Johann Gottfried Herder

Gotthold Ephraim Lessing

geboren 1729, gestorben 1781

Kein neuerer Schriftsteller hat, dünkt mich, in Sachen des Geschmacks und des feineren, gründlichen Urteils über literarische Gegenstände auf Deutschland mehr gewirkt als Lessing. Was war deutscher Geschmack im Anfang dieses Jahrhunderts? Wie wenig war er, als Gottsched ihn aus den Händen der Talander, Weise, Menantes empfing und nach seiner Art fortbildete! Er ward gereinigt und gewässert, er empfing einen Körper, aber ohne Geist und Seele. Bodmer kam dem Mangel zu Hülfe und führte Provisionen von Gedanken aus Italien, England, den Alten, und woher es sonst anging, herbei; schade aber, es waren fremde, zum Teil einförmige und schwere Gedanken, die in Deutschland nicht so leicht allgemeinen Kurs finden konnten. Jetzt kam Lessing. Sowohl an Witz als in Gelehrsamkeit, an Talenten und im Ausdruck war er beinah Gottscheds Antipode. Von den Schweizern nutzte er ihre Belesenheit und ihr gründlicheres Urteil; er übertraf sie bald in beidem. Am meisten aber übertraf er sie und alle seine Vorgänger in der Gelenkigkeit des Ausdrucks, in den immer neuen und glänzenden Wendungen seiner Einkleidung und Sprache, endlich in dem philosophischen Scharfsinn, den er mit jedem Eigensinn seines muntern, dialogischen Stils zu verbinden und die durchdachtesten Sachen mit Neckerei und Leichtigkeit gleichsam nur hinzu werfen wußte. So lange deutsch geschrieben ist, hat, dünkt mich, niemand wie Lessing deutsch geschrieben, und komme man und sage, wo seine Wendungen, sein Eigensinn nicht Eigensinn der Sprache selbst wären! Seit Luther hat niemand die Sprache von dieser Seite so wohl gebraucht, so wohl verstanden. In beiden Schriftstellern hat sie nichts von der plumpen Art, von dem steifen Gange, den man ihr zum Nationaleigentum machen will; und doch, wer schreibt ursprünglich deutscher als Luther oder Lessing? Und überhaupt, was wäre es für eine Sprache, die nicht jedem[255] guten Kopf, nachdem er sie brauchen kann, gern dienen wollte?

Ich begnüge mich, Lessings Arbeiten mit einigem Urteil durchzugehen. Einer Lobrede brauchts bei ihm nicht; unbestimmte, schlechte, übertriebene Lobsprüche haßte er mehr als den bittersten, nur einigermaßen gründlichen Tadel. Noch entfernter bin ich, über alle Lessingschen Arbeiten und Verdienste mir ein Urteil anzumaßen. Ich maße mir eigentlich gar kein Urteil über ihn an, sage nur über einiges meine Meinung und überlasse das andre, insonderheit seine Theaterwerke, andern. Meine Absicht ist nur, überhaupt die Spur zu verfolgen, wo Lessing seinen Weg nahm, wo er anfing, wo er aufhörte, wo andre ihm nachzugehn oder weiterzugehn haben.

Lessings erste Schriften und Lebensumstände kenne ich nicht, das erste Buch, das ich von ihm habe, ist seine Übersetzung Huartes. Eine Übersetzung aus dem Spanischen war in Deutschland 1752 wieder ein seltenes Ding worden, so häufig auch unsre liebe Vorfahren ein Jahrhundert vorher aus dem Spanischen übersetzt hatten, zumal die Übersetzung eines so paradoxen Schriftstellers, als Huarte ist. In der kurzen Vorrede zu ihm ist Lessing schon ganz kenntlich.

Sein eigentlicher Name fängt ziemlich mit den sogenannten kleinen Schriften an, die seit 1753 in Berlin erschienen. In ihnen zeigte er sich von allen den mancherlei Seiten, von denen er nachher mit den Jahren immer reifer und glänzender hervortrat. In diesen sechs Bändchen, was für ein Reichtum an Inhalt und Einkleidung, eine Abwechslung und Gründlichkeit in Materien, die man sonst in Duodezbändchen nicht findet! Lieder und Fabeln, Sinn- und Lehrgedichte, Aufsätze in Poesie und Prose, sogar lateinische Verse treffen hier zusammen. Es folgen Briefe, fast so mancherlei Inhalts, als gelehrte Briefe irgend nur sein können; Kritik und Philosophie, Geschichte und Literatur, selbst Supplemente zum Jöcherschen Lexikon nehmen hier Briefgestalten an, und man muß gestehen, ganz auf die Lessing eigne, leichte und glückliche[256] Weise. Hierauf ein Teilchen gelehrter Abhandlungen, Rettungen des Horaz, Cardans, gar des Cochläus und des Inepti Religiosi, die man schwerlich vor dem, was folgt, vor Lust- und Trauerspielen, erwartet. Daß dies abwechselnde Mancherlei, mit dem sich Lessing, meistens nur proben-, nur stückweise, gleich anfangs zeigte, nicht Eitelkeit, nicht Prahlerei war, beweiset sein weiteres literarisches Leben. Alle die Beschäftigungen, alle die Einkleidungen hat er fortgesetzt, und gewiß keine mit minderm Glück, als er in diesen Jugendversuchen zeigte. Wenn ein Schriftsteller mit seiner Zeit fortging und Blüten in Früchte verwandelt hat, ists Lessing; ja, was sage ich, fortging? Bis an sein Ende ging er seiner Zeit vor.

