Feuer und Schwert Schrecken und Verwüstung. Wer es tadelt, bedenke, daß die Römer das Siegen am besten verstanden, und so die Welt bezwungen haben; und überlege Cäsars Schilderung der Gallier, denen noch jetzt die Franzosen zum Verwundern gleichen. Wer anders verfährt, kann zwar ein besserer moralischer Mensch seyn; aber der Erfolg wird zeigen, ob auch so Held und Sieger.«

»Unter den barbarischen Nazionen zeichneten sich die Britten schon damals vorzüglich durch ihre Kriegskunst und ihren Verstand aus; sie verließen sich bloß auf Stärke und Menge, und wagten gegen den ausgelernten großen Heerführer und dessen erfahrne und geübte Legionen keine förmliche Schlacht.«

Der Fürst erstaunte über die Bemerkungen. Ihn entzückte das Feuer der Augen, womit Hohenthal sie vorbrachte; und er führte das Gespräch noch fort bis auf den bürgerlichen Krieg.

»Gerad' in diesem, verfolgte der seltne Schüler, erscheint Cäsar am dargestelltesten und größten; besonders nach der Schlappe bey Durazzo bis auf die Verfolgung des Pompejus nach Aegypten. Welche rastlose unermüdliche Kraft! welche kalte nüchterne Ueberlegung bey dem höchsten Glücke! Welche klare Uebersicht des ganzen ungeheuern Römischen Reiches! Er ist recht das Exempel zu Horazens


[164] – – Aequam memento

rebus in arduis servare mentem; non secus

in bonis ab insolenti temperatam laetitia.«


»In Alexandrien allein scheint ihm die junge reizende Kleopatra etwas Kraft und Zeit weggenommen zu haben; manserat in fide praesidiisque ejus, sagt Hirtius; sonst hätten die Alexandriner ihm gewiß nicht so lange zu schaffen gemacht.«

»Nach solchen Thaten war sie ihm ein voller Becher Nektar aus dem Olymp. Er ist auch so klug gewesen, den Alexandrinischen Krieg nicht selbst zu beschreiben. Nachdem er beynahe die ganze Römische Welt besaß, war es wenigstens Unklugheit, in einem solchen Mordloche Leib und Leben und sein ganzes Glück aufs Spiel zu setzen. Aber der Held wollte dem Himmelskinde, der Kleopatra, für den Genuß, den sie ihm gemacht hatte, ein Königreich geben; und führte es aus. Er wagte hier ein paarmal alles, so wie sonst nirgends; außer wie er über das Meer von Brundusium setzte.«

»Glück hat er viel gehabt, wie auch unser Friederich; ohne dieß kein berühmter Held. Seine großen Thaten vollbrachte er übrigens in dem reifsten Alter.«

Der Fürst konnte sich nicht enthalten, gewaltig von einem so jungen heroischen Geist ergriffen, ihn öffentlich zu umarmen, und ihm einen Kuß zu geben; worüber sich jedermann, als etwas ganz Außerordentliches, verwunderte.

1

Dem 51sten Psalm.

2

Sömmerring, mein Freund, hat mir zu dieser Unterredung folgende meisterhafte anatomische Schilderung mitgetheilt, die alles erschöpft. »Zu einem guten Sänger gehört, außer guten und geübten Hörorganen, einem regelmäßig gewölbten, bequem, gemächlich und kräftig im eigentlichen Verstande nachdrücklich zu bewegenden Thorax, weiten, starken, leicht und frey ausdehnbaren Lungen, einem nicht zu gestreckten noch zu gestauchtem Halse, noch insbesondre: ein genau richtiges Verhältniß der Theile des Kehlkopfs zu einander, eine nicht zu straffe, noch zu schlaffe Zusammenfügung derselben, eine mäßige Biegsamkeit derselben, gleichmäßige Kraft der Muskeln desselben auf beyden Seiten, vorzüglich gleiche Dicke, Länge, Einfügung, Geschmeidigkeit und Spannung der Stimmritzenbänder, gleiche Höhe der Taschen, ein nicht zu hoch geendigtes, noch zu tief hinab hangendes, nicht zu schlotterndes, noch zu scharf angezogenes Gaumensegel, ein regelmäßig geformtes, nicht zu langes, noch zu kurzes, nicht zu breites, noch zu schmales, nicht zu rundes, noch zu parabolisches, nicht zu flaches, noch zu krummes Gewölbe des festen Gaumens, eine gehörig befestigte, zu einem regelmäßigen Gaumen vollkommen passende, schnell umzuformende, und doch kräftige Zunge, regelmäßig symmetrische, willig nachgebende Zungenbeine, gehörig offne, und doch an den Eingängen und Ausgängen gradweis leicht zu schließende rein widerhallende Nasenhöhlen, eine nicht zu dichte, noch zu sehr unterbrochne, nicht zu hohe, noch zu niedrige Zahnreihe, ein weder wülstig noch schmal gesäumter, nett und präcis geendigter Mund, der daher auch nett und präcis wirkt, folglich weder ein fremdes Gesprudel beymischt, noch der Schönheit, der Reinheit, dem Wohlklang der vollkommen schön geformten Töne den mindesten Abbruch thut. Selten sind aber der Kehlkopf und die übrigen Theile zusammen so regelmäßig und symmetrisch gebaut. Gesetzt nun, eins der Stimmritzenbänder ist länger oder kürzer, mehr oder weniger gespannt als das andre Stimmritzenband: so bewirkt es auch in der nämlichen Zeit eine andre Anzahl von Erzitterungen in der Luft, als das andre; folglich können auch seine Töne unmöglich mit den Tönen des andern übereinstimmen.«

