Johann Gottfried Herder

Journal meiner Reise

im Jahr 1769

Den 23. Mai / 3. Jun. reisete ich aus Riga ab und den 25./5. ging ich in See, um ich weiß nicht wohin? zu gehen. Ein großer Teil unsrer Lebensbegebenheiten hänge würklich vom Wurf von[185] Zufällen ab. So kam ich nach Riga, so in mein geistliches Amt und so ward ich desselben los; so ging ich auf Reisen. Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter, weder in dem Kreise, da ich war; noch in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Ich gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war [für] mich zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremde, zu beschäftigt. Ich gefiel mir nicht, als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten, und eine faule, oft ekle Ruhe hatte. Am wenigsten endlich als Autor, wo ich ein Gerücht erregt hatte, das meinem Stande ebenso nachteilig, als meiner Person empfindlich war. Alles also war mir zuwider. Mut und Kräfte gnug hatte ich nicht, alle diese Mißsituationen zu zerstören, und mich ganz in eine andre Laufhahn hineinzuschwingen. Ich mußte also reisen: und da ich an der Möglichkeit hiezu verzweifelte, so schleunig, übertäubend, und fast abenteuerlich reisen, als ich konnte. So war's. Den 4./15. Mai Examen: d. 5./16. renonciert: d. 9./20. Erlassung erhalten: d. 10./21. die letzte Amtsverrichtung: d. 13./24. Einladung von der Krone: d. 17./28. Abschiedspredigt, d. 23./3. aus Riga: d. 25./5. in See.

Jeder Abschied ist betäubend. Man denkt und empfindet weniger, als man glaubte; die Tätigkeit, in die unsre Seele sich auf ihre eigne weitere Laufhahn wirft, überwindet die Empfindbarkeit über das, was man verläßt, und wenn insonderheit der Abschied lange dauret: so wird er so ermüdend, als im »Kaufmann zu London«. Nur denn aber erstlich siehet man, wie man Situationen hätte nutzen können, die man nicht genutzt hat: und so hatte ich mir jetzt schön sagen: ei! wenn du die Bibliothek besser genutzt hättest? wenn du in jedem, das dir oblag, dir zum Vergnügen, ein System entworfen hättest? in der Geschichte einzelner Reiche – – Gott! wie nutzbar, wenn es Hauptbeschäftigung gewesen wäre! in der Mathematik – – wie unendlich fruchtbar, von da aus, aus jedem Teile derselben, gründlich übersehen, und mit den reellsten Kenntnissen begründet, auf die Wissenschaften hinauszusehen! – – in der Physik und Naturgeschichte – – wie, wenn das Studium mit Büchern, Kupferstichen und Beispielen, so aufgeklärt wäre, als ich sie hätte haben können – und die französische Sprache mit alle diesem verbunden und zum Hauptzwecke gemacht! und von da aus also die Hénaults, die Vellys, die Montesquieu, die Voltaire, die St. Marcs, die Lacombe, die Coyers, die St. Réals, die Duclos, die Linguets und selbst die[186] Humes französisch studiert; von da aus, die Buffons, die D'Alemberts, die Maupertuis, die La Caille, die Eulers, die Kästners, die Newtone, die Keile, die Mariette, die Torricelli, die Nollets studiert; und endlich die Originalgeister des Ausdrucks, die Crébillons, die Sévigné, die Molière, die Ninons, die Voltaire, Beaumelle usw. hinzugetan – das wäre seine Laufbahn, seine Situation genutzt, und ihrer würdig geworden! Denn wäre diese mein Vergnügen und meine eigne Bildung; nie ermüdend, und nie vernachlässigt gewesen! Und mathematische Zeichnung, und französische Sprachübung, und Gewohnheit im historischen Vortrage dazugetan! – Gott! was verliert man, in gewissen Jahren, die man nie wieder zurückhaben kann, durch gewaltsame Leidenschaften, durch Leichtsinn, durch Hinreißung in die Laufhahn des Hazards.

Ich beklage mich, ich habe gewisse Jahre von meinem menschlichen Leben verloren: und lag's nicht bloß an mir sie zu genießen? bot mir nicht das Schicksal selbst die ganze fertige Anlage dazu dar? Die vorigen leichten Studien gewählt, französische Sprache, Geschichte, Naturkenntnis, schöne Mathematik, Zeichnung, Umgang, Talente des lebendigen Vortrages zum Hauptzwecke gemacht – in welche Gesellschaften hätten sie mich nicht bringen können? wie sehr nicht den Genuß meiner Jahre vorbereiten können? – Autor wäre ich alsdenn gottlob! nicht geworden, und wieviel Zeit damit nicht gewonnen? in wieviel Kühnheiten und Vielbeschäftigungen mich nicht verstiegen? wieviel falscher Ehre, Rangsucht, Empfindlichkeit, falscher Liebe zur Wissenschaft, wieviel betäubten Stunden des Kopfs, wie vielem Unsinn im Lesen, Schreiben und Denken dabei entgangen? – Prediger wäre ich alsdenn wahrscheinlicherweise nicht oder noch nicht geworden, und freilich so hätte ich viele Gelegenheit verloren, wo ich glaube, die besten Eindrücke gemacht zu haben; aber welcher übeln Falte wäre ich auch damit entwichen! Ich hätte meine Jahre genießen, gründliche, reelle Wissenschaft kennen, und alles anwenden gelernt, was ich lernte. Ich wäre nicht ein Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei, nicht ein Wörterbuch von Künsten und Wissenschaften geworden, die ich nicht gesehen habe und nicht verstehe: ich wäre nicht ein Repositorium voll Papiere und Bücher geworden, das nur in die Studierstube gehört. Ich wäre Situationen entgangen, die meinen Geist einschlossen und also auf eine falsche intensive Menschenkenntnis einschränkten, da er Welt, Menschen, Gesellschaften, Frauenzimmer,[187] Vergnügen, lieber extensiv, mit der edlen feurigen Neubegierde eines Jünglinges, der in die Welt eintritt, und rasch und unermüdet von einem zum andern läuft, hätte kennenlernen sollen. Welch ein andres Gebäude einer andern Seele! Zart, reich, sachenvoll, nicht wort gelehrt, munter, lebend, wie ein Jüngling! einst ein glücklicher Mann! einst ein glücklicher Greis! – O was ist's für ein unersetzlicher Schade, Früchte affektieren zu wollen, und zu müssen, wenn man nur Blüte tragen soll! Jene sind unecht, zu frühzeitig, fallen nicht bloß selbst ab, sondern zeigen auch vom Verderben des Baums! »Ich wäre aber alsdenn das nicht geworden, was ich bin!« Gut, und was hätte ich daran verloren? wieviel hätte ich dabei gewonnen!

O Gott, der den Grundstoff menschlicher Geister kennet, und in ihre körperliche Scherbe eingepaßt hast, ist's allein zum Ganzen, oder auch zur Glückseligkeit des einzeln nötig gewesen, daß es Seelen gebe, die durch eine schüchterne Betäubung gleichsam in diese Welt getreten, nie wissen, was sie tun, und tun werden; nie dahin kommen, wo sie wollen, und zu kommen gedachten; nie da sind, wo sie sind, und nur durch solche Schauder von Lebhaftigkeit aus Zustand in Zustand hinüberrauschen, und staunen, wo sie sich finden? Wenn o Gott, du Vater der Seelen, finden diese Ruhe und philosophischen Gleichschritt? in dieser Welt? in ihrem Alter wenigstens? oder sind sie bestimmt, durch ebensolchen Schauer frühzeitig ihr Leben zu endigen, wo sie nichts recht gewesen, und nichts recht genossen, und alles wie in der Eil eines erschrocknen, weggehenden Wandrers erwischt haben; und alsdenn gar durch einen diesem Leben ähnlichen Tod, eine neue ähnliche Wallfahrt anzutreten? Vater der Menschen! wirst du es würdigen, mich zu belehren?

So denkt man, wenn man aus Situation in Situation tritt, und was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! Das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke, der weite unendliche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen toten Punkt angeheftet; und in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen. Oft ist jener der Studierstuhl in einer dumpfen Kammer, der Sitz an einem einförmigen, gemieteten Tische, eine Kanzel, ein Katheder – oft ist diese, eine kleine Stadt, ein Abgott von Publikum aus dreien, auf die man horchet, und ein Einerlei von Beschäftigung, in welche uns Gewohnheit[188] und Anmaßung stoßen. Wie klein und eingeschränkt wird da Leben, Ehre, Achtung, Wunsch, Furcht, Haß, Abneigung, Liebe, Freundschaft, Lust zu lernen, Beschäftigung, Neigung – wie enge und eingeschränkt endlich der ganze Geist. Nun trete man mit einmal heraus, oder vielmehr ohne Bücher, Schriften, Beschäftigung und homogene Gesellschaft werde man herausgeworfen – welch eine andre Aussicht! Wo ist das feste Land, auf dem ich so feste stand? und die kleine Kanzel und der Lehnstuhl und das Katheder, worauf ich mich brüstete? wo sind die, für denen ich mich fürchtete, und die ich liebte! – – o Seele, wie wird dir's sein, wenn du aus dieser Welt hinaustrittst? Der enge, feste, eingeschränkte Mittelpunkt ist verschwunden, du flatterst in den Lüften, oder schwimmst auf einem Meere – die Welt verschwindet dir – ist unter dir verschwunden! – Welch neue Denkart! aber sie kostet Tränen, Reue, Herauswindung aus dem Alten, Selbstverdammung! – bis auf meine Tugend war ich nicht mehr mit mir zufrieden; ich sah sie für nichts, als Schwäche, für einen abstrakten Namen an, den die ganze Welt von Jugend auf realisieren lernt! Es sei Seeluft, Einwürkung von Seegerichten, unsteter Schlaf, oder was es sei, ich hatte Stunden, wo ich keine Tugend, selbst nicht bis auf die Tugend einer Ehegattin, die ich doch für den höchsten und reellsten Grad gehalten hatte, begreifen konnte! Selbst bei Besserung der Menschen; ich nehme menschliche Realitäten aus, fand ich nur Schwächung der Charaktere, Selbstpein, oder Änderung der falschen Seiten – o warum ist man durch die Sprache, zu abstrakten Schattenbildern, wie zu Körpern, wie zu existierenden Realitäten verwöhnt! – – Wenn werde ich so weit sein, um alles, was ich gelernt, in mir zu zerstören, und nur selbst zu erfinden, was ich denke und lerne und glaube. – Gespielen und Gespielinnen meiner Jugendjahre, was werde ich euch zu sagen haben, wenn ich euch wiedersehe und euch auch über die Dunkelheit erleuchte, die mir selbst noch anhing! Nichts, als menschliches Leben und Glückseligkeit, ist Tugend: jedes Datum ist Handlung; alles übrige ist Schatten, ist Räsonnement. Zuviel Keuschheit, die da schwächt; ist ebenso wohl Laster, als zuviel Unkeuschheit: jede Versagung sollte nur Negation sein: sie zur Privation, und diese gar zum Positiven der Haupttugend zu machen – wo kommen wir hin? – Gespielin meiner Liebe, jede Empfindbarkeit, die du verdammest, und ich blind gnug bin, um nicht zu erkennen, ist auch Tugend, und mehr als die, wovon du rühmest, und wofür ich mich fürchte.[189]

Du bist tugendhaft gewesen: zeige mir deine Tugend auf. Sie ist null, sie ist nichts! Sie ist ein Gewebe von Entsagungen, ein Fazit von Zeros. Wer sieht sie an dir? Der, dem du zu Ehren sie dichtest? Oder du? du würdest sie wie alles vergessen, und dich, so wie zu manchem, gewöhnen? O es ist zweiseitige Schwäche von einer und der andern Seite, und wir nennen sie mit dem großen Namen Tugend!

Die ersten Unterredungen sind natürlich Familiengespräche, in denen man Charaktere kennenlernt, die man vorher nicht kannte: so habe ich einen tracassier, einen verwahrloseten Garçon usw. kennengelernt. Alsdenn wirft man sich gern in Ideen zurück, an die man gewöhnt war: und so ward ich Philosoph auf dem Schiffe – Philosoph aber, der es noch schlecht gelernt hatte, ohne Bücher und Instrumente aus der Natur zu philosophieren. Hätte ich dies gekonnt, welcher Standpunkt, unter einem Maste auf dem weiten Ozean sitzend, über Himmel, Sonne, Sterne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch, Seegrund philosophieren, und die Physik alles dessen, aus sich herausfinden zu können. Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt sein, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest! Stelle dich mit ihm aufs weite Meer, und zeige ihm Fakta und Realitäten, und erkläre sie ihm nicht mit Worten, sondern laß ihn sich alles selbst erklären. Und ich, wenn ich Nollet, und Kästner und Newton lesen werde, auch ich will mich unter den Mast stellen, wo ich saß, und den Funken der Elektrizität vom Stoß der Welle, bis ins Gewitter führen, und den Druck des Wassers, bis zum Druck der Luft und der Winde erheben, und die Bewegung des Schiffes, um welche sich das Wasser umschließt, bis zur Gestalt und Bewegung der Gestirne verfolgen, und nicht eher auf hören, bis ich mir selbst alles weiß, da ich bis jetzt mir selbst nichts weiß.