Einige dieser Jugendschriften hat er bei reifern Jahren umgearbeitet, und so wenig er sich seiner Jugend zu schämen hatte, so sehr gewannen sie durch die verbessernde Hand des Mannes. Seine Fabeln und Sinngedichte führe ich als Proben an. Zur Verbesserung der letzten zwang ihn ein gedroheter Nachdruck seiner kleinen jugendlichen Schriften, und man sehe, was er über sie in der Vorrede zu diesen sogenannten »Vermischten Schriften« selbst sagt. Wir machen also sogleich mit diesen Verbesserungen den Anfang, denn hinter solchen ihn noch nach seinen ersten Versuchen beurteilen zu wollen, wäre ja so ungerecht als undankbar.

Mit der neuen Ausgabe seiner Fabeln fing er an. Aus wenigen Proben, die er gegeben hatte, wurden drei Bücher, meistens eigner oder fortgesetzter äsopischer Erfindung. Die gereimten oder ihre Reime sind weggefallen, und statt dieser der Fabel unnötigen oder hinderlichen Fesseln (wenigstens wie Lessing es glaubte) stehn sie hier in eine Sprache gekleidet, die in einer jedem Gegenstande angemessenen Prose die schönste Poesie ist. Der blanke männliche Harnisch kleidet Lessing mehr als das Gängelband der Reime; seine Fabel sind nicht bloß für Kinder, sondern auch Männern, und Männern insonderheit, lesbar. Noch mehr sinds die Abhandlungen über das Wesen, den Nutzen, die Einkleidung, das Wunderbare der Fabel, die er seinen Proben beifügte.[257]

Unstreitig ist dies die bündigste, gewiß philosophische Theorie, die seit Aristoteles' Zeiten über eine Dichtungsart gemacht ist, und es wäre zu wünschen, daß Lessing sie wie hier über die Fabel, wie nachher übers Sinngedicht, wie in der Dramaturgie übers Trauer- und Lustspiel, im Laokoon über die Grenzen der Poesie und bildenden Kunst und in den Literaturbriefen über kleinere Materien literarischen Inhalts, so über alle Dichtungsarten und Darstellungen der Poesie und Künste hätte machen können. Es wird vielleicht Jahrhunderte währen, ehe die vielen und leichten Talente, die ausgebreiteten und gründlichen Kenntnisse sich mit dem philosophischen Geist, mit dem Scharfsinn und schönen Ausdruck in einem Manne vereinigen, wie sie in Lessing vereinigt waren. Die Abhandlungen über die Fabel insonderheit sind mit einer so glücklichen, leichten, sokratisch-platonischen Analyse geschrieben, daß ich im Geist dieser Methode ihnen in unsrer Sprache weniges an die Seite zu setzen wüßte.

Ob gegen die Theorie selbst nichts einzuwenden wäre, ist eine andre Frage. Lessings äsopischen Fabeln folgten Bodmers unäsopische Fabeln auf dem Fuß nach, die jene in Fabeln und Abhandlungen über den Haufen werfen sollten. Sie habens nicht getan, sie sind vergessen, und Lessings Fabeln und Abhandlungen werden bleiben; ja, mich wunderts immer noch, wie der alte, geschmackvolle und gründliche Kunstrichter Lessings Buche ein solches entgegensetzen konnte. Indessen ists wahr, Lessings und Äsops Fabeln sind einander so unähnlich als die Zeiten beider, und der Hauptgrund des Unterschieds ist, wie mich dünkt, augenscheinlich. Äsop machte seine Fabeln bei wirklichen Vorfällen im gemeinen Leben; also konnte auch die Lehre, die er einkleidete, kein fein abstrahierter oder spekulativer Satz, sondern eine praktische Lehre und Bemerkung für eben das gemeine Leben sein, aus dem sie abgesondert war. Eine solche Lehre zeigte sich also auch meistens in wirklicher Handlung (zum wenigsten, was man auch im gemeinen Leben Handlung nennet), nicht bloß in einer feinen Veränderung[258] von Gedanken; so mußte also auch die Darstellung derselben in der Fabel sein. Beide Stocke machen Äsops Fabeln so anschaulich, sie machen sie auch für den gemeinen Mann und für Kinder so lehrreich, als es – Lessings Fabeln nun wohl nicht sind, auch wohl nicht sein konnten und sollten. Nichts als die Zeiten haben sich verändert. Die Leser, für die Lessing schrieb, bedürfen feinere Lehren, also auch die Darstellung eines feinern facti, das freilich oft nur eine Gedankenfolge zu sein scheint. Das Anschauliche, Populäre der Fabel geht hiemit einesteils verloren, der Leser gewinnt indes feinere Belehrung. Will man, so nenne man diese eine feinere Gattung äsopischer Fabeln und bemerke bei der Theorie der Fabel unter den drei Worten »allgemeiner moralischer Satz«, »Darstellung in einem besondern Falle«, »anschauendes Erkenntnis jenes in diesem« den Unterschied, so ist der Streit gehoben. Vielleicht zu einer andern Zeit hievon ein mehreres.