3

Sömmerring glaubt in seiner neuesten, wichtigen, noch ungedruckten Schrift über das Sensorium commune den physischen Grund für die Wahrheit dieser Behauptung angeben zu können. »Unter allen Nerven nämlich, sagt er, ist keiner, der so unmittelbar, so nackt und bloß mit der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen (worin er das Organ des Sensorium commune sucht) in Berührung steht; folglich auch so unmittelbar das gemeinsame Sensorium rührt. Denn der Anfang, oder das äußerste Hirnende dieses Nerven ist so offenbar und deutlich von der Natur selbst dargelegt, daß es wahrlich ungereimt seyn würde, in Rücksicht der Hirnenden des Hörnervenpaars noch etwas mehr durch die Kunst entdecken zu wollen.«

4

In Ramlers Tod Jesu.

5

Im Requiem aeternam.

6

Zu Anfang des dritten Bandes wird man dieses deutlicher und mit klassischen Beyspielen erklärt finden.

7

In Händels Messias.

8

Qui nostram disciplinam petit, in monochordi usu manum exerceat, hasque regulas saepe meditetur, donec vi et natura vocum cognita ignotos vt et notos cantus suaviter canat. Sed quia voces, quae hujus artis prima sunt fundamenta, in monochordo melius intuemur, quomodo eas ibidem ars naturam vocum imitata discrevit, primitus videamus etc. Micrologus, id est, brevis sermo in Musica. Auffallend ist es, daß er alsdann die diatonische Leiter noch im elften Jahrhundert, wo er lebte, nach Quarten in denselben Verhältnissen, angiebt, wie Roussier sie den Aegyptiern und Griechen zuschreibt, und mit der letzten Quarte F beym runden B endigt.

9

Die Griechischen musikalischen Schriftsteller halten ihn einstimmig dafür. Die wissenschaftlichen Kenntnisse der ältern Aegyptier in dieser Kunst könnten alsdann nur gering gewesen seyn. Doch scheinen schon die Thebanischen Harfen, die Bruce abgezeichnet hat, dawider Zweifel zu erregen. Gewiß ist das Monochord der Eingang ins Heiligthum.

10

Mein Abgott, mein Leben, o trübe diese Blicke nicht!

11

Ach, ich Unglückliche! O, ich fühle dich mein armes Herz!

12

Die ganze Hölle will ich gegen dich aufbewegen! Geh nur, geh nur! aber gedenke, daß du mich als bloßen Geist und Schatten immer hinter dir haben wirst!

13

Du wirst mich bey Namen rufen, und es wird alsdann zu spät seyn.

14

Ach, mir bricht das Herz unter so viel Marter.

15

Hört, o Furien, hört! euch rühre meine Pein.

16

Komm, o süße Ruhe, meine Brust mit Kummer beladen zu erleichtern.

Quelle:
Wilhelm Heinse: Sämmtliche Werke. Band 5, Leipzig 1903, S. 5-165.
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Hildegard von Hohenthal
Hildegard von Hohenthal: Musikalische Dialogen
Sämmtliche Schriften: Hildegard Von Hohenthal (German Edition)

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Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

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Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

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Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

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Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

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