29. Frühlingslied
Italiänisch

[363] Von Chiabrera. S. Jagemanns Anthol. Vol. 2. p. 475.


Der Schnee zerschmilzt, der Frühling kommt

Mit seiner Blumen Schaar,

Und Busch und Baum ist jung und grün,

Und blühend wie er war,

Von Bergen rauscht der Strom nicht mehr

Mit wilder Fluthen Fall;

In seinen Ufern murmelt er,

Ein schleichender Krystall.


Ob Ewigkeit hienieden sey?

Zeigt Jahr- und Tageslauf:

Die Sonne, die jezt niedergeht

Geht morgen wieder auf.[363]

Was steiget, fällt; in kurzer Frist

Kommt wieder auf, was fällt;

Der Mensch der einmal drunten ist,

Sieht nimmermehr die Welt.


Und was sein Gut hienieden sey,

Ist, ders ihm sichern kann?

Schnitt Lachesis nicht heute ab,

Was Klotho gestern spann?

O Elend, o Gebrechlichkeit,

Auf Tand und Nebel baun!

Des Todes zu gewissen Streich

Im Ungewissen traun!


Nur Traum, nur Traumglückseligkeit

Ist nieden unser Theil!

Müh' ist das Leben, ach und fleucht

Wie ein verschoßner Pfeil.

Des Himmels Wohnungen, o ihr,

Mein ewges Vaterland

Ein matter Fremdling auf der Welt,

Streck' ich nach Euch die Hand.


Wer leiht mir Flügel? ach wer gibt

Zu schwingen mich von hier,

Dem kranken Geiste neuen Muth,

Und neue Kräfte mir?

Wohlan, kein Erdgedanke mehr

Keim' auf in dir, o Herz!

Zeit ists, aufs Veste nun zu schaun,

Zu denken Himmelwärts.[364]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart 1975, S. 363-365.
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