Mit Lessings Theorie der Sinngedichte ists beinah eben also; sie ist so fein und ausschließend als die Gattung, die er allein für Sinngedichte erkennt, in der seine eignen Epigramme sind, und in der Martial allerdings den Meisterrang behauptet. Die beiden Teile des Sinngedichts, Erwartung und Aufschluß, nebst den falschen Aftergattungen, wo eins derselben fehlt, hat der Theorist in ein Licht gestellt, dem freilich nichts entgegenzusetzen ist, sobald man in den Lessingschen Gesichtspunkt eintritt. Genetisch und historisch indessen wäre ein großer, nicht verwerflicher Teil der griechischen Anthologie dagegen – doch auch hievon künftig. Die Bemerkungen, die Lessing über einzelne Dichter, Martial, Catull, die griechische Anthologie u.f. eingestreuet hat, sind mannigfaltig und schätzbar; viele seiner Sinngedichte selbst sind als Proben des glücklichsten Witzes in Lehrbüchern und sogar in der Gesellschaft gang und gäbe. Das zu Freie, zu Jugendliche ließ er in seiner verbesserten Ausgabe weg, wie bei den Sinngedichten, so bei seinen Erzählungen und Liedern.[259]

Lessings Lieder sind bekanntermaßen von der muntern, nicht zärtlichen und schmachtenden Gattung. In häufigen Kompositionen sind sie im Munde der Nation und bedörfen keines Urteils mehr. Wer bloß eine Gattung von Liedern, die zärtliche, die rührende haben möchte, habe sie für sich und lasse andern ihren Geschmack, ihr Vergnügen. Seine Lehrgedichte hat er nicht neu herausgeben wollen oder es auf die Zukunft verspart. Sie haben viel scharfsinnige, treffende Gedanken und stehn der Art und den Gegenständen nach meistens den Kästnerschen an der Seite. Was Lessing überhaupt von den Grenzen der Philosophie und des Lehrgedichts gehalten, mag man in seiner und Mendelssohns Schrift »Pope ein Metaphysiker« lesen.

Aber es ist Zeit, von diesen einzelnen Vorübungen, die für andre wichtiger wären, als sie's bei Lessing sein durften, näher zu dem Haupttalent überzugehen, wodurch er auf Deutschland vorzüglich gewirkt hat; es ist seine philosophische Kritik, sein immer darstellender und immer zugleich denkender, forschender Geist, den er in mancherlei Werken und Einkleidungen überall glücklich gewiesen. Schon unter seinen kleinen Schriften waren Briefe gelehrten, philosophischen, kritischen Inhalts. Die Streitigkeit mit Lange, seine Vorrede zu Mylius' Schriften, seine »Theatralische Bibliothek« u.f. zeigten dies Talent noch auszeichnender; und mich dünkt, die Literaturbriefe sind davon die unzweifelhafteste Probe. Von diesen war er Urheber und Vater, der Ton in ihnen war sein Ton, wie mans aus den Briefen in seinen kleinen Schriften und aus der Vorrede zu Mylius' Werken sonnenklar sieht; es ist falsch und elend, daß man diesen Briefen den Ton der Clementschen »Lettres critiques« Schuld gab. Das Glück führte ihm einen edeln Gehülfen zu, Moses Mendelssohn, zwei Männer, die sich, wie aus mehreren Äußerungen erhellet, als philosophische Freunde schätzten und liebten. Man lese Mendelssohns Brief an Lessing hinter Rousseaus Abhandlung, man sehe die Achtung, mit der Lessing bei jeder Gelegenheit an Mendelssohn denket. Zwei[260] solcher Menschen, am Geist hell und im Herzen rein, ohne politische Hindernisse und Nebenumstände, traten verbunden zu diesem Werk, das noch manche Zeit hin »das deutsche Journal« genannt werden sollte. Ohne Schwärmerei und Ausgelassenheit herrschet in ihm Freimütigkeit und Einsicht, insonderheit im Anfange oder zu zwei Dritteilen der Briefe. Lessing (ohne allen Zweifel ist er der Fll., denn wer sollte es sonst sein, ob er sich gleich auch anders unterzeichnet) ging ohngefähr bis zum siebenten Teil mit, Mendelssohn behielt seinen geprüften Charakter bis zum Ende, Abbt trat mit mehrerer Kühnheit, aber nicht mit mehrerem Glück in Lessings Tritte, und auch die andern Gehülfen sind gute, wenigstens nicht schlechte Köpfe gewesen. Lessings Urteile, von denen ich hier allein rede, hat größtenteils die Zeit bewähret. Was damals scharf hieß, nennet man jetzt recht, was hart schien, ist jetzt (wenige Urteile ausgenommen) billige Wahrheit. Fast kenne ich niemanden, der auch von sich, dem Schriftsteller, mit mehr Bescheidenheit und Würde reden konnte als Lessing; und überhaupt ist wohl unstreitig er an Umfang der Belesenheit, an Schärfe des Urteils und an vielseitigem männlichen Verstande in Sachen, wovon hier die Rede ist, der erste Kunstrichter Deutschlands. Wo sind jetzt Literaturbriefe, wie er sie anfing?