Wasser ist eine schwerere Luft: Wellen und Ströme sind seine Winde: die Fische seine Bewohner: der Wassergrund ist eine neue Erde! Wer kennet diese? Welcher Kolumb und Galilei kann sie entdecken? Welche urinatorische neue Schiffahrt; und welche neue Ferngläser in diese Weite sind noch zu erfinden? Sind die letzten nicht möglich, um die Sonnenstrahlen bei stillem Wetter zu vereinigen und gleichsam das Medium des Seewassers, damit zu überwinden? Was würde der urinatorischen Kunst und der Schiffahrt nicht dadurch für unendliche Leichtigkeit gegeben? Welche neue Seekarten sind über den Ozean hinaus zu entdecken,[190] und zu verfertigen, die jetzt nur Schiff- und Klippenkarten sind! Welche neue Kräuter für einen neuen Tournefort, wovon die Korallen nur eine Probe sind! Welche neue Welt von Tieren, die unten im Seegrunde, wie wir auf der Erde leben, und nichts von ihnen, Gestalt, Nahrung, Aufenthalt, Arten, Wesen, nichts kennen! Die Fische, die oben hinauffahren, sind nur Vögel; ihre Floßfedern nur Flügel: ihr Schwimmen, Fliegen oder Flattern. Wer wird nach ihnen alles bestimmen wollen, was in der See ist? wie? wenn sich ein Sperling in den Mond erhübe, wäre er für unsre Erde Naturregister? – Der kalte Norden scheint hier der Geburtsort so gut der Seeungeheuer zu sein, als er's der Barbaren, der Menschenriesen, und Weltverwüster gewesen. Walfische und große Schlangen und was weiß ich mehr? Hierüber will ich Pontoppidan lesen, und ich werde in den Horden ziehender Heringe (die immer feiner werden, je weiter sie nach Süden kommen; sich aber nicht so weit wie die Vandalen und Langobarden, wagen, um nicht, wie sie, weibisch, krank, und vernichtigt zu werden, sondern zurückziehen) die Geschichte wandernder nordischer Völker finden – welche große Aussicht auf die Natur der Menschen und Seegeschöpfen, und Klimaten, um sie, und eins aus dem andern und die Geschichte der Weltszenen zu erklären. Ist Norden oder Süden, Morgen, oder Abend die Vagina hominum gewesen? Welches der Ursprung des Menschengeschlechts, der Erfindungen und Künste und Religionen? Ist's, daß sich jenes von Morgen nach Norden gestürzt, sich da in den Gebürgen der Kälte, wie die Fischungeheuer unter Eisschollen erhalten, in seiner Riesenstärke fortgepflanzt, die Religion der Grausamkeit, seinem Klima nach, erfunden, und sich mit seinem Schwert und seinem Recht und seinen Sitten über Europa fortgestürzt hat? Ist dies, so sehe ich zwei Ströme, von denen der eine aus Orient, über Griechenland und Italien sich ins südliche Europa sanft senkt, und auch eine sanfte, südliche Religion, eine Poesie der Einbildungskraft, eine Musik, Kunst, Sittsamkeit, Wissenschaft des östlichen Südens erfunden hat. Der zweite Strom geht über Norden von Asien nach Europa; von da überströmt er jenen. Deutschland gehörte zu ihm, und sollte recht in seinem Vaterlande sein, diese Geschichte Nordens zu studieren: denn es ist gottlob! nur in Wissenschaft ein Trupp südlicher Kolonien geworden. Ist dies, wird der dritte Strom nicht aus Amerika hinüberrauschen, und der letzte vielleicht vom Vorgebürge der Hoffnung her, und von der Welt, die hinter ihm liegt! Welche große Geschichte, um die[191] Literatur zu studieren, in ihren Ursprüngen, in ihrer Fortpflanzung, in ihrer Revolution, bis jetzt! Alsdenn aus den Sitten Amerikas, Afrikas und einer neuen südlichen Welt, besser als Ihre, den Zustand der künftigen Literatur und Weltgeschichte zu weissagen! Welch ein Newton gehört zu diesem Werke? Wo ist der erste Punkt? Eden, oder Arabien? China oder Ägypten? Abyssinien oder Phönizien? Die ersten beiden sind alsdenn entschieden, wenn es bewiesen ist, daß die arabische Sprache eine Tochter der Altebräischen sei, und die ersten Monumente des menschlichen Geschlechts keine arabische Verkleidungen sind. Die zweiten sind denn entschieden, wenn China nach der Deguignischen Hypothese als eine Tochter Ägyptens bewiesen, oder gar gezeigt würde, daß sie sich nach Indien, nach Persien und denn erst nach Asien ausgebreitet. Die dritten sind denn aboliert, wenn Abyssinien bloß als eine Tochter Ägyptens und nicht das Gegenteil gezeigt würde, was Ludolf u.a. behaupten: und Phönizien, als eine Tochter Asiens oder Ägyptens erschiene, nicht aber, wie es aus ihrem Alphabet Schein gibt, selbst älter, als Moses wäre. Wieviel Zeitalter der Literatur mögen also verlebt sein, ehe wir wissen und denken können! Das phönizische? oder das ägyptische? das chinesische? das arabische? das äthiopische? oder nichts von allem! so daß wir mit unserm Moses auf der rechten Stelle stehen! Wieviel ist hier noch zu suchen und auszumachen! Unser Zeitalter reift dazu durch unsre Deguignes, Michaelis und Starken! – – Und das wäre erst Ursprung! Nun die Züge! die Origines Griechenlands, aus Ägypten oder Phönizien? Hetruriens, aus Ägypten oder Phönizien, oder Griechenland? – – Nun die Origines Nordens, aus Asien, oder Indien, oder aborigines? Und der neuen Araber? aus der Tartarei oder China! und jedes Beschaffenheit und Gestalt, und denn die künftigen Gestalten der amerikanisch-afrikanischen Literatur, Religion, Sitten, Denkart und Rechte – – – Welch ein Werk über das menschliche Geschlecht! den menschlichen Geist! die Kultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Polizei und Philosophie! Ägyptische Kunst und Philosophie und Polizei! Phönizische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches alles! Römisches alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! Nordisch-asiatische Kreuzzieher, Wallfahrter, Ritter! Christliche heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! Jahrhundert Frankreichs! Englische, holländische, deutsche[192] Gestalt! – Chinesische, japonische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten usw. – – Großes Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt!

Ich komme wieder aufs Meer zurück und in seinen Grund. Ist da nicht solch eine Kette von Geschöpfen, wie auf der Erde? Und wo die Seemenschen? Tritonen und Sirenen sind Erdichtungen, aber daß es nicht wenigstens Meeraffen gebe, glaube ich sehr wohl. Maupertuis' Leiter wird nicht voll, bis das Meer entdeckt ist. Natürlich können sie so wenig schwimmen, wie wir fliegen. Der Fisch fühlt wenig: sein Kopf, seine Schuppen – sind, was dem Vogel Federn und sein Kopf, jedes in sein Element. Da singt der Luftvogel und dazu sein Kopf: der Fisch, was tut er? was hat er für neue Wassersinne, die wir Luft-Erden-Geschöpfe nicht fühlen? Sind sie nicht analogisch zu entdecken? Wenn ein Mensch je die magnetische Kraft innewürde, so wäre es ein Blinder, der nur hören und fühlen, oder gar ein Blinder, Tauber, Geruch- und Geschmackloser, der nur fühlen könnte: was hat ein Fisch für Sinne? in der Dämmerung des Wassers siehet er: in der schweren Luft höret er: in ihrer dicken Schale fühlt die Auster – welch ein Gefühl, daß solche starke Haut nötig war, sie zu decken, daß Schuppen nötig waren, sie zu überkleiden? aber ein Gefühl welcher Dinge! vermutlich ganz andrer, als irdischer.

Wie sich Welle in Welle bricht: so fließen die Luftundulationen und Schälle ineinander. Die Sinnlichkeit der Wasserwelt verhält sich also wie das Wasser zur Luft in Hören und Sehen! Ei wie Geruch, Geschmack und Gefühl? – Wie die Welle das Schiff umschließt: so die Luft den sich bewegenden Erdball: dieser hat zum eignen Schwunge seine Form, wie das unvollkommene Schiff zum Winde! Jener wälzt sich durch, durch eigne Kraft: dieser durchschneidet das Wasser durch Kraft des Windes! Der elektrische Funke, der das Schiff umfließt, was ist er bei einer ganzen Welt? Nordlicht? Magnetische Kraft? – Die Fische lieben sich, daß sie sich, wo kaum eine dünnere Schuppe ist, aneinander reiben, und das gibt, welche Millionen Eier! Der unempfindliche Krebs und der Mensch, welche Einwürkung und Zubereitung haben sie nicht nötig! – Kennet der Fisch Gattin? sind die Gesetze der Ehe anders, als untergeordnete Gesetze der Fortpflanzung des Universum?

Das Schiff ist das Urbild einer sehr besondern und strengen[193] Regierungsform. Da es ein kleiner Staate ist, der überall Feinde um sich siehet, Himmel, Ungewitter, Wind, See, Strom, Klippe, Nacht, andre Schiffe, Ufer, so gehöre ein Gouvernement dazu, das dem Despotismus der ersten feindlichen Zeiten nahe komme. Hier ist ein Monarch und sein erster Minister, der Steuermann: alles hinter ihm hat seine angewiesenen Stellen und Ämter, deren Vernachlässigung und Empörung insonderheit so scharf bestraft wird. Daß Rußland noch keine gute Seeflotte hat: hängt also von zwei Ursachen ab. Zuerst, daß auf ihren Schiffen keine Subordination ist, die doch hier die strengste sein sollte; sonst geht das ganze Schiff verloren. Anekdoten im Leben Peters zeigen, daß er sich selbst dieser Ordnung unterwerfen, und mit dem Degen in der Hand in die Kajüte habe hineinstoßen lassen müssen, weil er unrecht kommandierte. Zweitens, daß nicht jedes seinen bestimmten Platz hat, sondern alles zu allem gebraucht wird. Der alte abgelebte Soldat wird Matrose, der nichts mehr zu lernen Lust und Kraft [hat], und dünkt sich bald, wenn er kaum ein Segel hinanklettern kann, Seemann. In den alten Zeiten wäre dies tunlich gewesen, da die Seefahrt als Kunst nichts war, da die Schiffe eine Anzahl Ruder und Hände und Menschen und Soldaten und weiter nichts enthielten. Jetzt aber, gibt's keine zusammengesetztere Kunst, als die Schiffskunst. Da hänge von einem Versehen, von einer Unwissenheit alles ab. Von Jugend auf müßte also der Russe so zur See gewöhnt [werden], und unter andern Nationen erst lernen, ehe er ausübt. Aber sagt mein Freund, das ist ihr Grundfehler in allem. Leichter nachzuahmen, zu arripieren ist keine Nation, als sie; alsdenn aber, da sie alles zu wissen glaubt, forscht sie nie weiter und bleibt also immer und in allem stümperhaft. So ist's; auf Reisen welche Nation nachahmender? in den Sitten und der französischen Sprache, welche leichter? in allen Handwerken, Fabriken, Künsten; aber alles nur bis auf einen gewissen Grad. Ich sehe in dieser Nachahmungsbegierde, in dieser kindischen Neuerungssuche nichts als gute Anlage einer Nation, die sich bildet, und auf dem rechten Wege bildet: die überall lernt, nachahmt, sammlet: laß sie sammlen, lernen, unvollkommen bleiben; nur komme auch eine Zeit, ein Monarch, ein Jahrhundert, das sie zur Vollkommenheit führe. Welche große Arbeit des Geistes ist hier, für einen Politiker, darüber zu denken, wie die Kräfte einer jugendlichen halbwilden Nation können gereift und zu einem Originalvolk gemacht werden. – – Peter der Große bleibt immer Schöpfer, der die Morgenröte[194] und einen möglichen Tag schuf; der Mittag bleibt noch aufgehoben und das große Werk »Kultur einer Nation zur Vollkommenheit«!

Die Schiffsleute sind immer ein Volk, das am Aberglauben und Wunderbaren für andern hängt. Da sie genötigt sind, auf Wind und Wetter, auf kleine Zeichen und Vorboten achtzugeben, da ihr Schicksal von Phänomenen in der Höhe abhängt: so gibt dies schon Anlaß gnug auf Zeichen und Vorboten zu merken, und also eine Art von ehrerbietigen Anstaunung und Zeichenforschung. Da nun diese Sachen äußerst wichtig sind; da Tod und Leben davon abhängt: welcher Mensch wird im Sturm einer fürchterlich dunkeln Nacht, im Ungewitter, an Örtern, wo überall der blasse Tod wohnt, nicht beten? Wo menschliche Hülfe aufhört, setzt der Mensch immer, sich selbst wenigstens zum Trost göttliche Hülfe, und der unwissende Mensch zumal, der von zehn Phänomenen der Natur nur das zehnte als natürlich einsiehet, den alsdenn das Zufällige, das Plötzliche, das Erstaunende, das Unvermeidliche schrecket? O der glaubt und betet; wenn er auch sonst, wie der meinige, ein grober Ruchloser wäre. Er wird in Absicht auf Seedinge fromme Formeln im Munde haben, und nicht fragen: wie war Jonas im Walfisch? denn nichts ist dem großen Gott unmöglich: wenn er auch sonst sich ganz völlig eine Religion glaubt machen zu können, und die Bibel für nichts hält. Die ganze Schiffsprache, das Aufwecken, Stundenabsagen, ist daher in frommen Ausdrücken, und so feierlich, als ein Gesang, aus dem Bauche des Schiffs. – – In allem liegen Data, die erste mythologische Zeit zu erklären. Da man unkundig der Natur auf Zeichen horchte, und horchen mußte: da war für Schiffer, die nach Griechenland kamen und die See nicht kannten, der Flug eines Vogels eine feierliche Sache, wie er's auch würklich im großen Expansum der Luft und auf der wüsten See ist. Da ward der Blitzstrahl Jupiters fürchterlich, wie er's auch auf der See ist: Zeus rollete durch den Himmel, und schärfte Blitze, um sündige Haine, oder Gewässer zu schlagen. Mit welcher Ehrfurcht betete man da nicht den stillen silbernen Mond an, der so groß und allein dasteht und so mächtig würkt, auf Luft, Meer und Zeiten. Mit welcher Begierde horchte man da auf gewisse hülfsbringende Sterne, auf einen Kastor und Pollux, Venus usw. wie der Schiffer in einer neblichten Nacht. Auf mich selbst, der ich alle diese Sachen kannte, und von Jugend auf unter ganz andern Anzeigungen gesehn hatte, machte der Flug eines Vogels,[195] und der Blitzstrahl des Gewässers, und der stille Mond des Abends andre Eindrücke, als sie zu Lande gemacht hatten, und nun auf einen Seefahrer, der unkundig der See, vielleicht als ein Vertriebener seines Vaterlandes, als ein Jüngling, der seinen Vater erschlagen, ein fremdes Land suchte. Wie kniete der für Donner und Blitz und Adler? wie natürlich dem, in der obern Luftsphäre den Sitz Jupiters zu sehen? wie tröstlich dem, mit seinem Gebete diese Dinge lenken zu können! Wie natürlich dem, die Sonne, die sich ins Meer taucht, mit den Farben des fahrenden Phöbus, und die Aurora mit aller ihrer Schönheit zu malen? Es gibt tausend neue und natürlichere Erklärungen der Mythologie, oder vielmehr tausend innigere Empfindungen ihrer ältesten Poeten, wenn man einen Orpheus, Homer, Pindar, insonderheit den ersten zu Schiffe lieset. Seefahrer waren's, die den Griechen ihre erste Religion brachten: ganz Griechenland war an der See Kolonie: es konnte also nicht eine Mythologie haben, wie Ägypter und Araber hinter ihren Sandwüsten, sondern eine Religion der Fremde, des Meeres und der Haine: sie muß also auch zur See gelesen werden. Und da wir ein solches Buch noch durchaus nicht haben, was hätte ich gegeben, um einen Orpheus und eine Odyssee zu Schiff lesen zu können. Wenn ich sie lese, will ich mich dahin zurücksetzen: so auch Damm, und Banier und Spanheim lesen und verbessern und auf der See meinen Orpheus, Homer und Pindar fühlen. Wie weit ihre Einbildungskraft dabei gegangen ist, zeigen die Delphinen. Was Schönes und Menschenfreundliches in ihrem Blicke ist nicht; allein ihr Spielen um das Schiff, ihr Jagen bei stillem Wetter, ihr Aufprallen und Untersinken, das gab zu Fabeln derselben Gelegenheit. Ein Delphin hat ihn entführt, ist ebensoviel, als Aurora hat ihn weggeraubt: zwei Umstände kommen zusammen und sie müssen also die Folge sein voneinander. So ist Virgils verwandelter Mast, die Nymphen, Sirenen, Tritonen usw. gleichsam von der See aus, leicht zu erklären, und wird gleichsam anschaulich. Das Fürchterliche der Nacht und des Nebels usw. Doch ich habe eine bessere Anmerkung, die mehr auf das Wunderbare, Dichterische ihrer Erzählungen führet.

