28. Radoslaus
Eine Morlackische Geschichte

[283] [Vgl. zu Nr. 29]


Kaum noch, daß am Himmel Morgenröthe

Und der Morgenstern am Himmel glänzte,

Sang im Schlaf zu König Radoslaus

Eine Schwalbe, also sang sie zu ihm:


Auf, o König, feindlich war dein Schicksal,

Da du hier dich legetest und einschliefst,

Und du schlummerst ruhig bis zum Morgen?

Abgefallen sind von dir die Lika

Und die Korbau und die Ebne Kotar,

Von Cettinens Ufer bis ans Meer hin.


Kaum vernommen hatte Radoslaus

Diese Stimme, als er seinen Sohn rief:

Auf, geliebter Sohn, und laß uns beide

Schnell von allen Seiten Heere sammlen.

Abgefallen sind von uns die Lika

Und die Korbau und die Ebne Kotar

Von Cettinens Ufer bis ans Meer hin.


Kaum vernommen hatte Ciaslaus

Seines Vaters Stimme und er eilet,

Sammlet grosse Heere, junges Fußvolk,

Und Dalmatiens Blitzschnelle Reuter.


Edlen Rath gab ihm zuletzt sein Vater:

»Ciaslaus, nimm den Kern des Heeres

Und zieh tapfer wider die Croaten.

Ist der Himmel und das Glück dir günstig,

Daß der Bannus Selimir erlieget;

Brenne keine Städte, keine Flecken
[283]

Und verkaufe nicht gefangne Sklaven. –

Zähme du die Korbau und die Lika,

Das Geburtsland deiner edlen Mutter;

Ich will in die weite Ebne Kotar,

Von Cettinens Ufer, bis ans Meer hin,

Will sie bändigen. Doch nicht veröden.«


Also gehn die Königlichen Krieger

Auseinander, und die beiden Heere

Ziehen frölich, singen um die Wette,

Scherzen, trinken lustig auf den Pferden.


Nicht gar lange und das Heer des Bannus

Selimirs war, wie der Wind, zerstreuet;

Aber ungedenk des Vaters Rede

Brannte Ciaslaus Städte nieder,

Plündert reiche Schlösser und ließ grausam

Groß und Klein der Spitze seines Degens,

Und verschenkte die gefangnen Sklaven

An sein Kriegsheer.

König Radoslaus

Hatte bald und willig sich die Ebne

Kotar unterworfen; doch o Unglück!

Nun empört sich gegen ihn sein Kriegsheer,

Daß er ihnen nicht, wie Ciaslaus,

Auch erlaubt, zu plündern reiche Schlösser,

Kirchen und Altäre, daß er ihnen

Nicht erlaubt, zu schänden Kotars Töchter,

Und die armen Sklaven zu verkaufen.


Wütend nahmen sie ihm nun die Krone,

Rufen Ciaslaus aus zum König.

Und kaum ist er König, als er eilig

Ließ vom Aufgang bis zum Niedergange

Und vom Niedergang zum Aufgang rufen:[284]

»Wer mir meinen Vater bringt gefangen,

Oder seinen grauen Kopf mir bringet,

Soll der zweite seyn in meinem Reiche.«


Milutin, ein Sklave, kaum vernommen

Diese Rede, nimmt zwölf Krieger zu sich,

Suchet rings umher die Ebne Kotars

König Radoslaus, ihn gefangen

Oder seinen grauen Kopf zu bringen.


Aber eine gute Felsengöttin

So erhub sie von dem hohen Gipfel

Bebi ihre Stimme: »Radoslaus!

Uebles Schicksal hat dich hergeführet.

Nahe sind zwölf Krieger, dich zu fangen,

Milutin, der Sklave, ist ihr Führer.

Alter Vater, ach in übeln Schicksals

Stunde hast du deinen Sohn gezeuget,

Der nach deinem grauen Haupte trachtet.«


Unglückselig höret Radoslaus

Seiner Freundin Stimme, fliehet schnell die

Weite Ebne, nimmt den Weg zum Meer hin,

Sich zu retten unter blauen Wellen.


Und er stürzt sich in den Schoos der Wellen,

Haschet endlich einen kalten Felsen,

Klimmet auf, und Himmel! ohne Grausen

Wer hätt' angehört des Alten Flüche,

In dem Meere, auf dem kalten Felsen:


»Ciaslaus, Sohn, o du Geliebter!

Den so lang' ich mir erbat vom Himmel;

Und da dich der Himmel mir gegeben,

Suchst du grausam deines Vaters Leben.

O geh von mir, gehe ferne von mir!

Du mein Sohn, mein einig einst Geliebter!
[285]

Geh, daß dich das tiefe Meer verschlinge,

Wie es mich im Nu hier wird verschlingen,

Von dem kalten Felsen. Finster werde

Ueber dir die Sonne und der Himmel

Oefne sich im Zorn mit Blitz und Donner,

Und die Erde speie aus im Zorne

Dein Gebein. Und nie soll Sohn und Enkel

Nach dir bleiben, nie das Glück dir folgen,

Ziehest du zum Kriege. Deine Gattin

Müsse bald sich ein in Trauer kleiden,

Und dein Vater einsam nach dir bleiben.

Dein Dalmatien dir seinen rothen

Wein, sein weisses Korn dir nimmer geben,

Dem gottlosen Sohn, der seines alten

Vaters Radoslaus Tod begehret.«


Als er noch so klagt, der Jammervolle,

Und mit Thränen wusch den kalten Felsen,

Kam ein kleines Schiff mit ofnen Segeln,

In ihm edele Lateiner. Flehend

Bittet und beschwöret sie der Alte,

Bei dem Himmel und bei Mond und Sonne,

Ihn ins Schiff zu nehmen und zum Ufer

Latiums zu führen. Die Lateiner

Hatten edles Herz in ihrem Busen,

Edles Herz und fürchteten den Himmel,

Nahmen auf den König in ihr Fahrzeug,

Brachten ihn zu ihrem Lande. König

Radoslaus ging gen Rom und ward da

Aufgenommen, hatte, neuvermählet

Einen Sohn, der Petrimir sich nannte,

Und vermählt mit edlem Römerblute

Paulimir erzeugt, der Slaven König.[286]

Quelle:
Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern. Stuttgart 1975, S. 283-287.
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