Um eben diese Zeit machte er sich noch auf zweierlei Art um Deutschland verdient, durch die Wiederaufweckung Logaus und durch die Übersetzung von Diderots Theater. Bei dem ersten standen er und Ramler für einen Mann; wahrscheinlich rühren von Lessing die Vorrede und einige Anmerkungen über die Sprache des Dichters her, so wie von Ramler vielleicht die Auswahl und Veränderung der Stücke selbst herrührt. Da ich die alte Ausgabe besitze, so bekenne ich zwar gern, daß es einem alten Dichter Wohltat sei, wenn er in Hände fällt, die ihn verändern, wie diese Herausgeber ihn verändert haben; im ganzen aber dörfte es besser sein, wenn man ältere und vergessene deutsche Dichter uns zwar mit Auswahl der besten Stücke, aber unverändert gäbe. So[261] machens unsre Nachbarn sämtlich und sonders, so hats Lessing mit den aufgefundenen Gedichten Scultetus', mit der Zugabe zu den Fabeln der Minnesinger u.f. gemacht, und so ists in der Ordnung. Bei einem alten Dichter muß man wissen, daß man wirklich ihn und keinen neuern Dichter lese.

»Diderot«, sagt Lessing selbst zur zweiten Ausgabe seines Theaters, »Diderot scheint auf das deutsche Theater weit mehr Einfluß gehabt zu haben als auf das Theater seines eignen Volks«, und er rechtfertigt diesen Ausspruch mit guten Gründen. Er siehets selbst für Pflicht der Dankbarkeit an, sich als den Übersetzer eines Mannes zu nennen, »der an der Bildung seines Geschmacks so großen Anteil gehabt. Denn es mag«, fährt er fort, »mit diesem beschaffen sein, wie es will, so bin ich mir doch zu wohl bewußt, daß er ohne Diderots Muster und Lehren eine ganz andere Richtung würde bekommen haben. Vielleicht eine eignere, aber doch schwerlich eine, mit der am Ende mein Verstand zufriedner gewesen wäre.« Mich dünkt, jeder Verständige werde es mit ihm sein. Die großen Schritte, die er von seinen ersten Schauspielen, so angenehm und notwendig sie unserm Theater noch lange sein werden, zu einem »Philotas«, einer »Minna«, einer »Emilia Galotti«, einem »Nathan« getan hat, sind auch dem stumpfsten Auge unverkennbar. Und wenn er von Diderot sagt, »daß sich nach dem Aristoteles kein philosophischerer Geist mit dem Theater abgegeben habe als er«, von wem gälte das reichlicher, von Diderot oder Lessing?

Jetzt ruhete er einige Zeit, und nach solcher Arbeit konnt er ruhen. In weniger als zehn Jahren hatte er alle diese so verschiednen Werke und in den Jahren 59, 60, 61 eine Reihe der besten geliefert, von denen zuletzt die Rede war. Im Jahre 1766 trat er wieder hervor, mit ebenso goldnen, glänzenden Waffen, nur in einem andern Felde.

Die meisten meiner Leser erinnern sich noch wohl des Geschreies von Kunst, das, nachdem Winckelmann, Lippert, Heyne, Hagedorn, Mengs geschrieben hatten, in Deutschland[262] aufkam. Alles sollte Kunstler nen, das Kind in den Schulen, der Jüngling auf Universitäten, der Mann im Amt. Aus Statuen sollte der Geistliche predigen, aus Münzen der Jurist Urteil sprechen, aus Gemmen und Pasten der Maler malen, der Dichter dichten. Hier trat Lessing mit seinem »Laokoon« auf, leise, aber sehr gewiß und weitaussehend. Von einer Stelle Winckelmanns ging er aus, über Caylus, Spence und weiter fort, jetzt nur einige Grenzen der Poesie und Malerei auszuzeichnen, mit der Zeit aber diesen Gang über die Grenzen andrer Künste zu vollenden. Er hat ihn nicht vollendet, und wer wirds an seiner Stelle? »Laokoon« steht wie ein philosophisches Kunstwerk da, das der Künstler mit Fleiß unvollführt gelassen, damit man sich erinnere, daß man ihn nicht mehr habe.

Er geriet darüber in einen Streit mit der Klotzischen Schule, und es ist nicht Lessings Schuld, daß der Streit für Deutschland nicht nutzbarer ausfiel. Er betraf teils zu armselige Dinge, teils zu armselige Leute. Kein Zeitungsblatt erschien damals, in dem nicht die mutwilligen Knaben kamen und auch Lessing einen Kahlkopf schalten; da schickte er endlich zwei Bären über sie, die zerrissen den Hauptknaben und jagten die übrigen in ihre Löcher und Winkel. Jeder Verständige schämt sich jetzt dieser Szene und des Werts, den man damals manchen Kindereien beilegte. Damals indessen wars anders, und Lessing hatte alle Stärke und männliche Dreistigkeit deutscher Sprache nötig, um zu zeigen, was an manchen Armseligkeiten sei, welche Stärke man denn auch im zweiten Teil der vorgenannten Briefe, insonderheit gegen das Ende, reichlich antrifft. Jetzt ist jedermann mit ihm einig, und das schöne Werkchen »Wie die Alten den Tod gebildet«, so schön in seinem Inhalt als in seiner Entwicklung, ist fast das einzige, was sich dabei gewinnen ließ. Dies gehört aber auch Lessingen zu und nicht dem öden Kunstgeschwätz seiner Gegner.