Mit welcher Andacht lassen sich auf dem Schiff Geschichten hören und erzählen? und ein Seemann wie sehr wird der zum Abenteurlichen derselben disponiert? Er selbst, der gleichsam ein halber Abenteurer andre fremde Welten sucht, was sieht er nicht für Abenteurlichkeiten bei einem ersten stutzigen Anblick?[196] habe ich dasselbe nicht selbst bei jedem neuen Eintritt in Land, Zeit, Ufer usw. erfahren? wie oft habe ich mir gesagt: ist das das, was du zuerst da sahest? Und so macht schon der erste staunende Anblick gigantische Erzählungen, Argonautika, Odysseen, lucianische Reisebeschreibungen usw. Das ist das Frappante der ersten Dämmerungsgesichte; was siehet man in ihnen nicht? Ein Schiffer ist auf solche erste Wahrzeichen recht begierig: nach seiner langen Reise, wie wünscht er nicht Land zu sehen? und ein neues fremdes Land, was denkt er sich da nicht für Wahrzeichen? Mit welchem Staunen ging ich nicht zu Schiff? sahe ich nicht zum erstenmal alles wunderbarer, größer, staunender, furchtbarer, als nachher, da mir alles bekannt war, da ich das Schiff durchspazierte? Mit welcher Neuerungssucht geht man gegen Land? Wie betrachtet man den ersten Piloten mit seinen hölzernen Schuhen und seinem großen weißen Hut? Man glaubt in ihm die ganze französische Nation bis auf ihren König Ludwig den Großen zu sehen? Wie begierig ist man aufs erste Gesicht, auf die ersten Gesichter; sollten es auch nur alte Weiber sein; sie sind jetzt nichts als fremde Seltenheiten, Französinnen. Wie bildet man sich zuerst Begriffe, nach einem Hause, nach wenigen Personen, und wie langsam kommt man dahin zu sagen, ich kenne ein Land? Nun nehme man diese Begierde, Wunder zu sehen, diese Gewohnheit des Auges zuerst Wunder zu finden, zusammen: wo werden wahre Erzählungen? wie wird alles poetisch? Ohne daß man lügen kann und will, wird Herodot ein Dichter; wie neu ist er, und Orpheus und Homer und Pindar und die tragischen Dichter in diesem Betracht zu lesen! –

Ich geht weiter. Ein Schiffer, lange an solches Abenteuerliche gewohnt, glaubt's, erzählt's weiter: es wird von Schiffern und Kindern und Narren mit Begierde gehört, forterzählt – und nun? was gibt's da nicht für Geschichten, die man jetzt von Ost- und Westindien, mit halbverstümmelten Namen und alles unter dem Schein des Wunderbaren höret. Von großen Seehelden und Seeräubern, deren Kopf nach dem Tode so weit fort gelaufen, und endlich gibt das eine Denkart, die alle Erzählungen vom Ritter mit dem Schwan, von Joh. Mandeville usw. glaubt, erzählt, möglich findet, und selbst wenn man sie unmöglich findet, noch erzählt, noch glaubt, warum? man hat sie in der Jugend gelesen: da paßten sie sich mit allen abenteuerlichen Erwartungen, die man sich machte: sie weckten also die Seele eines künftigen Seemannes auf, bildeten sie zu ihren Träumen, und bleiben[197] unverweslich. Eine spätere Vernunft, der Anschein eines Augenblicks kann nicht Träume der Kindheit, den Glauben eines ganzes Lebens zerstören: jede etwas ähnliche Erzählung, die man als wahr gehört (obgleich von Unwissenden, von halben Abenteurern) hat sie bestätigt: jedes Abenteuer, das wir selbst erfahren, bestätigt – wer will sie widerlegen? Wie schwer ist's, zu zeigen, daß es kein Paradies mit feurigen Drachen bewahrt, keine Hölle Mandevilles, keinen Babylonischen Turm, gebe? Daß der Kaiser von Siam in seinem Golde das nicht sei, was er in solcher Dichtung vorstelle? Daß die weißen Schwanen und der Ritter mit ihnen Possen sind? Es ist schwer zu glauben sagt man höchstens, und erzählt's fort: – oder streitet dafür mehr als für die Bibel. Ist aber ein solcher Leichtgläubiger deswegen in jeder Absicht ein Tor, ein dummes Vieh? o wahrhaftig nicht. Solche Träume und geglaubte Possen seines Standes, seiner Erziehung, seiner Bildung, seiner Denkart ausgenommen, und er kann ein sehr vernünftiger, tätiger, tüchtiger, kluger Kerl sein.

Hieraus wird erstlich eine philosophische Theorie möglich, die den Glauben an eine Mythologie und an Fabeln der Erzählung erklärt. Unter Juden und Arabern und Griechen und Römern ist diese verändert: im Grunde aber, in den Vorurteilen der Kindheit, in der Gewohnheit zuerst Fabel zu sehen, in der Begierde sie zu hören, wenn unsre eigne Begebenheiten uns dazu auflegen, in der Leichtigkeit, sie zu fassen, in der Gewohnheit, sie oft zu erzählen, und erzählt zu haben und geglaubt zu sein, und doch manches damit erklären zu können, sollte es auch nur sein, daß Gott nichts unmöglich sei oder andre fromme Moralen – das sind die Stützen, die sie unterhalten, und die sehr verdienen, erklärt zu werden. Hier bietet sich eine Menge Phänomena aus der menschlichen Seele; dem ersten Bilde der Einbildungskraft, aus den Träumen, die wir in der Kindheit lange still bei uns tragen; aus dem Eindruck jedes Schalles, der diesen sausenden Ton, der in dunkeln Ideen fortdämmert, begünstigt und verstärkt; aus der Neigung, gern Sänger des Wunderbaren sein zu wollen; aus der Verstärkung, die jeder fremde Glaube zu dem unsrigen hinzutut; aus der Leichtigkeit, wie wir aus der Jugend unvergeßliche Dinge erzählen – – tausend Phänomena, deren jedes aus der Fabel der ersten Welt ein angenehmes Beispiel fände, und viel subjektiv in der Seele, objektiv in der alten Poesie, Geschichte, Fabel erklärte. Das wäre eine Theorie der Fabel, eine philosophische Geschichte wachender Träume, eine genetische Erklärung[198] des Wunderbaren und Abenteuerlichen aus der menschlichen Natur, eine Logik für das Dichtungsvermögen: und über alle Zeiten, Völker und Gattungen der Fabel, von Chinesern zu Juden, Juden Ägyptern, Griechen, Normännern geführt – wie groß, wie nützlich! Was Don Quijote verspottet, würde das erklären, und Cervantes wäre dazu ein großer Autor.

Zweitens siehet man hieraus, wie eine relative Sache die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit sei. Sie richtet sich nach ersten Eindrücken: nach ihrer Masse, Gestalt und Vielheit. Sie richtet sich nach der Langwierigkeit und Öfterheit ihrer Bestätigungen: nach einer Anzahl von Konkurrenzen, die ihr die Hand zu bieten schienen: nach Zeiten, Sachen, Menschen. Ein Volk hat sie in dieser Sache anders, in andrer Gestalt, und Graden, als ein anders. Wir lachen die griechische Mythologie aus, und jeder macht sich vielleicht die seinige. Der Pöbel hat sie in tausend Sachen: ist seine Unwahrscheinlichkeit dieselbe, als des zweifelnden Philosophen, des untersuchenden Naturkundigen? Klopstocks dieselbe als Hume, oder Moses in eben der Sphäre? Jeder Erfinder von Hypothesen welche eigne Art Unwahrscheinlichkeiten zu messen: Hermann v. der Hardt? Harduin? Leibniz, und Plato, die beiden größten Köpfe zu Hypothesen in der Welt: Descartes, wie zweifelnd, wie mißtrauisch und welche Hypothesen? Es gibt also eine eigne Gestalt des Gefühls von Wahrscheinlichkeiten, nach dem Maß der Seelenkräfte, nach Proportion der Einbildungskraft zum Urteil, des Scharfsinns zum Witze, des Verstandes zur ersten Lebhaftigkeit der Eindrücke, usw. welche Theorie der Wahrscheinlichkeit aus der menschlichen Seele hinter Hume, Moses, Bernouille, und Lambert.

Jeder Stand, jede Lebensart hat ihre eignen Sitten: Hume hat in Geschichte und politischen Versuchen viele solcher Charaktere sehr auszeichnend gegeben: ich lerne aus einzelnen Menschen Klassen und Völker kennen. Ein solcher Schiffer – welch Gemisch von Aberglauben und Tollkühnheit: von roher Größe und Unnutzbarkeit: von Zutrauen auf sich und Feindseligkeit mit andern; in vielen Stücken wird ein alter Held kennbar: Wie er von sich erzählet, auf seine Kräfte pocht, seine Belesenheit für untrüglich, die Summe gemachter Entdeckungen für die höchste, Holland auf dem höchsten Grade hält: seine rohen Liebesbegebenheiten, die ebenso unwahrscheinlich sind, seine Heldentaten usw. daher kramet – – doch gnug von solcher Charakteristik[199] des Pöbels. Es wäre besser gewesen, wenn ich einen Euler oder Bouguer und La Caille von der Schiffahrt, Schiffsbau, Pilotage usw. gehabt hätte – ein Teil der Mathematik, den ich noch notwendig lebendig studieren muß. Jetzt wenn ich den Hiob aus der Sandwüste las, so war es dem Ort ebenso unangemessen, als ein hebräisches Lexikon zu studieren. Auf dem Meer muß man nicht Gartenidyllen, und Georgika, sondern Romane, abenteurliche Geschichten, Robinsons, Odysseen und Äneiden lesen! So fliegt man mit den Fittichen des Windes, und schifft mit dem abenteurlichen Seehelden: statt daß jetzt die Bewegung des Geistes und des Körpers entgegenstreben.

Man bildet sich ein, daß man auf Meeren, indem man Länder und Weltteile vorbeifliegt, man viel von ihnen denken werde: allein diese Länder und Weltteile siehet man nicht. Sie sind nur fernher stehende Nebel, und so sind auch meistens die Ideen von ihnen für gemeine Seelen. Es ist kein Unterschied, ob das jetzt das kurische, preußische, pommersche, dänische, schwedische, norwegische, holländische, englische, französische Meer ist: wie unsre Schiffahrt geht, ist's nur überall Meer. Die Schiffahrt der Alten war hierin anders. Sie zeigte Küsten, und Menschengattungen: in ihren Schlachten redeten Charaktere und Menschen – jetzt ist alles Kunst, Schlacht und Krieg und Seefahrt und alles. Ich wollte den Reisebeschreiber zu Hülfe nehmen, um an den Küsten jedes Landes dasselbe zu denken, als ob ich's sähe; aber noch vergebens. Ich fand nichts, als Okularverzeichnisse und sahe nichts, als entfernte Küsten. Livland, du Provinz der Barbarei und des Luxus, der Unwissenheit, und eines angemaßten Geschmacks, der Freiheit und der Sklaverei, wieviel wäre in dir zu tun? Zu tun, um die Barbarei zu zerstören, die Unwissenheit auszurotten, die Kultur und Freiheit auszubreiten, ein zweiter Zwinglius, Calvin und Luther, dieser Provinz zu werden. Kann ich's werden? habe ich dazu Anlage, Gelegenheit, Talente? was muß ich tun, um es zu werden? was muß ich zerstören? Ich frage noch! Unnütze Kritiken, und tote Untersuchungen aufgeben; mich über Streitigkeiten und Bücherverdienste erheben, mich zum Nutzen und zur Bildung der lebenden Welt einweihen, das Zutrauen der Regierung, des Gouvernements und Hofes gewinnen, Frankreich, England und Italien und Deutschland in diesem Betracht durchreisen, französische Sprache und Wohlstand, englischen Geist der Realität und Freiheit, italienischen Geschmack feiner Erfindungen, deutsche Gründlichkeit und Kenntnisse, und[200] endlich, wo es nötig ist, holländische Gelehrsamkeit einsammlen, große Begriffe von mir, und große Absichten in mir erwecken, mich meinem Zeitalter bequemen, und den Geist der Gesetzgebung, des Kommerzes und der Polizei gewinnen, alles im Gesichtspunkt von Politik, Staat und Finanzen einzusehen wagen, keine Blößen mehr geben und die vorigen so kurz und gut, als möglich zu verbessern suchen, Nächte und Tage darauf denken, dieser Genius Livlands zu werden, es tot und lebendig kennenzulernen, alles praktisch zu denken und zu unternehmen, mich anzugewöhnen, Welt, Adel und Menschen zu überreden, auf meine Seite zu bringen wissen – edler Jüngling! das alles schläft in dir? aber unausgeführt und verwahrloset! Die Kleinheit deiner Erziehung, die Sklaverei deines Geburtslandes, der Bagatellenkram deines Jahrhunderts, die Unstetigkeit deiner Laufhahn hat dich eingeschränkt, dich so herabgesenkt, daß du dich nicht erkennest. In kritischen unnützen, groben, elenden Wäldern verlierst du das Feuer deiner Jugend, die beste Hitze deines Genies, die größte Stärke deiner Leidenschaft, zu unternehmen. Du wirst eine so träge, lache Seele, wie alle Fibern und Nerven deines Körpers: Elender, was ist's, das dich beschäftigt? Und was dich beschäftigen sollte? und nach Gelegenheit, Anlaß und Pflicht beschäftigen könnte? – O daß eine Eumenide mir in meinen Wäldern erschiene, mich zu erschrecken, mich aus denselben auf ewig zu jagen, und mich in die große nutzbare Welt zu bannen! Livland ist eine Provinz, den Fremden gegeben! Viele Fremde haben es, aber bisher nur auf ihre kaufmännische Art, zum Reichwerden, genossen; mir, auch einem Fremden, ist's zu einem höhern Zwecke gegeben, es zu bilden! Dazu sei mein geistliches Amt; die Kolonie einer verbesserten evangelischen Religion zu machen: nicht schriftlich, nicht durch Federkriege, sondern lebendig, durch Bildung. Dazu habe ich Raum, Zeit, und Gelegenheit: ich bin ohne drückende Aufsicht: ich habe alle Groß- Gut- und Edeldenkende, gegen ein paar Pedanten, auf meiner Seite: ich habe freie Hand. Lasset uns also anfangen, den Menschen und menschliche Tugend recht kennen und predigen zu lernen, ehe man sich in tiefere Sachen mischet. Die menschliche Seele, an sich und in ihrer Erscheinung auf dieser Erde, ihre sinnlichen Werkzeuge und Gewichte und Hoffnung[en] und Vergnügen, und Charaktere und Pflichten, und alles, was Menschen hier glücklich machen kann, sei meine erste Aussicht. Alles übrige werde bloß beiseite gesetzt, solange ich hiezu Materialien sammle, und alle[201] Triebfedern, die im menschlichen Herzen liegen, vom Schreckhaften und Wunderbaren, bis zum Stillnachdenkenden und Sanftbetäubenden, kennen, erwecken, verwalten und brauchen lernen. Hiezu will ich in der Geschichte aller Zeiten Data sammlen: jede soll mir das Bild ihrer eignen Sitten, Gebräuche, Tugenden, Laster und Glückseligkeiten liefern, und so will ich alles bis auf unsre Zeit zurückführen, und diese recht nutzen lernen. Das menschliche Geschlecht hat in allen seinen Zeitaltern, nur in jedem auf andre Art, Glückseligkeit zur Summe; wir, in dem unsrigen, schweifen aus, wenn wir wie Rousseau Zeiten preisen, die nicht mehr sind, und nicht gewesen sind; wenn wir aus diesen zu unserm Mißvergnügen, Romanbilder schaffen und uns wegwerfen, um uns nicht selbst zu genießen. Suche also auch selbst aus den Zeiten der Bibel nur Religion, und Tugend, und Vorbilder und Glückseligkeiten, die für uns sind: werde ein Prediger der Tugend deines Zeitalters! O wieviel habe ich damit zu tun, daß ich's werde! wieviel bin ich aber, wenn ich's bin! – Welch ein großes Thema, zu zeigen, daß man, um zu sein, was man sein soll, weder Jude, noch Araber, noch Grieche, noch Wilder, noch Märtrer, noch Wallfahrter sein müsse; sondern eben der aufgeklärte, unterrichtete, feine, vernünftige, gebildete, tugendhafte, genießende Mensch, den Gott auf der Stufe unsrer Kultur fodert. Hier werde alles das Gute gezeigt, was wir in unserm Zeitalter, Künsten, Höflichkeit, Leben usw. für andern Zeitaltern, Gegenden, und Ländern haben; alsdenn das Große und Gute aus andern dazugenommen, sollte es auch nur zur Nacheiferung sein, soweit es möglich wäre, es zu verbinden – o was schläft in alledem für Aufweckung der Menschheit. Das ist eine Tugend, und Glückseligkeit und Erregung, gesammlet aus mehr als aus Iselins Geschichte, aus dem lebendigen Vorstellen der Bilder aller Zeiten und Sitten und Völker; und gleichsam daraus die Geschichte eines Agathon in jeder Nation gedichtet! Welch ein großes Studium! für Einbildungskraft und Verstand und Herz und Affekten! Einer aus Judäa und ein Hiob aus Arabien, und ein Beschauer Ägyptens, und ein römischer Held, und ein Pfaffenfreund, und ein Kreuzzieher und ein Virtuose unsres Jahrhunderts gegeneinander und in allem Geist ihres Zeitalters, Gestalt ihrer Seele, Bildungsart ihres Charakters, Produkt ihrer Tugend und Glückseligkeit. Das sind Fragmente über die Moral und Religion aller Völker, Sitten und Zeiten, für unsre Zeit – wie weit lasse ich damit hinter mir die Bruckers[202] und die Postillenprediger und die Mosheimschen Moral[isten]. Ein solches großes Geschäfte, in seiner Vollendung, welch ein Werk würde es für die Welt! Aber was sorge ich für die Welt; da ich für mich, und meine Welt und mein Leben zu sorgen und also aus meinem Leben zu schöpfen habe. Was also zu tun? Dies in allen Szenen zu betrachten und zu studieren! Die ersten Spiele der Einbildungskraft der Jugend, und die ersten starken Eindrücke auf die weiche empfindbare Seele zu behorchen; aus jenen vieles in der Geschichte unsres Geschmacks und Denkart erklären; aus dieser alles Rührende und Erregende brauchen zu lernen. Das erste Verderben eines guten Jünglings auf seine Lebenszeit, was gibt's auch aus meinem Leben für rührende Züge, die noch jetzt alle meine Tränen locken, und so viel homogene ähnliche Verwirrungen und Schwächungen auf mein ganzes Leben würken. Alsdenn das Wunderbare und Immergute, was jeder Schritt unsres Lebens mit sich bringet – weiter! ein Bild von allen Gesichten und Nationen und merkwürdigen Charakteren und Erfahrungen, die ich aus meinem Leben mich erinnere – was für Geist und Leben muß dies in meine Denkart, Vortrag, Predigt, Umgang bringen. So lernte ich ganz mein Leben brauchen, nutzen, anwenden; kein Schritt, Geschichte, Erfahrung, wäre vergebens: ich hätte alles in meiner Gewalt: nichts wäre verlöscht, nichts unfruchtbar: alles würde Hebel, mich weiter fortzubringen. Dazu reise ich jetzt: dazu will ich mein Tagebuch schreiben: dazu will ich Bemerkungen sammlen: dazu meinen Geist in eine Bemerkungslage setzen: dazu mich in der lebendigen Anwendung dessen, was ich sehe und weiß, was ich gesehen und gewesen bin, üben! Wieviel habe ich zu diesem Zwecke an mir aufzuwecken und zu ändern! Mein Geist ist nicht in der Lage zu bemerken, sondern eher zu betrachten, zu grübeln! Er hat nicht die Wut, Kenntnisse zu sammlen, wo er sie kann; sondern schließet sich schlaff und müde in den ersten Kreis ein, der ihn festhält. Dazu besitze ich nicht die Nationalsprachen, wohin ich reise. Ich bin also in Frankreich ein Kind: denn ich müßte Französisch können, um mich geltend zu machen, um alles zu sehen, zu erfragen, kennenzulernen, um von meinem Orte und aus meinem Leben zu erzählen und also dies auf gewisse Art zu wiederholen und gangbar zu machen. Ich bin also, ohne dies alles, in Frankreich ein Kind, und wenn ich zurückkomme, ebendasselbe: Französische Sprache ist das Medium um zu zeigen, daß man in Frankreich gelebt und es genossen hat – so auch mit andern[203] Sprachen – wieviel habe ich zu lernen! mich selbst zu zwingen, um nachher einer sein zu können, der Frankreich, England, Italien, Deutschland genossen hat, und als solcher erscheinen darf! Und kann ich als solcher erscheinen, was habe ich in Livland als Prediger, für Vorzüge und Geltungsrechte! Mit allen umgehen, von allem urteilen zu können, für eine Sammlung von Kenntnissen der polizierten Welt gehalten zu werden! Was kann man mit diesem Scheine nicht tun! nicht ausrichten! Wieviel liegt aber vor mir, diesen Schein des Ansehens zu erreichen, und der erste Menschenkenner nach meinem Stande, in meiner Provinz zu werden!

Bin ich's geworden, so will ich diesen Pfad nicht verlassen, und mir selbst gleichsam ein Journal halten, der Menschenkenntnisse, die ich täglich aus meinem Leben, und derer, die ich aus Schriften sammle. Ein solcher Plan wird mich beständig auf einer Art von Reise unter Menschen erhalten und der Falte zuvorkommen, in die mich meine einförmige Lage in einem abgelegnen scythischen Winkel der Erde schlagen könnte! Dazu will ich eine beständige Lektüre der Menschheitsschriften, in denen Deutschland jetzt seine Periode anfängt, und Frankreich, das ganz Konvention und Blendwerk ist, die seinige verlebt hat, unterhalten. Dazu die Spaldinge, Resewitze und Moses lesen; dazu von einer andern Seite die Mosers, und Wielands und Gerstenbergs brauchen; dazu zu unsern Leibnizen die Shaftesburys und Lockes; zu unsern Spaldings die Sternes, Fosters und Richardsons; zu unsern Mosers die Browne und Montesquieus; zu unsern Homileten jedes Datum einer Reisebeschreibung oder merkwürdigen Historie dazutun. Jahrbuch der Schriften für die Menschheit! ein großer Plan! ein wichtiges Werk! Es nimmt aus Theologie und Homiletik; aus Auslegung und Moral; aus Kirchengeschichte und Aszetik, nur das, was für die Menschheit unmittelbar ist; sie aufklären hilft; sie zu einer neuen Höhe erhebt, sie zu einer gewissen neuen Seite verlenkt; sie in einem neuen Licht zeigt; oder was nur für sie zu lesen ist. Dazu dient alsdenn Historie und Roman, Politik und Philosophie, Poesie und Theater als Beihülfe; bei den letzten allen, wird dies nicht Hauptgesichtspunkt, aber eine sehr nutzbare und bildende Aussicht! Ein solches Journal wäre für alle zu lesen! Wir haben's noch nicht; ob wir gleich Materialien dazu haben! Es würde in Deutschland eine Zeit der Bildung schaffen, indem es auf die Hauptaussicht einer zu bildenden Menschheit merken lehrte. Es würde das Glück haben, was kein Journal so leicht hat, Streitigkeiten und Widerspruch zu vermeiden;[204] indem es sich von allem sondert, und nur bilden will. Es würde seinen Autor berühmt, und was noch mehr ist, beliebt machen: denn das menschliche Herz öffnet sich nur dem, der sich demselben nähert und das ist ein Schriftsteller der Menschheit! O auf dieser Bahn fortzugehen, welch ein Ziel! welch ein Kranz! Wenn ich ein Philosoph sein dörfte und könnte; ein Buch über die menschliche Seele, voll Bemerkungen und Erfahrungen, das sollte mein Buch sein! ich wollte es als Mensch und für Menschen schreiben! es sollte lehren und bilden! die Grundsätze der Psychologie, und nach Entwicklung der Seele auch der Ontologie, der Kosmologie, der Theologie, der Physik enthalten! es sollte eine lebendige Logik, Ästhetik, historische Wissenschaft und Kunstlehre werden! aus jedem Sinn eine schöne Kunst entwickelt werden! und aus jeder Kraft der Seele eine Wissenschaft entstehen! und aus allen eine Geschichte der Gelehrsamkeit und Wissenschaft überhaupt! und eine Geschichte der menschlichen Seele überhaupt, in Zeiten und Völkern! Welch ein Buch! – – und solang ich dies nicht kann! so sollen meine Predigten und Reden und Abhandlungen und was ich künftig gebe, menschlich sein! und wenn ich's kann, ein Buch zur menschlichen und christlichen Bildung liefern, das sich, wie ein Christ in der Einsamkeit usw. lesen lasse, was empfunden werde, was für meine Zeit und mein Volk und alle Lebensalter und Charaktere des Menschen sei! – Das wird bleiben! –