Lessing lebte damals in Hamburg und sollte einer Bühne vorstehn, die unter ihm erst deutsche Nationalbühne werden[263] wollte. Warum sie's nicht werden konnte, oder was überhaupt an dem ganzen Wort sei, hat er selbst zu Ende seiner Dramaturgie bescheiden und aufrichtig gesagt. Wären indessen auch nur die zwei Bände Dramaturgie die Frucht seines Aufenthalts in dieser Lage, so wäre das deutsche Theater überhaupt für die kleinen Veränderungen, die er dort machen oder nicht machen konnte, reichlich entschädigt. Sein Urteil über einzelne Schauspiele und Schauspieler, so bescheiden, durchdacht und männlich es allemal ist, war ihm immer nur Veranlassung, sich über die Quellen der Schauspielkunst, über das Wesen des Trauer- und Lustspiels von den Zeiten der Griechen bis zu uns herab zu verbreiten. Insonderheit sind Shakespeare, Aristoteles, Voltaire u.a. hin und wieder in ein Licht gestellt worden, in das sie bisher kaum gestellt waren, und es ist allemal Licht der Wahrheit. Von keinem Werk des Genies schloß Lessing das Denken aus; er war überzeugt, daß jeder Künstler und Dichter nur durch deutliche Begriffe von seiner Kunst zur Vortrefflichkeit in derselben gelangen könne, und diesen Weg zu deutlichen Begriffen über die Kunst des Schauspiels half Lessing in seiner Dramaturgie bahnen.

Aber freilich wars nicht eines Menschen Beruf, ihn bis ans Ende selbst hinaus zu laufen. Bei seinen Fabeln versprach er eine Ausgabe des Phädrus, hier eine Poetik des Aristoteles, die er für den Kodex der ganzen griechischen Dramaturgie hielt und für die er seine besten Anmerkungen sparte. Er kam unter andre Gegenstände, in andre Geschäfte; sollten indessen nicht unter seinen Papieren Vorarbeiten sein, die des Drucks fähig wären? Kaum sollte ich nach Lessings mündlichen Äußerungen daran zweifeln; und sie sind sodenn glücklicherweise in den Händen eines Bruders, der nichts vorenthalten und nichts liefern wird, wobei nicht seines Bruders Ehre gewönne. Eine Geschichte der äsopischen Fabel ist kurz vor Lessings Tode als zum Druck fertig angezeigt, und über Sophokles dünkt mich etwas Ähnliches gelesen zu haben. Sein Freund Aristoteles, den er für den[264] Erzvater der bestimmten Kritik hielt, wird wahrscheinlich nicht leer ausgegangen sein.

Von Hamburg kam Lessing nach Braunschweig in ein wie anderes Feld gelehrter Arbeiten! Er zeigte sich aber nach seiner Art darin gleich so bekannt, als ob er lange Jahre damit beschäftiget gewesen wäre. Sein erster Griff in die Bibliothek war Berengarius Turonensis, eine Entdeckung, an die niemand dachte, weil niemand, daß diese Schrift des Berengarius in der Welt sei, vermutete; eine Entdeckung aber auch, die einem Zwist, der Jahrhunderte durch unbestimmt, wenigstens unbewiesen geführt war, ein klares Ende machte. Und zwar, wie Lessing mit Recht meinte, zum Vorteil der Lutherschen Kirche, denn die Entwicklung des Dogmas, die er am Ende der Schrift angibt, ist nicht nur der Natur der Sache gemäß, sondern läßt sich auch aus der Geschichte beweisen. So lange also des Berengarius Buch nicht ediert ist, wird diese reiche und entwickelte Anzeige Lessings statt des Buches selbst dienen.

Die andern kleinern Entdeckungen, die Lessing in so kurzer Zeit in mehreren Fächern des gelehrten Altertums oder der Bücherkunde machte, sind hier nicht wohl herzuzählen, sie können auch nicht jedem gleich interessant sein; gnug, wen sie nur dem Liebhaber des besondern, einzelnen Faches angenehm sind, zu dem sie gehören. Aber das war nur Lessing der Bibliothekar; Lessing, der unter dem Gewühl dieser Art eine »Emilia Galotti«, einen »Nathan den Weisen« machte, Lessing, der zu eben der Zeit sich auch jedem seiner Freunde anschlang und ihm half zu seinem Geschäfte, Lessing, der an jedem Ort jeden Würdigen gern ins Licht zog, wem er dienen konnte, dem gern diente – der männliche, tätigfreundschaftliche, neidlose Lessing wird nicht so gar oft und viel seinesgleichen haben. In Berlin waren die Besten, auch die in einerlei Gattung der Wissenschaften arbeiteten, mit ihm. Von Mendelssohn, Ramler u.a. ist schon geredet. Kleist war sein Freund, der Biedergeschmack seiner Gedichte zeigt ihre ähnliche Denkart. Gleim, der Kriegssänger,[265] desgleichen; Lessings ist die Vorrede zu den Kriegsliedern. In Braunschweig schloß er seinen Berengar an Schmids Adelmann an; Zachariä gab er den aufgefundnen Scultetus, und die Urne des jungen Jerusalems umwand er mit immergrünenden Sprossen eines schönen philosophischen Laubes. »Der große Mann«, sagt Nathan,