Ein Buch zur menschlichen und christlichen Bildung! Es finge von der Kenntnis sein selbst, des weisen Baues an Leibe und Geist an: zeigte die Endzwecke und Unentbehrlichkeiten jedes Gliedes an Leib und Seele; zeigte die Mancherleiheit, die dabei stattfände, und das doch jedes nur in dem Maß möglich und gut ist, wie wir's haben: alsdenn Regeln und Anmahnung, sich an Leib und Geist so auzubilden, als man kann. Dies erst an sich, und so weit ist Rousseau ein großer Lehrer! Was für Anreden sind dabei an Menschen, als Menschen, an Eltern und Kinder, an Jünglinge und Erwachsne, an mancherlei Charaktere und Temperamente, Fähigkeiten und menschliche Seelen möglich! Alsdenn kommt ein zweiter Teil für die Gesellschaft, wo Rousseau kein Lehrer sein kann. Hier ein Katechismus für die Pflichten der Kinder, der Jünglinge, der Gesellschafter, der Bürger, der Ehegatten, der Eltern; alles in einer Ordnung und Folge und Zusammenhang, ohne Wiederholungen aus dem vorigen Teile, ohne Einlassung auf Stände und bloß politische Einzelnheiten – wäre[205] ein schweres Werk. Drittens ein Buch für die Charaktere aus Ständen, um die bösen Falten zu vermeiden, die der Soldat und Prediger, der Kaufmann und Weise, der Handwerker und Gelehrte, der Künstler und Bauer gegeneinander haben; um jedem Stande alle seine Privattugenden zu geben, alle miteinander aus den verschiednen Naturen und Situationen der Menschheit zu erklären, und zu versöhnen, alle dem gemeinen Besten zu schenken. Hiemit fängt sich ein vierter Teil an, wo Untertanen und Obrigkeiten gegeneinander kommen; vom Bauer an, der dem Sklaven nahe ist, denn für Sklaven gibt's keinen Katechismus, zu seiner bürgerlichen Herrschaft, zum Adel, zum Prinzen, zum Fürsten hinan; alsdenn die mancherlei Regierungsformen, ihre Vor und Nachteile und endlich Grundsätze eines ehrlichen Mannes, in der, wo er lebt. Hieraus werden fünftens die schönen, überflüssigen Bedürfnisse: Kunst, Wissenschaft, gesellschaftliche Bildung: Grundriß zu ihnen: ihre Erziehung nach Temperamenten und Gelegenheiten: ihr Gutes und Böses: Auswahl aus ihnen zum ordentlichen, nützlichen und bequemen Leben unsres Jahrhunderts: und hier also Philosophie eines Privatmannes, Frauenzimmers usw. nebst einer Bibliothek dazu: Sechstens: Mängel die dabei bleiben, uns zu unterrichten, zu beruhigen, zurückzuhalten, aufzumuntern: Christliche Kenntnisse, als Unterricht, Beruhigung, Rückhalt, und Erhebung: Was Menschen davon wissen konnten und wie Gott sich Menschen geoffenbaret hat, in Absicht auf die Schöpfung, Ursprung des Übels in der Welt, Wanderungen des Menschengeschlechts, Erlösung, Heiligung, künftige Welt. Begriffe von der Theopneustie überhaupt; von der Gestalt der Religion in Judäa; im Alten und Neuen Testament, und in den verschiednen Jahrhunderten. Alles im Gesichtspunkt der Menschheit – und hieraus Lehren für Toleranz: Liebe zur protestantischen Religion: wahrer Geist derselben im akademischen Lehrer, Prediger, Zuhörer, Privatchristen. Christliche Erziehung: Taufe: Konfirmation: Abendmahl: Tod, Begräbnis. – – – Ich liefre nur kurze Gesichtspunkte, wohin würde die Ausarbeitung nicht führen! – Noch ist alles Theorie: es werde Praxis und dazu diene die Seelensorge meines Amts. Hier ist ein Feld, sich Liebe, Zutrauen und Kenntnisse zu erwerben: ein Feld, zu bilden und Nutzen zu schaffen – wenn die Religion z.E. bei Trauungen und Taufen und Gedächtnisreden und Kranken besuchen, den Großen edel und groß und vernünftig; den Geschmackvollen mit Geschmack und Schönheit; dem zarten Geschlecht[206] zart und liebenswürdig; dem fühlbaren Menschen fühlbar und stark; dem unglücklichen und sterbenden tröstlich und hoffnungsvoll gemacht wird. Und hier ist ein Feld besonders für mich. Sich vor einer Gewohnheits- und Kanzelsprache in acht nehmen, immer auf die Zuhörer sehen, für die man redet, sich immer in die Situation einpassen, in der man die Religion sehen will, immer für den Geist und das Herz reden: das muß Gewalt über die Seelen geben! oder nichts gibt's! – – Hier ist die vornehmste Stelle, wo sich ein Prediger würdig zeigt: hier ruhn die Stäbe seiner Macht.

Alles muß sich heutzutage an die Politik anschmiegen; auch für mich ist's nötig, mit meinen Planen! Was meine Schule gegen den Luxus und zur Verbesserung der Sitten sein könne! Was sie sein müsse, um uns in Sprachen und Bildung dem Geschmack und der Feinheit unsres Jahrhunderts zu nähern und nicht hinten zu bleiben! Was, um Deutschland, Frankreich und England nachzueifern! Was, um dem Adel zur Ehre und zur Bildung zu sein! Was sie aus Polen, Ruß- und Kurland hoffen könne! Was sie für Bequemlichkeiten haben, da Riga der Sitz der Provinzkollegien ist, und wie unentbehrlich es sei, die Stellen kennenzulernen, zu denen man bestimmt ist. Wieviel Auszeichnendes eine livländische Vaterlandsschule haben könne, was man auswärtig nicht hat. Wie sehr die Wünsche unsrer Kaiserin darauf gehen, und daß zur Kultur einer Nation mehr als Gesetze und Kolonien, insonderheit Schulen und Einrichtungen nötig sind. Dies alles mit Gründen der Politik, mit einem Vaterlandseifer, mit Feuer der Menschheit und Feinheit des gesellschaftlichen Tons gesagt, muß bilden und locken und anfeuren. Und zu eben der Denkart will ich mich so lebend und ganz, als ich denke und handle, erheben. Geschichte und Politik von Liv- und Rußland aus, studieren, den menschlich wilden Emile des Rousseau zum Nationalkinde Livlands zu machen, das, was der große Montesquieu für den Geist der Gesetze ausdachte, auf den Geist einer Nationalerziehung anwenden und was er in dem Geist eines kriegerischen Volks fand, auf eine friedliche Provinz umbilden. O ihr Locke und Rousseau, und Clarke und Francke und Heckers und Ehlers und Büschings! euch eifre ich nach; ich will euch lesen, durchdenken, nationalisieren, und wenn Redlichkeit, Eifer und Feuer hilft, so werde ich euch nutzen, und ein Werk stiften, das Ewigkeiten daure, und Jahrhunderte und eine Provinz bilde.

[...][207]

Ich schiffete Kurland, Preußen, Dänemark, Schweden, Norwegen, Jütland, Holland, Schottland, England, die Niederlande vorbei, bis nach Frankreich; hier sind einige politische Seeträume. Kurland, das Land der Lizenz und der Armut, der Freiheit und der Verwirrung; jetzt eine moralische und literarische Wüste. Könnte es nicht der Sitz und die Niederlage der Freiheit und der Wissenschaft werden, wenn auch nur gewisse Plane einschlagen? Wenn das was bei dem Adel Recht und Macht ist, gut angewandt, was bei ihm nur gelehrter Luxus ist, aufs Große gerichtet würde? Bibliothek ist hier das erste, es kann mehr werden, und so sei es mir Vorbild und Muster der Nacheiferung und Zuvorkommung. Auf welche Art wäre dem livländischen Adel beizukommen zu großen guten Anstalten? dem kurländischen durch Freim. ; ½, dem livländischen, durch Ehre, geistliches Ansehen, gelehrten Ruhm, Nutzbarkeit. Also zur Verbesserung des Lyzeum, also zur Anschaffung eines physischen Kabinetts von Natursachen und Instrumenten, also zur Errichtung neuer Stellen zum Zeichnen, und der französischen und italienischen Sprache usw. Der gute Umgang zwischen den Predigern im Kurland sei mir auch Vorbild! – – Was für ein Blick überhaupt auf diese Gegenden von West-Norden, wenn einmal der Geist der Kultur sie besuchen wird! Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden: der schöne Himmel dieses Volks, ihr lustiges Wesen, ihre musikalische Natur, ihr fruchtbares Land usw. werden einmal aufwachen: aus so vielen kleinen wilden Völkern, wie es die Griechen vormals auch waren, wird eine gesittete Nation werden: ihre Grenzen werden sich bis zum Schwarzen Meer hin erstrecken und von dahinaus durch die Welt. Ungarn, diese Nationen und ein Strich von Polen und Rußland werden Teilnehmerinnen dieser neuen Kultur werden; von Nordwest wird dieser Geist über Europa geben, das im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geiste nach dienstbar machen. Das alles liegt vor, das muß einmal geschehen; aber wie? wenn? durch wen? Was für Samenkörner liegen in dem Geist der dortigen Völker, um ihnen Mythologie, Poesie, lebendige Kultur zu geben? Kann die katholische Religion ihn aufwecken? Nein, und wird's nicht nach ihrem Zustande in Ungarn, Polen usw. nach dem Toleranzgeist, der sich auch selbst in dieser und der griechischen Religion mehr ausbreitet, nach dem anscheinenden Mangel von Eroberungen, den diese Religion mehr machen kann. Vielmehr werden also unsre Religionen mit ihrer Toleranz, mit ihrer Verfeinerung, mit[208] ihrer Anrückung aneinander zum gemeinschaftlichen Deismus einschlafen, wie die römische, die alle fremde Götter aufnahm: die brausende Stärke wird einschlafen, und von einem Winkel der Erde ein andres Volk erwachen. Was wird dieses zuerst sein? Auf welche Art wird's gehen? was werden die Bestandteile ihrer neuen Denkart sein? wird seine Kultur bloß of- oder defensiv im stillen gehen? was ist's das eigentlich in Europa nicht ausgerottet werden kann vermöge der Buchdruckerei, so vieler Erfindungen und der Denkart der Nationen? Kann man über alles dies nicht raten nach der Lage der gegenwärtigen Welt, und der Analogie verfloßner Jahrhunderte? Und kann man nicht hierin zum voraus einwürken? Nicht Rußland auf eine Kultur des Volks hinzeigen, die sich so sehr belohne? Da wird man mehr als Baco: da wird man im Weissagen größer als Newton: da muß man aber mit dem Geist eines Montesquieu sehen; mit der feurigen Feder Rousseaus schreiben, und Voltaires Glück haben, das Ohr der Großen zu finden. In unserm Jahrhundert ist's Zeit: Hume und Locke, Montesquieu und Mablys sind da: eine Kaiserin von Rußland da, die man bei der Schwäche ihres Gesetzbuchs fassen kann, wie Voltaire den König von Preußen: und wer weiß wozu der gegenwärtige Krieg in den Gegenden bereitet. Hier will ich etwas versuchen. Schlözers »Annalen«, »Beilagen«, »Merkwürdigkeiten«, Millers Sammlungen, jenes seine »Geschichte der Moldau« soll mir Gedenkbuch sein, das ich studiere: Montesquieu nach dem ich denke und wenigstens spreche: das Gesetzbuch der Kaiserin wenigstens Einfassung meines Bildes, über die wahre Kultur eines Volks und insonderheit Rußlands. [I.] Worin die wahre Kultur bestehe? nicht bloß im Gesetzegeben, sondern Sittenbilden: was Gesetze ohne Sitten, und fremdangenommene Grundsätze der Gesetze ohne Sitten sind? Ob bei Rußlands Gesetzgebung Ehre das erste sein könne? Bild der Nation? Ihre Faulheit ist nicht so böse, wie man sie beschreibt; natürlich, war bei allen Nationen und Schlaf zum Aufwachen. Ihre List – ihre Nachahmungssucht – ihre Leichtigkeit – wie in allem der Same zum Guten liege? wie er aufzuwecken sei? was ihn verhindre? Weg zur allmählichen Freiheit. Was eine plötzliche schaden könne? Weg zur allmählichen Einrichtung? Was plötzliche Kolonien, Vorbilder usw. schaden können? Was die Deutschen geschadet haben? Vortrefflichkeit guter Anordnung, die über Gesetze und Hofbeispiele geht. Einrichtung des Ackerbaues, der Familien, der Haushaltungen. Der Dependenz[209] der Untertanen, der Abgaben, ihrer Lebensart. Einige Vorschläge für die neue ökonomische Gesellschaft, die mehr den Geist der Ökonomie in Rußland betreffen. Daß andre Länder und selbst Schweden nicht immer Vorbilder sein können. Vom Luxus. Daß Befehle hier nichts machen können, üble Folgen in Riga. Daß das Exempel des Hofes nur an Hofe gelte, und da auch große Vorteile aber auch Machteile habe. Daß viele einzelne Exempel in einzelnen Provinzen mehr tun; und noch mehr einzelne Beispiele in einzelnen Familien. Folgen davon, daß die russische Herren das Ihrige in Peterburg verzehren. Daß der Peterburger Staat ins Prächtige Geschmacklose verfällt; wogegen unsre Kaiserin arbeitet. Daß es mit Frankreich anders sei durch den Besuch der Fremden und andre Anstalten, und daß auch selbst dieses sich erschöpft. Übles Beispiel der Gouverneure in den Provinzen, und der Hausväter in Fabriken und Bauerhütten. II. Daß weder Englands noch Frankreichs noch Deutschlands gesetzgeberische Köpfe es in Rußland sein können. Wie sehr man sich in der Nachahmung Schwedens versehen. Daß man Griechenland und Rom nicht zum Muster nehmen könne. Daß es Völker in Orient gebe, von denen man lernen müsse. Persien, Assyrien, Ägypten, China, Japan. Grundsätze hievon, nach dem Charakter, der Vielheit und der Stufe der russischen Nationen. Einteilungen in ganz kultivierte, halb kultivierte und wilde Gegenden. Für diese ihre Gesetze, um sie heraufzubilden, das sind Gesetze der Menschheit und der ersten rohen Zeiten. Wie diese Nationen von Rußland vortrefflich zu brauchen sind. Wie das Halbkultivierte Gesetze haben muß, um gesittete Provinz nichts aber mehr zu werden. Unterschied des Geistes der Kultur in Provinz und Hauptstädten. Endlich Gesetze für Haupt- und Handelsstädte. Wie Montesquieu Muster sein kann. Die wilden Völker sind an den Grenzen: das halbgesittete ist Land: das gesittete Seerand. Gebrauch von der Ukraine. Vorige Plane hieher. III. Das Materielle von den Gesetzen und der Beitrag jedes auf die Bildung des Volkes macht das dritte aus. Alles nach Montesquieu Methode kurz, mit Beispielen, aber ohne sein System. Die Fehler der Gesetzgebung frei beurteilt, und ihre Größen frei gelobt. Viel Beispiele, Geschichten und Data angeführt und o ein großes Werk! und wenn es einschlüge? was ist's ein Gesetzgeber für Fürsten und Könige zu sein! und wo ist ein besserer Zeitpunkt als jetzt, nach Zeit, Jahrhundert, Geist, Geschmack und Rußland!

Die Staaten des Königs von Preußen werden nicht glücklich[210] sein, bis sie in der Verbrüderung zerteilt werden. Wie weit ist's möglich, daß nicht ein Mann, durch sich, kommen kann? wie groß, wenn man ihn in allen geheimen Spuren seines Geistes verfolgte? wie groß, wenn er sein politisches Testament schriebe, aber ohne das Epigramm zu verdienen, was er selbst auf Richelieu gemacht hat. So dünkt er uns jetzt, wie aber der Nachwelt? was ist denn sein Schlesien? wo wird sein Reich bleiben? Wo ist das Reich des Pyrrhus? Hat er mit diesem nicht große Ähnlichkeit? – – Ohne Zweifel ist das Größeste von ihm Negativ, Defension, Stärke, Aushaltung; und nur seine großen Einrichtungen bleiben alsdenn ewig. Was hat seine Akademie ausgerichtet? Haben seine Franzosen Deutschland und seinen Ländern so viel Vorteil gebracht, als man glaubte? Nein! seine Voltaire haben die Deutschen verachtet und nicht gekannt: diese hingegen haben an jenen so viel Anteil genommen, als sie auch immer aus Frankreich her genommen hätten. Seine Akademie hat mit zum Verfall der Philosophie beigetragen. Seine Maupertuis, Prémontvals, Formeys, d'Argens was für Philosophen? was haben sie für Schriften gekrönt? den Leibniz und Wolff nicht verstanden, und den Hazard eines Prémontval, die Monadologie eines Justi, den freien Willen eines Reinhards, die Moralphilosophie und Kosmologie eines Maupertuis, den Stil eines Formey ausgebrütet. Was ist dieser gegen Fontenelle? was sind die Philosophen auch selbst mit ihrer schönen Schreibart gegen die Locke und Leibnize? Über die Sprachen sind sie nützlicher geworden. Michaelis, Prémontval und die jetzige Aufgabe; aber doch nichts Großes an Anstalt, und für ewige Ausführung. Mathematik hat einen Euler gehabt; der wäre aber auch überall gewesen, so wie Le Grange sich im stillen bildete. Und denn fehlt's allen seinen Entdeckungen noch an dem großen Praktischen in der Anwendung, wodurch Völker lernen, und Weise ihre Theorien verbessern um sie augenscheinlich ins Werk zu richten. Der Geschmack der Voltaires in der Historie, dem auch er gefolgt ist, hat sich nicht durch ihn ausgebreitet: seine Untertanen waren zu tief unter ihm und Voltaire, um ihn zum Muster zu nehmen: zu sehr unwissende Deutsche, zu sehr Untertanen. Seine und Voltaires Philosophie hat sich ausgebreitet; aber zum Schaden der Welt: sein Beispiel ist schädlicher geworden, als seine Lehre. Daß er seine Deutsche nicht kennet? warum er Preußen verachtet? Daß er Machiavell folgt, ob er ihn gleich widerlegt hat. Aussichten auf das Glück seiner Untertanen nach der Zerteilung.

[211] Schweden: da sehe ich die Klippe des Olaus! Wie war die Zeit, da er lebte, da er starb! Wie große Gedanken gibt sein Grab mit Nebel und Wolken bedeckt, von Wellen bespült usw. von dem Nebel und der Zauberei seiner Zeit? Wie hat sich die Welt verändert! Was für drei Zeiten, die alte skandinavische Welt, die Welt des Olaus, unsre Zeit des armen ökonomischen und erleuchteten Schwedens. Hier war's, wo voraus Goten, Seeräuber, Wikinger, und Normänner segelten! Wo die Lieder ihrer Skalden erklangen! Wo sie ihre Wunder taten! Wo Lodbroge und Skille fochten! welche andre Zeit! Da will ich also, in solchen dunkeln trüben Gegenden ihre Gesänge lesen und sie hören, als ob ich auf der See wäre: da werde ich sie mehr fühlen, als Nero seine Heroide da Rom brannte. Wie verändert von diesem, als auf dieser See die Hansestädte herrschten. Wisby, wo bist du jetzt? Alte Herrlichkeit von Lübeck, da ein Tanz mit der Königin Bornholm kostete, und du Schweden ihren Gustav Wasa gabst, wo bist du jetzt? Alte Freiheit von Riga, da der Altermann seinen Hut auf dem Rathause ließ und nach Schweden eilte, um die Stadt zu verteidigen, wo jetzt? Alles ist zurückgefallen: mit weichen Sitten ist Schwachheit, Falschheit, Untätigkeit, politische Biegsamkeit eingeführt; der Geist von Hansestädten ist weg aus Nordeuropa, wer will ihn aufwecken? Und ist's für jede dieser Städte, Hamburg, Lübeck, Danzig, Riga nicht große wichtige Geschichte, wie sich dieser Geist verloren? nicht, wie sich ihr Handel, ihre Privilegien usw. sondern ihr Geist vermindert und endlich Europa verlassen hat, und haben wir solche Geschichte von Hansestädten? Willebrand sollte sie schreiben, wenn er nicht zu fromm wäre: und alle Hansestädte auf ihren offenbaren Rechtstägen lesen! – Jetzt, Riga, was ist's jetzt? Arm und mehr als arm, elend! Die Stadt hat nichts, und mehr auszugeben, als sie hat! Sie hat eine dürftige, nutzlose Herrlichkeit, die ihr aber kostet! Ihre Stadtsoldaten kosten, und was tun sie? ihre Wälle und Stadtschlüssel kosten und was tun sie? Das Ansehen ihrer Ratsherren kostet ihnen so viel schlechte Begegnung und nutzt nichts, als daß sie sich brüsten und den Bürgern für den Kopf stoßen können. Alles reibt sich an der Stadt: Gouverneur und Regierungsrat, Minister und Kronsschreiber. Dieser gibt sich ein dummes Ansehen mit seinen 150 Rubeln über Bürgermeister und Rat: das ist Übelstand. Der Minister läßt sich's bezahlen, daß er nicht schade: Übelstand. Der Regierungsrat zwackt Foderungen ab, daß er helfe: Übelstand. Gouverneur wird in Ansehen Despot[212] und verbindet noch Interesse: Übelstand – alles ist gegeneinander. Kaiserin und Stadt: Hof und Stadt: Gouvernement und Stadt: Kronsbediente und Stadt: Titelräte und Stadt: Adel und Stadt: Schmarutzer und Stadt: Ratsherren und Stadt – welcher Zustand! Man kriecht um über andre sich zu brüsten: man schmarutzt, um sich zu rächen: man befördert sein Interesse, und schiebt's auf die Kaufmannschaft: man erkauft sich einen Titel, um elend zu trotzen: man bereichert sich, um mit leeren Versprechungen zu helfen. Welcher Zustand! Unmöglich der rechte, sondern die Hölle zwischen Freiheit und ordentlichem Dienste. Es höre der Unterschied zwischen Stadt und Krone auf: der Rat behalte seine Einrichtungen, Freiheiten, Departemente, Gewalt: nur [er] bekomme einen Präsidenten, der sie gegen militarische Begegnung durch sein Ansehen schütze. Auch sie müssen Kronsbediente werden, und aller Unterschied der Begegnung z.E. bei Gerichten usw. aufhören: sie selbst und jeder unter ihnen, Advokat usw. Rang bekommen: Die Kasse muß ihr bleiben, nur der Präsident sei das Mittel, das sie mit dem Hofe binde und von allem wisse. Er sei der Burggraf, und der Vater der Stadt: der Vertreter gegen Gewalt, und Vorsprecher bei der höchsten Obrigkeit. Im Kommerzkollegio bekomme der Präfekt der Stadt mehr Ansehen und könne dem Oberinspektor näher kommen. Der Oberpastor stehe über dem Pastor der Jacobikirche, aber unter dem Superintendenten und das Stadtkonsistorium so unter dem Oberkonsistorium, wie Magistrat unter Hofgericht. Die Kanzelei sei nicht erblich, aber doch die Stadtkinder behalten Vorzug und kein militarisches Aufdringen sei möglich. Sie balanciere mit der Krone und aller Haß werde ausgelöscht. Man nehme Ratsherrn so gut aus Advokaten hier, wie bei der Krone: Kanzlei und Advokatur sei kein Widerspruch; aber auch keine nötige Verbindung. Man wähle, wo man findet, und lasse nicht 2 Ratsherrn und den Advokaten freie Hände. Kein Bürger werde in Ohrenklagen gegen den Magistrat gehört, und kein Magistrat beschimpft. Der Parteiengeist werde erstickt: in der Handlungsverbesserung bessere bürgerliche Kommission gesetzt: so im Geistlichen auch, wo so viele Verbesserung nötig ist, und die Stadt werde eins, ruhig, glücklich. Sie bleibe keine Scheinrepublik, keine respublica in republ.; aber eine Dienerin mit Vorzügen und Range; wie glücklich wer das könnte! Der ist mehr als Zwinglius und Calvin! ein Befreier und zugleich Bürger- sind dazu keine Wege möglich? aber jetzt nicht: spät: durch Gewalt[213] an Hofe. Ich bin bei der Stadt gewesen, mit Advokaten, Kanzlei und Rat umgegangen; komme unter die Krone, werde dies Departement kennenlernen; beides untersuchen – soll dies nicht Vorurteil für mich sein? Kampenhausen und Tesch und Schwarz und Berens nützen: im stillen arbeiten, und vielleicht bekomme ich einmal ein Wort ans Ohr der Kaiserin! Was Morellet in Frankreich ausrichtet; ich das nicht an einem andern Ort. Dazu will ich meine Gabe zum Phlegma und zur Hitze ausbilden, mir erste Anrede und Gabe des kalten deutlichen Vorschlages geben, den nur spät ein Enthusiasmus unterstütze, und so mich im stillen bereiten, um einst nützlich zu werden – o hätte ich doch keine »Kritische Wälder« geschrieben! – – – Ich will mich so stark als möglich vom Geist der Schriftstellerei abwenden und zum Geist zu handeln gewöhnen! – Wie groß, wenn ich aus Riga eine glückliche Stadt mache.

Die dritte Periode auf der Ostsee sind die holländischen Domänen: Holland, dies Wunder der Republik; hat nur eine Triebfeder, Handelsgeist, und dessen Geschichte möchte ich lesen. Wie er auf den Geist der Feudalkriege folgte? sich aus Amerika und Asien in Europa übertrug, und einen neuen Geist der Zeit schuf. Er war nicht einerlei mit dem Erfindungsgeiste: Portugal und Spanien nutzten nichts von ihren Entdeckungen: er war eine Ökonomie Europens zu dem sich aus Morästen eine arme, dürftige, fleißige Republik emporhob. Welch ein großer Zustrom von Umständen begleitete sie zum Glück! zum Glück von Europa! Aber von ihnen hat alles gelernt: derselbe Geist hat sich überall ausgebreitet: England mit seiner Akte, Frankreich, Schweden, Dänemark usw. Holland ist auf dem Punkte zu sinken; aber natürlicherweise nur allmählich. Der Verf. des »Commerce de la Hollande« hat's gezeigt: sein Mittel aber zur Entdeckung des 5. Weltteils wird nichts tun: der Entdeckungsgeist ist nicht der Kaufmannsgeist. Daher hat man nichts einmal unternehmen wollen: auch unternommen, wäre für Holland kaum eine Einnahme und Einrichtung zur Botmäßigkeit möglich: und endlich würden sie es so gewiß verlieren, als Holland sein Brasilien und Portugal sein Ostindien verlor. Dieser Verfall ist kaum mehr vermeidlich: die Gestalt Europens ist zu sehr darnach eingerichtet, daß sie ihn fodert; und Holland sinkt durch sich selbst. Seine Schiffe gehen umsonst: die Preise der Kompanie fallen: die Republik ist weniger in der Waage Europens, und muß dies wenige bleiben, sonst wird sie noch mehr. Sie bereichert sich von dem,[214] was andre ihr zu verdienen geben, und diese geben ihr weniger zu verdienen, und werden endlich von ihr verdienen wollen. Es wird also einmal und vielleicht schon bei meinen Lebzeiten eine Zeit sein, da Holland nichts als ein totes Magazin von Waren ist, das sich ausleert und nicht mehr vollfüllen mag und also ausgeht, wie eine Galanteriebude, die sich nicht ersetzen will. Der Geldwechsel wird noch länger als der Warenhandel dauren; wie aber, wenn England mit seinen Nationalschulden da einmal ein Fallissement macht? In diesem Betracht aber kann es sich noch lange erhalten: denn einmal ist doch vor ganz Europa eine Geldwechslerin nötig: diese muß eine Republik sein: liegen, wie Holland liegt: mit dem Seedienst verbunden sein: die Genauigkeit zum Nationalcharakter haben und siehe! das ist Holland! Republik, in der Mitte von Europa, für die See geboren, arbeitsam und nichts als dieses, genau und reinlich wie im Gelde so in der Rechnung: es wird lange Wechslerin bleiben, was ist's denn aber als dieses allein? Keine Seemacht, sondern Seedienerin; keine handelnde Nation mehr: sondern Dienerin und Hand des Handels: welche große Veränderung! Denn wird man sehen, was Handelsgeist, der nichts als solcher ist, für Schwächen gibt: das wird alsdenn kein grübelnder Philosoph, sondern die reelle Zeit lehren, nicht mit Worten, sondern Taten: in einem großen Beispiel, für ganz Europa, an einer ganzen Nation. Da wird man sehen, wie der bloße Handelsgeist den Geist der Tapferkeit, der Unternehmungen, der wahren Staatsklugheit, Weisheit, Gelehrsamkeit usw. aufhebet oder einschränket: man kann's zum Teil in Holland schon jetzt sehen. Ist hier wahres Genie? einen ehrlichen Friso nehme ich aus; diese Provinz ist nicht Holland: das übrige ist, als öffentliche Sache, Lateinisch, Griechisch, Ebräisch, Arabisch Experiment. Medizin. Kram; sehr gut, nach unsrer Literatur vortrefflich, ein Muster, unentbehrlich. Sie kommen weiter, als die Deutschen und Franzosen, die sich allem widmen, und weniger weit, als die Engländer, die immer Genie mit ihren Erfahrungen verbinden, und das erste oft übertreiben. Alles ist in Holland zu Kauf: Talente, und die werden also Fleiß: Gelehrsamkeit und die wird Fleiß: Menschheit, Honnêteté, alles wird vom Kaufmannsgeiste gebildet – doch ich will erst Holland sehen! – Und zum Übersehen des Genies, oder zum Gedächtnislernen des Krams der Gelehrsamkeit ist das, glaube ich, das erste Land!