»Der große Mann braucht überall viel Boden,

Und mehrere, zu nah gepflanzt, zerschlagen

Sich nur die Äste. Mittelgut, wie wir,

Findt sich hingegen überall in Menge;

Nur muß der eine nicht den andern mäkeln,

Nur muß der Knorr den Knubben hübsch vertragen,

Nur muß ein Gipfelchen sich nicht vermessen,

Daß es allein der Erde nicht entschossen.«


Gnug hievon. Die letzten Tage Lessings sollten durch eine theologische Streitigkeit verbittert werden, bei der, wenn das Publikum noch nicht so viel Nutzen draus gezogen hat, als es Lessings Absicht und Meinung gewiß war, es schwerlich seine Schuld sein dörfte. Er gab »Fragmente eines Ungenannten« heraus über die Auferstehungs- und andre Stücke der biblischen Geschichte; und ich, der ich Lessing persönlich gekannt, ihn zu einer Zeit gekannt habe, da obgedachte Stücke wahrscheinlich in seine Hände gekommen waren und, wie ich aus manchen seiner Äußerungen jetzt schließe, seinen Geist damals lebhaft beschäftigten; ich, der über Sachen dieser Art ihn auch sprechen hörte und seinen Charakter über das, was männliche Wahrheitsliebe ist, gnug zu kennen glaube: ich bin für mich überzeugt (für andre mag ichs nicht sein noch werden), daß er auch die Ausgabe dieser Stücke allein und eigentlich zum Besten der Wahrheit, zu einer freiern und männlichen Untersuchung, Prüfung und Befestigung derselben von allen Seiten veranstaltet habe. Er hat dies selbst so oft, so stark, so deutlich gesagt, die ganze Art, wie er die Fragmente herausgab und als Laie seine Gedanken allenfalls zur Widerlegung hin und wieder sagte, überhaupt Lessings[266] Charakter, wie er jedem eingedrückt sein muß, der ihn gekannt hat (und andre sollten doch darüber behutsam urteilen) – alle dies ist mir Bürge für seine reine philosophische Überzeugung, daß er auch hiemit etwas Gutes veranlasse und bewirke, nämlich – ich wiederhole es noch einmal – freie Untersuchung der Wahrheit und einer so wichtigen Wahrheit, als diese Geschichte für jeden, der sie glaubt und der an sie glaubt, sein muß. Darf nun unter allen Wahrheiten und Geschichten diese Wahrheit, diese Geschichte allein nicht untersucht, nicht gegen jeden Zweifel und Zweifler untersucht werden, so ist das Lessings Schuld nicht; aber zu unsern Zeiten wird kein Theolog und kein Religios sein, der so etwas zu behaupten wage. Gibt man aber diesen einzigen Satz zu: Wahrheit müsse und könne untersucht werden, Wahrheit gewinne jedesmal bei jeder neuen, freien und ernsten Prüfung eben in dem Maß und Verhältnis, als sie für uns erkennbare, folglich auch nur in solchem Maß für uns zu befolgende Wahrheit ist, gibt man diesen Satz zu, den die Geschichte aller Zeiten, aller Religionen und Völker, insonderheit die Geschichte und Wahrheit der christlichen Religion überall, wo sie bezweifelt und angefochten ist, unwidersprechlich beweiset, so hat Lessing gewonnen; so müssen wir, statt von krummen, hämischen, bösen Absichten zu reden, ihm danken, daß er uns eine neue Gelegenheit zu Untersuchung und Befestigung der wichtigsten Wahrheit, kurz, zum Triumph gegeben. Je schwächer der Feind ist, je stumpfer und elender die Waffen sind, mit denen er auf uns losgeht, desto leichter wird uns ja der Sieg, desto sichrer und geschwinder können wir triumphieren; und dann verdient Lessing wiederum Dank oder wenigstens Mitleiden, daß er uns eine Windmühle statt eines Riesen in den Weg stellte. Gnug, wenn wir klar zeigen, daß es eine Windmühle und kein Riese sei; der sie für etwas anders hielt, mag seinen Schimpf tragen. Tun wir das aber nicht, lassen die Windmühle stehen und gehn hauptsächlich auf den los, der uns sagt: »Da ist ein Riese! der muß erst erlegt werden, wenn[267] eure Wohnung sicher sein soll«, gehn wir auch ihm nicht in Absicht der Tat, die er getan hat (und die ihm, philosophisch betrachtet, ohne alle Widerrede erlaubt war), sondern mit Untersuchung der Beweggründe und Absichten, aus und zu denen er sie unausbleiblich getan haben soll, auf den Hals wäre das vernünftig, billig, theologisch, christlich? Beweggründe und Absichten der Seele stehn allein unter Gott, unter keinem menschlichen Richter; in philosophische, historische, theologische Streitigkeiten gehören sie ganz und gar nicht. Mag Lessing sich vor dem Richter, vor dem er jetzt steht, rechtfertigen, warum er die Fragmente herausgegeben, gnug, für uns sind sie herausgegeben, sie liegen vor aller Welt da, es kommt jetzt allein auf uns an, ob wir sie Nutzen oder Schaden wollen bringen lassen.

Ich bin auch ein Theolog, und die Sache der Religion liegt mir so sehr am Herzen als irgend jemanden; manche Stellen und Stiche des Fragmentisten haben mir wehgetan, weil ich ihn wirklich mit strenger Wahrheitsliebe las und bei der Verwirrung, in die er alles zu setzen weiß, auf manches nicht sogleich zu antworten wußte, auch auf manches noch jetzt sehr bescheiden antworten würde; keinen Augenblick indessen ist mir ein Gedanke eingefallen, mich deshalb an Lessing zu halten oder über ihn Rache und Verdammung auszugießen, weil ich Stellen eines Buchs, das er herausgibt, nicht sogleich aufhellen und berichtigen kann. Ihm dankte ich immer für die Bekanntmachung von Zweifeln, die mich beschäftigen und weiterleiten, die mir Gedanken entwickeln, wenn auch nicht auf dem ebensten Wege. Entwickelt müssen sie werden, wenn Sache Sache, Geschichte Geschichte sein soll; und glaube man doch nicht, daß alles so schwer zu entwickeln, daß alle Zweifel so neu und unerhört sein, als sie vielleicht auch Lessing geglaubt hat. Viele sind längst gesagt und wiederholt worden, nur nicht von Christen, sondern von Juden, nicht etwa im vorigen und in diesem Jahrhundert, nicht von Freidenkern in Frankreich und England (wohin sich die Polemik vieler Retter und Streiter einschränkt), sondern[268] von Rabbinen früherer Jahrhunderte, aus denen der Fragmentist manches, wenigstens den ganzen Zuschnitt der Sehart genommen zu haben scheint. Ist dies nun alles beantwortet, gut, ists nicht beantwortet, was kann Lessing dafür, was darf er dafür haften? Beantwortets jetzt, beantwortets stille und gesetzt, klar, rein und deutlich, daß Licht die Finsternis überwinde und der Schatten elender Lüge die glänzende Wahrheit eben nur erhebe! Lessing gibt euch Gelegenheit zu neuem Verdienst.

»Aber ward er nicht selbst im Streit heftig?« Lasset uns davon schweigen, meine Brüder, denn wer reizte ihn, wer kam ihm, nicht etwa mit Heftigkeit (die hätte ihn wahrscheinlich nur abgekühlt), sondern mit Stolz und kalter Verachtung, mit hämischen Vermutungen und unwürdiger Verleumdung, mit langweiligen Armseligkeiten, als obs Herrlichkeiten der Welt wären, entgegen? Ich will die Geschichte des Streits nicht durchgehn, ich habe auch nichts weniger als alle Rettungen gegen die Fragmente gelesen. Es ist manches sehr Gute, auch einiges Vortreffliche gegen den Fragmentisten geschrieben, und was nicht ist, wird werden; wir können aber auch nicht leugnen, viel Schlechtes und manches Gute auf schlechte Weise. Das Üble war, daß hier wie überall das Schlechte zuerst kam und die Spreu oben schwimmen wollte. Das Üblere war, daß, die da schwiegen, aus vornehmer Verachtung zu schweigen schienen und Lessing, der sich eines Bessern wert dünkte, ungeduldig wurde. Das Übelste von allen war, daß man verunglimpfte, anschwärzte, verleumdete, verdammte, wo man untersuchen und widerlegen sollte. Das zu ertragen, war Lessing nun wohl nicht gemacht, und ich möchte wissen, wer ihn dazu dürfe gemacht glauben!

Wie lange, meine Brüder, werden wir theologische und jede andre Wahrheit, theologische und jede andre Wohlanständigkeit, Sittlichkeit, Gründlichkeit, Schönheit immer so sorgfältig unterscheiden und, was in der Theologie vorkommt, was sie auch nur von fern angeht, immer nur zunftmäßig cum beneficio feminae et cleri durch uns und von uns und[269] nach uns wollen beurteilen lassen? Wir sind Theologen, aber nicht für uns allein, wir lehren, untersuchen, predigen, retten, verteidigen eine Religion, aber auch für andre Stände. Wollen wir unserm Meister nachfolgen, so lasset uns die neunundneunzig theologischen Streitböcke in der Wüste lassen und nach dem einen verlornen Schaf von Laien gehen, das gegen Punkte unsrer Religion Zweifel hat und sich, wenn wirs nicht tun, an unsrer Gemächlichkeit, Ruhe und Steifigkeit, wie billig und recht ist, ärgert. Ist die Bibel allein für Theologen und ihre Zweifel geschrieben? Soll das Evangelium nicht aller Kreatur gepredigt werden, auch dem Fragmentisten aus der Bibliothek zu Wolfenbüttel, wenn er allenfalls noch irgendwo unter den Lebenden steckte? Und wäre er selbst nicht mehr, nun, so hat er ja seine siebenhundertsiebenundsiebzig Brüder, die auch Mosen und die Propheten haben und leider keine Lust bezeugen, sie zu hören. Ists unserm Stande, selbst dem Werk, das wir treiben, nützlich oder schädlich, wenn, was in allen Wissenschaften und Künsten langweilig, ungründlich, abgeschmackt oder gar boshaft, hämisch, albern hieße, auf einmal seine Natur ändern und angenehm, gründlich, tief, gelehrt, vortrefflich, geistig, ja gar wohlanständig, fromm, eifrig um Gottes Willen heißen soll, sobald es sich hinter den Namen einer Predigt, einer theologischen Abhandlung, einer Rettung der Religion steckt? Größtenteils sind diese ja nicht für Zunftgenossen, die an unsre Sprache und Schnitt, an unsre veniam, quam petimusque damusque vicissim, gewohnt sind, sondern für Leute geschrieben, die Schönheit, Wohlanständigkeit, Gründlichkeit, philosophische und historische Evidenz doch vielleicht in andern Sachen sehr geprüft und gekostet haben. Warum wollten wir uns nicht selbst richten, damit wir nicht von andern gerichtet oder gar, trotz unsrer Titel und Namen, mit der Welt schlechter Schriftsteller verachtet und verdammt werden?