Was wird aber auf den Handelsgeist Hollands folgen? Geist[215] der Parteien, d.i. der ekonomischen innerlichen Handlung eines jeden Landes? Auf eine Zeitlang glaub ich's, und es läßt sich dazu an in ganz Europa. Oder der Parteien, d.i. der Aufwieglung? Dies ist auf das eben Genannte unvermeidlich. Eines der großen Völker im ekonomischen Handel z.E. England wird ein andres aufwiegeln, das wild ist, und dabei selbst zugrunde gehen – könnte dies nicht Rußland sein! – Oder der völligen Wildheit, Irreligion, Überschwemmung der Völker? was weiß ich. Die Jesuiten in Amerika haben aufgehört: ich habe mich betrogen: seinem Untergang indessen wird der feine politische Geist Europens nicht entgehen. In Griechenland sprach man nicht ein Wort von Rom, bis dies jenes überwand: so mit Griechenland und Ägypten: Ägypten und Persien: Assyrien und Meden. Nur Rom und die Barbaren – das war anders: da munkelte es lange, wie der Pöbel sagt: in unsrer Zeit muß es noch länger munkeln, aber desto plötzlicher losbrechen. –

Was wollen doch alle unsre Kriegskünste sagen? Ein griechisches Feuer, eine neue Erfindung, die alle vorige zerstört, ist allen überlegen. Was will alle Gelehrsamkeit, Typographien, Bibliotheken usw. sagen? Eine Landplage, eine barbarische Überschwemmung, alsdenn ein herrnhutischer Geist auf den Kanzeln, der Gelehrsamkeit zur Sünde und Mangel der Religion und Philosophie zum Ursprunge des Verderbens macht, kann den Geist einführen, Bibliotheken zu verbrennen, Typographien zu verbrennen, das Land der Gelehrsamkeit zu verlassen, aus Frömmigkeit Ignoranten zu werden. So arbeiten wir uns mit unserm Deism, mit unsrer Philosophie über die Religion, mit unsrer zu feinen Kultivierung der Vernunft selbst ins Verderben hinein. Aber das ist in der ganzen Natur der Sachen unvermeidlich. Dieselbe Materie, die uns Stärke gibt, und unsre Knorpel zu Knochen macht, macht auch endlich die Knorpel zu Knochen, die immer Knorpel bleiben sollen: und dieselbe Verfeinerung, die unsern Pöbel gesittet macht, macht ihn auch endlich alt, schwach und nichts tauglich. Wer kann wider die Natur der Dinge? Der Weise geht auf seinem Wege fort die menschliche Vernunft aufzuklären, und zuckt nur denn die Achseln, wenn andre Narren von dieser Aufklärung als einem letzten Zwecke, als einer Ewigkeit reden. Alsdenn muß man die Diderotschen und schweizerischen Politiker widerlegen, oder, da dies im Geist unsrer Zeit, da der Antirousseauianism herrscht, zu einer Fabel wird und noch zu früh auch für Nutzen und Ausführung wäre, bei sich das bessere[216] denken. Alle Aufklärung ist nie Zweck, sondern immer Mittel; wird sie jenes, so ist's Zeichen daß sie aufgehört hat, dieses zu sein, wie in Frankreich und noch mehr in Italien, und noch mehr in Griechenland und endlich gar in Ägypten und Asien. Diese sind Barbarn und verachtenswürdiger als solche: die Mönche von Libanon, die Wallfahrter nach Mekka, die griechischen Papas sind rechte Ungeziefer aus der Fäulnis eines edlen Pferdes. Die italienischen Akademien in Cortona zeigen die Reliquien ihrer Väter auf und schreiben drüber, daß es erlaubt sei, sie aufzuzeigen, lange Bücher, Mémoires, Quartanten und Folianten. In Frankreich wird man bald so weit sein: wenn die Voltaire und Montesquieu tot sein werden: so wird man den Geist der Voltaire, Bossuets, Montesquieu, Racine usw. so lange machen: bis nichts mehr da ist. Jetzt macht man schon Enzyklopädien: ein D'Alembert und Diderot selbst lassen sich dazu herunter: und eben dies Buch, was den Franzosen ihr Triumph ist, ist für mich das erste Zeichen zu ihrem Verfall. Sie haben nichts zu schreiben und machen also Abrégés, Dictionnaires, Histoires, Vocabulaires, Esprits, Encyclopédieen, usw. Die Originalwerke fallen weg. – Daß ein Volk durch seine Feinheit des Geistes, wenn es einmal auf Abwege gerät, desto tiefer hinein sich verirre, zeigt der unvergleichliche Montesquieu an den Griechen, die durch ihren feinen Kopf ebenso tief hinein in die Spekulation gerieten über die Religion, die ihr Gebäude umwarf.

England – in seinem Handel geht es sich zu ruinieren? seine Nationalschulden werden die Verfall des Ganzen machen? – aus Amerika wird's da nicht von seinen Kolonien, Schaden nehmen? was ist's in der Konkurrenz andrer Nationen? wie weit kann diese dagegen noch steigen? – geht es im Handel also zu Bette, oder noch höher zu werden? Aber sein Geist der Manufakturen, der Künste, der Wissenschaften wird der sich nicht noch lange erhalten? Schützt es da nicht seine Meerlage, seine Einrichtung, seine Freiheit, sein Kopf? Und wenn es insonderheit die Aufwieglerin überwindender Nationen sein sollte, wird es nicht dabei wenigstens eine Zeitlang gewinnen? und lange für dem Ruin sich wenigstens noch bewahren? – –

Frankreich: seine Epoche der Literatur ist gemacht: das Jahrhundert Ludwigs vorbei; auch die Montesquieus, D'Alemberts, Voltaires, Rousseau sind vorbei: man wohnt auf den Ruinen was wollen jetzt die Heroidensänger und kleinen Komödienschreiber und Liederchenmacher sagen? Der Geschmack an[217] Enzyklopädien, an Wörterbüchern, an Auszügen, an Geist der Schriften zeigt den Mangel an Originalwerken. Der Geschmack an äußerlichen fremden Schriften, das Lob des Journal étranger usw. den Mangel an Originalen: bei diesen muß doch immer Ausdruck, Stempel usw. verlorengehen und wenn sie doch gelesen werden, so ist's ein Zeichen, daß der bloße Wert und die Natur der Gedanken schon reichhaltig gnug sei, um nicht die Wortschönheit nötig zu haben. Und da die Franzosen von der letzten so viel und alles machen, da ihnen Wendung, Ausdruck und überhaupt Kleid des Gedankens alles ist: da die Deutschen so sehr von den Wendungen und dem Lieblingsstaat der Franzosen abgehen und doch, die so verachteten Deutschen doch gelesen werden – so ist dies ein großes Kennzeichen von der Armut, von der demütigen Herabkunft des Landes. Marmontel, Arnaud, Harpe sind kleine Stoppeln, oder sprossende Herbstnachkömmlinge: die große Ernte ist vorbei.

Was hat das Jahrhundert Ludwigs würklich Originelles gehabt? Die Frage ist verwickelt. Aus Italien und Spanien haben ihre größten Geister vieles her, das ist unleugbar: die Klubbe unter Richelieu arbeitete über fremde Gegenstände: Corneilles »Cid« ist spanisch: seine Helden noch spanischer: seine Sprache in den ersten Stücken noch spanischer, wie Voltaire in seinem Kommentar darüber zu lesen ist. Seine »Medea« war ein Hexenstück: sein »Cid« siehe davon die merkwürdige Vorrede Voltaires und die Romanzen drüber. Von Moliére findet man etwas im 2. Teil der Bibliothek der Ana – der Kardinal Mazarin, der Quinault und die Oper aufweckte, war Italiener. Die Ritteraufzüge, Festlichkeiten usw. italienisch: Lully ein Italiener: der Geschmack der Kunst, Baukunst, Bildhauerei, Verzierungen, Münzen, italienisch: die Komödie italienisch. Die Gesellschaft der Wissenschaften meist Italiener im Anfange, siehe Fontenelle und Voltaire: »Telemach« ein Gedicht halb lateinisch halb italienisch in seinen Beschreibungen: usw. Die vornehmsten Künste waren erfunden oder zurückerfunden von den Italienern: was haben die Franzosen getan? nichts, als das Ding zugesetzt, was wir Geschmack nennen. Dazu disponierte sie ihre philosophischere Sprache, mit ihrer Einförmigkeit, Reichtum an abstrakten Begriffen und Fähigkeit, neue abstrakte Begriffe zu bezeichnen. Da kam also der spanische und italienische Geschmack mit ihren Gleichnissen und Spielwörtern ab, man nenne diese Katachresen, oder Concetti oder wie man wolle, wovon noch die ersten französischen Romanen,[218] Tragödien und Poesien voll sind. Die zu hitzige Einbildungskraft der Spanier und Italiener ward in der kältern Sprache und Denkart der Franzosen gemildert: das gar zu Feurige der Liebe verschwand; es ward gemildert; aber mit dem Abenteuerlichen ging auch das wahrhaftig Zärtliche weg: es ward endlich frostige Galanterie, die nur Adel in Gedanken, Franchise in Worten und Politesse in Manieren sucht. So wird also keine wahre zärtliche Liebe mehr die Szene eines Franzosen von Geschmack sein. – Man sehe sie selbst auf ihrem Theater: welche ausstudierte Grimassen! einförmige Galanterien! – Sie haben das Herzbrechende weggeworfen: das gar zu Niedrige von Küssen usw. ist weg: das Übertriebene von Augen usw. ist weg: die wahre eheliche Liebe wird nicht gespielt; der wahre Affekt der Brautliebe ist gemein, ist einem Teil nach unedel und verächtlich; dem andern Teile nach übertrieben und lächerlich – was bleibt über? wo sind die schönen griechischen Szenen der Iphigenia usw. auf dem französischen Theater? – – Ebenso ist's mit dem Helden des französischen Geschmacks. Der Spanier abenteuerlich; Italien hat jetzt keine mehr: was ist aber der galante Held Frankreichs. – – Die Komödie ist in Italien zu gemein, zu hanswurstmäßig; in Frankreich ist sie in Szenen des gesellschaftlichen Lebens ausgeartet. Moliére ist nicht mehr. Man schämt sich von Herzen aus zu lachen: man lächelt wie im »Lügner« des Gressets und andren; (s. Cléments Nouvell. darüber). Die französische Komödie macht Szenen des gesellschaftlichen Lebens; Abende nach der Mode, Marquis, oder nichts. – – Die wahre Kanzelberedsamkeit weg: keine unmittelbare Rührung, sondern Tiraden von großen Bildern, langschwänzigen Perioden, nichts mehr. Können die Bossuets, Fléchiers, usw. rühren! Dazu ist weder Thema, noch Publikum, noch das Ganze der Rede; erleuchten, hie und da erschüttern, das können sie – nur jener Redner vom Jüngsten Gericht in einer Provinz wußte zu rühren mit dem Ganzen der Rede; in Paris wäre er ausgelacht, oder ausgezischt usw.

Also ist's nur eine gewisse Annäherung an die kältere gesunde Vernunft, die die Franzosen den Werken der Einbildungskraft gegeben haben: das ist Geschmack und ihr Gutes. Es ist aber auch Erkältung der Phantasie und des Affekts, die sie ihm damit haben geben müssen; und das ihr Geschmack im bösen Verstande, der endlich nichts, als das bleibt, was Montesquieu politische Ehre ist. Dieser große Mann gibt auch hierin eine Bahn zur Aussicht. Griechenland war gleichsam wahre Republik der Wissenschaften;[219] da galt auch seine Triebfeder, Lit.-Tugend, Liebe zu den Musen. In Rom war's Aristokratie: da schrieben nur einige Vornehme und ihre Tugend war Moderation. Mit einemmal ward's Despotism unter der päpstischen Regierung. Eine andre Art von Gestalt bei der Wiederauflebung, wo es Ehre war die Alten nachzuahmen; das war aristokratische Monarchie: die Alten das Depot der Gesetze und des Senats. Vergleichung dieses Zeitpunkts mit den Römern, bei denen die Griechen auch ein Depot der Gesetze und Senat waren; aber bei ähnlichern Sitten, Sprachen, Zustande; also minder tyrannisch, minder venezianisch, wie die letzte. – In Frankreich war's Monarchie! Ehre und wie sie Montesquieu beschreibt, ward Triebfeder in allem – in England ist's Despotism und Demokratie, Shakespeare usw. regieren: und werden verspottet: Bolingbroke regierte und wird verspottet – was ist's in Deutschland. – In Holland Despotism und Scharwerksarbeit; in Deutschland akademische Aristokratie, die sich in


[Lücke im Manuskript]