Übrigens will ich hier Lessing nur entschuldigen, weil er ein Mensch wie wir war, nicht rechtfertigen noch rühmen;[270] denn ich kenne weder alle die Gegner, noch alle die Umstände, die ihn reizten. Des Mannes Schrift z.B., gegen den er am heftigsten geschrieben, kenne ich noch bis jetzt nicht und bin also kein Richter zwischen beiden; indessen wird eben dieser eifrige gelehrte Theolog jetzt, nach Lessings Tode, seinem Charakter und Geist die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er ihm einst widerfahren ließ, da er ihn persönlich kannte, hochschätzte und seinen Freund nannte. Mit dem Ort ändert man seinen Charakter nicht, wenigstens nicht plötzlich; und ein Mann wie Lessing, der alles unparteiisch, mit Augen der Wahrheit ansehn wollte und sich ärgerte, wenn ihm dagegen was in den Weg kam, ein solcher Mann wird mit den Jahren eher besser als schlechter. Auch bei dem Irrtum ist Eifer für die Wahrheit schätzbar; die Leidenschaft, die daher entsteht, daß man keiner Leidenschaft, keinem Truge unterworfen sein will, ist hochachtenswürdig. Nicht jeder gelangt zu dieser warmen Kälte, zu dieser leidenschaftlosen Leidenschaft für Wahrheit und für alles, was zu ihr führet.

Gut, daß Lessing diese seine Laufbahn mit einem Glaubensbekenntnis und dem Schriftchen »Von der Erziehung des Menschengeschlechts« schloß. Das letzte dörfte, ohngeachtet mancher überspannten Hypothese, mancher Theolog wollen geschrieben haben.

Und wo bist du nun, edler Wahrheitsucher, Wahrheitkenner, Wahrheitverfechter, was siehest, was erblickst du jetzt? Dein erster Blick, da du über die Grenzen dieser Dunkelheit, dieses Erdenebels hinweg warst, in welch anderm, höhern Lichte zeigte er dir alles, was du hienieden sahest und suchtest? Wahrheit forschen, nicht erforscht haben, nach Gutem streben, nicht alle Güte bereits erfaßt haben, war hier dein Blick, dein strenges Geschäft, dein Studium, dein Leben. Augen und Herz suchtest du dir immer wach und wacker zu erhalten und warst keinem Laster so feind als der unbestimmten, kriechenden Heuchelei, unsrer gewohnten, täglichen Halblüge und Halbwahrheit, der falschen Höflichkeit,[271] die nie dienstfertig, der gleißenden Menschenliebe, die nie wohltätig sein will oder sein kann, am meisten, deinem Amt und Beruf nach, der langweiligen, schläfrigen Halbwahrheit, die wie Rost und Krebs in allem Wissen und Lernen von früh auf an menschlichen Seelen naget. Dies Ungeheuer und ihre ganze fürchterliche Brut gingst du wie ein Held an und hast deinen Kampf tapfer gekämpfet. Viele Stellen in deinen Büchern voll reiner Wahrheit, voll männlichen, festen Gefühls, voll goldner ewiger Güte und Schönheit werden, so lange Wahrheit Wahrheit ist und der menschliche Geist das, wozu er erschaffen ist, bleibet – sie werden aufmuntern, belehren, befestigen und Männer wecken, die auch wie du der Wahrheit durchaus dienen, jeder Wahrheit, selbst wo sie uns im Anfange fürchterlich und häßlich vorkäme, überzeugt, daß sie am Ende doch gute, erquickende, schöne Wahrheit werde. Wo du irrtest, wo dich dein Scharfsinn und dein immer tätiger, lebendiger Geist auf Abwege lockte, kurz, wo du ein Mensch warst, warst du es gewiß nicht gern und strebtest immer, ein ganzer Mensch, ein fortgehender, zunehmender Geist zu werden.

Verzeihe der Leser meine Apostrophe, die letzten Situationen seines Lebens rissen mich hin, und ich wollte eigentlich nichts über seinen Charakter sagen; den wird und kann sein näherer Freund besser schildern. Die Gottheit gab ihm einen guten Ausgang aus dem Leben ohne lang abmattende Krankheit und Leibesschwachheit.

Ich hoffe, daß wir noch eine schöne Ernte seiner vollendeten oder unvollendeten Schriften empfangen werden – ein kleiner Ersatz für sein zu frühes Ableben, für seinen auf lange Zeit unersetzten Verlust für Deutschland!

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 5, Weimar 1963, S. 255-272.
Erstdruck in: Teutscher Merkur (Weimar), 1781.
Lizenz:

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