Wie kann sie in Deutschland nachgeahmt werden? Eben um so weniger, da wir von dieser Monarchie, von diesem Hofzustande, von dieser Honneur in der Literatur wenig wissen, sie nicht haben können und wo wir sie haben, mit Verlust erkaufen. Der Franzose weiß nichts vom Reellen der Metaphysik und kann nicht begreifen, daß es was Reelles in ihnen gebe (s. Clément bei Gelegenheit Condillacs, Maupertuis, Königs usw. Siehe ebenso die Spöttereien Voltaires, Crébillons usw.). Er hat lauter Konvention des Gesellschaftlichen in seiner Philosophie, die er hat und sucht; wir lieben abstrakte Wahrheit, die an sich liebenswürdig ist, und das Faßliche ist nicht Hauptwerk sondern Conditio sine qua non. So auch in der Physik usw. Bei Fontenelle erstickt alles unter Gespräch, in seinen Lobreden alles Materielle unter schöne Wendung, daß die Wissenschaft selbst Nebensache wird. So auch in der menschlichen Philosophie: bei Rousseau muß alles die Wendung des Paradoxen annehmen, die ihn verdirbt, die ihn verführt, die ihn gemeine Sachen neu, kleine groß, wahre unwahr, unwahre wahr machen lehrt. Nichts wird bei ihm simple Behauptung; alles neu, frappant, wunderbar: so wird das an sich Schöne doch übertrieben: das Wahre zu allgemein und hört auf Wahrheit zu sein; es muß ihm seine falsche Tour genommen, es muß in unsre Welt zurückgeführt werden, wer aber kann das? Kann's jeder gemeine Leser? ist's nicht oft mühsamer, als daß es das lohnt, was man dabei gewinnt? und wird nicht also Rousseau[220] durch seinen Geist unbrauchbar oder schädlich bei aller seiner Größe? – Endlich Voltaire gar – was ist bei dem Historie als ein Supplement und eine Gelegenheit zu seinem Witze, seiner Spotterei, seiner Betrachtungslaune? Diese ist an sich schön; sie kann, insonderheit die Deutschen, sehr bilden; nur nachgeahmt werden? in der Historie nachgeahmt werden? Muster der Historie sein? mit oder ohne Voltaires Geist – nie! mit ihm wird die Historie verunstaltet; ohne ihn noch mehr verunstaltet – man lese ihn also als Voltaires Einfälle über die Historie! so recht und kann viel lernen. Dies gilt noch mehr die abstrakten Wissenschaften, die Newtonische Philosophie und am meisten seine Metaphysik. – – Thomas was muß man ihm nehmen und geben, daß er würdig lobe! Geben den Geist der Helden, die er lobt Sully, und d'Agues seaus, Trouins und des Marschalls, und insonderheit Descartes – hat er den? kann er den haben? Er ist also ihr Deklamateur, was man bei allen, am meisten bei Descartes, Sully und dem Marschall sieht: macht Kleinigkeiten groß, und vergißt Größen: hat so viel er's auch verbergen will, seine loci communes von Erziehung, Schutzgeist, Ungewöhnlichem der großen Seele, Charakter aus Trublet und Bossuet: hat noch mehr seine erschrecklichen loci communes bei Beschreibung der Länder der Wissenschaften, der Völker, Kriege und großen Unternehmungen – da siehet man die Thomasschen Aufstutzungen, die ihm genommen, was bleibt übrig? seine Anekdoten, die er anführt, und historische Umstände! Indessen ist er bei seinen Fehlern zu lesen: diese sind süße, bildende Fehler! aber nicht daß sie das Hauptwerk der Lobreden werden. Ein Deutscher, der Wolf und Leibniz lobte, wie anders der?

Rochefoucault! wie entfernt er sich! wie vertieft er sich! seine Hauptmaxime selbst ist nur halbwahr: und welche unmenschliche Anwendung! politisch wahr und vielleicht auch nützlich! aber menschlich nicht wahr und erniedrigend, demütigend, nicht bessernd, sondern verschlimmernd – die Ausgeburt eines scharfsinnigen Kopfs, eines witzigen Gesellschafters, der oft betrogen ist, und sich durch seinen Stand ein ernsthaftes Dessus gibt; eines melancholischen Temperaments und gallichten Herzens. Ich lese meinen »Tristram« lieber! – Montesquieu endlich selbst, ist er ganz frei vom faux-brillant? man sehe, wie oft er in der Übersetzung unkenntlich ist, und es zum Teil sein muß, der Güte und Fehler seiner Sprache halben. Ganz frei vom falsch Philosophischen? noch minder! und seine Übersetzung in unsre philosophischere[221] Sprache ist hier noch mehr Zeugin. – – Man sieht, die Mühe, die er sich gibt, abstrakt, tiefsinnig zu sein: Ideen zu verkürzen, um nur viel zu denken zu geben und es scheine, daß er noch mehr gedacht habe: Aufstutzungen kleiner juristischen Fälle und Phänomene unter Gerüste von großen Aussichten, Kontinuationen desselben Sujets, Bemerkungen, Zubereitungen usw. Selbst seine Grundsätze sind wahr, fein, schön; aber nicht vollständig und einer unendlichen Mischung unterworfen: Es gibt demokratische Aristokratien und v.v. Aristokratien und Demokratien in verschiedner Stufe der Kultur diese, der Macht und des Ansehens jene. Aristokratische Monarchien und monarchische Aristokratien wie z.E. Rom, Florenz usw. diese; jenes Schweden und Polen sind, und selbst diese wie verschieden sind sie? und noch mehr können sie sein, nach Einrichtungen, Sitten, Kultur, Macht der Aristokraten und des Monarchs. Monarchischer Despotism, da dieser durch jenen nur gemildert wird, wie unter Ludwig XIV. und Richelieu in Frankreich; und despotische Monarchie, wie in Preußen und mit schwächern Zügen in Dänemark. Aristokratischer Despotism, wie in Rußland; demokratischer, wie in der Türkei. – Demokratisch aristokratische Monarchie wie in Schweden; monarchische aristokratische Demokratie wie in England usw., wer kann alle kleinere Republiken und Staatsverfassungen durchgehen? in allen Zeiten? Ländern, Veränderungen? das einzige Rom wieviel hat's gehabt? wenn war es sich gleich? Nie! welch ein feines Werk ist da noch aus Montesquieu (Geist der Gesetze) über Montesquieu (Geist der Römer) zu schreiben, was er und Mably nicht geschrieben! – Wie muß er also verstanden, vermehrt, ausgefüllt, recht angewandt werden! wie schwer ist das letzte insonderheit? das zeigt das größeste Beispiel, die Gesetzgebung Rußlands! Wie groß für Montesquieu, wenn er so geschrieben hätte, um nach seinem Tode ein Gesetzgeber des größesten Reichs der Welt sein zu können? Jetzt ist er's, der Ehre nach! aber ob auch der Würde, dem würklichen Nutzen nach? Das weiß ich nicht.

Die Monarchin Rußlands setzt eine Triebfeder zum Grunde, die ihre Sprache, Nation, und Reich nicht hat, Ehre. Man lese Montesquieu über diesen Punkt, und Zug für Zug ist die russische Nation, und Verfassung das Gegenbild: man lese ihn über Despotism und Crainte, und Zug für Zug sind beide da. Nun höre man ihn selbst, ob beide zu einer Zeit dasein können.

Die Ehre will, daß man sich von Mitbürgern unterscheide,[222] schöne, große, außerordentliche Handlungen tue: ein Russe kann nicht diese Triebfeder haben, denn er hat keine Mitbürger: er hat für Bürger kein Wort in seiner Sprache. Der junge Russe von Stande sieht an Bürgern nichts als Knechte, wovon ich selbst ein redendes Beispiel gekannt habe: der junge Russe ohne Stand sieht nichts als Pfiffe, wodurch er sich heben kann. Diese Pfiffe sind nicht Geist der Nation, weil sie Größe des Geistes sind, sondern weil sie Vorteile bringen: so hebt sich der Große, wenn er glücklich rebelliert, und der Arme, weil er dadurch reich wird. Beide wagen, als Sklaven, ein letztes! unglücklich oder glücklich! Furcht oder Hoffnung! – ganz also das Gegenteil der Ehre! Ist's honett ein betrügerischer Kaufmann, ein Schmeichler, ein Rebell, ein Königsmörder zu sein! der Russe ist alles durch Natur!

Die Ehre will, daß man nicht niedrig schmeichle: der Russe ist nie andres, als niedrig in seiner Schmeichelei, damit er groß gegen andre sei: d.i. er ist Sklave um Despot zu werden. Die Ehre will, daß man die Wahrheit spreche, wenn es Honnêteté gebeut; der Russe sagt sie denn am wenigsten, und wenn es auch nur der geringste Vorteil wollte. Die Politesse der Russen ist grob despotisch z.E. im Saufen, Küssen usw. hat grobe Ehre; oder ist grobe Gewohnheit; oder endlich Betrügerei. Kein Russe ist fein, um zu zeigen, daß er nicht grob und niedrig ist: denn sonst würde er's immer sein, auch gegen Bediente, Untere usw. sondern gegen die ist er eben Despot. Solche Sitten haben sich z.E. dem Rate in R[iga] selbst eingeflößt, und der dicke B. ist ein Muster russischer Politesse: sein Anhängling hat wahrere französische, um ihr selbst willen, daß er doch nicht B. sei.

Diese Triebfeder ist also nicht bloß nicht; die sklavische Furcht ihr Gegenteil ist um so mehr würksam. Wie kann jene nun zur Triebfeder genommen werden? Damit sich der Hof betrüge! damit das Gesetzbuch nie gehalten werde! damit eine völlige Verwilderung einbreche! der Furcht und ihren greulichen Unternehmungen wird nicht zuvorgekommen, sie nicht eingehalten, sie nicht gelenkt: die Gesetze sind zu gelinde! Von der andern Seite werden Gesetze keine Ehre einflößen, diese also nicht würksam machen: der Staat hat also keine Triebfeder; er wird despotische Aristokratie, oder wenigstens demokrat. aristokrat. Despotism bleiben, und sich in eine große Umwälzung hineinrollen, sobald das Gesetzbuch und nicht die Person eines Prinzen regiert. Diese regiert jetzt: wird sie aber immer regieren?

Die Monarchin will, um ihre Nation nicht zu schmälern, den[223] Despotism verkennen, in der Triebfeder: vielleicht verkennet sie ihn auch im Effekt: denn wie und welche Art und woher sie regiert, ist sie keine Despotin und kann es auch nicht sein. Aber sieht sie denn keine Despoten ihrer selbst? sieht sie keinen Senat, Großen usw. denen sie sich bequemen muß. Und was ist nun ärger, als ein aristokratischer Despotism? – – Sie sieht nichts als aristokratische Republik im Senate: sie ehrt ihn mit dem Namen eines Depots der Gesetze usw. sie nimmt Regeln aus einer Republik her, um sie auf ihn zu passen. Große Kaiserin! wie unrecht genommen! – – Diese Herren stellen sie das Reich vor? sind sie aus dem ganzen Adel des Landes genommen? durch rechte Wege hineingekommen? sind sie die Gewährleute der Gesetze, da Rußland keine Gesetze hat? haben sie die gehörige Macht zu widersprechen? die gehörige Triebfeder fürs Reich zu reden? was ist ihr Reich? ihre Untertanen? die sind Sklaven. Dein Reich! Große Kaiserin! Nein! ihr Palais, Güter, Luxus, Bedürfnisse, Parten, die sie durch Geschenke gewonnen, das ist ihr Reich, dem sie dienen! für das sie alles tun werden – für welches sie Pöbel für dir sind, um Despoten über dich und das Reich zu sein; welche Republik! welch eine Zerstreuung! – – und nun wo ist Montesquieu an seiner Stelle. – – Ein zweiter Montesquieu, um ihn anzuwenden!


Die Normandie – o Land, was bist du gewesen? Wo ist dein Geist der Galanterie und des Heldentums, der Gesetze, und der Erziehung, wo ist er? und wie groß war er? was hat er nicht in Europa ausgerichtet? in Frankreich, in England, in Neapel, in Sizilien, in Italien, in Asien durch die Kreuzzüge, in Cypern, in der Welt? Eine Geschichte von ihm wäre mehr als eine Geschichte des französischen Patriotismus: sie enthielte zugleich einen großen Teil des Ritter- und Riesengeschmacks, mithin der französischen, englischen und italienischen Literatur. Und wohin ist dieser Geist verflossen? Er hat sich im Fluß der Zeiten verdünnet, er ist in Orden und Zerimonien, in Kreuzzüge und Wanderungen verflossen, er ist nicht mehr. Indessen waren's doch noch meistens aus der Normandie, die die berühmtesten Schriftsteller Frankreichs gewesen: Marot, Malherbe, Sarrazin, Segrais von Caën: Scudéry von Havre, die Corneillen, Brébeuf, Fontenelle von Rouen, Benserade dabei, und der Kardinal Perron aus Niedernormandie. Einer in den Ana zerbricht sich darüber den Kopf, wie dies mit dem Phlegma der Provinz zu reimen sei; ich[224] hätte Lust hievon zu abstrahieren, und die zweite Wiederauflebung ihres Geistes hier zu suchen.

In Frankreich: alles spricht hier Französisch, sogar Piloten und Kinder! Man legt die letzte Frage einem deutschen Bedienten in den Mund und es wird Buffonnerie. Wieviel Sachen aber sind nicht von den Alten, die wir so untersuchen, daß uns nur immer ein Bedienter diese Frage zurufen sollte. So wenn wir die griechische Sprache im Homer untersuchen: diese Sprache muß man alsdenn denken, sprachen alle Kinder! verstanden alle Leute! Poeten und Narren sangen sie auf den Gassen. Das waren Götter des Volks und des Pöbels! Geschichte und Heldentaten des Volks und der Kinder! Akzente und Silbenmaße des Volks und der Nation! So muß man sie lesen, hören, singen, als ob man sie in Griechenland hörte, als ob man ein Grieche wäre! – – Was das für Unterschied gibt zwischen einer lebendigen und toten Sprache, das weiß ich! Diese lieset man mit den Augen: man sieht sie; man hört sie nicht: man spricht sie nicht aus: man kann sie oft nicht aussprechen, wenn man sie gleich verstehet. So entbehrt man allen lebendigen Klang, und bei einem Poeten, bei einem griechischen Poeten allen lebendigen Wohlklang: alles Malende im Ton der Wörter: alle Macht des Silbenmaßes, des Schalls, der Annehmlichkeit. Sowenig ich alle Süßigkeiten in Voltaires Silbenmaßen fühlen kann: so wie ich's immer mehr lernen muß, sie in ihm und Gresset und Racine zu fühlen; tausendmal mehr mit der lebendigen, tönenden, im Leben abgezognen, lebendig gesungnen griechischen Sprache. Welche Zauberei gehört dazu, sie zu singen, nicht zu deklamieren, sondern zu singen, zu hören, wie sie Io bei Plato sang und hört und fühlte und wer kann das? – Wieviel Bemerkungen Clarkes, Ernesti fallen da nicht weg! werden unleserlich! unausstehlich! In Holland will ich Homeren so lesen und den dürftigen 2. Teil meiner »Krit. Wälder« damit vollfüllen! –

Zweitens! fällt mit der toten Sprache aller lebendige Akzent weg: die Flick- und Bindewörter, auf die sich die Rede stützt, wenn es auch nur ein eh bien! ma foi! usw. sein sollte, aber so hörbar ist, um Leben oder nichts zu geben. So sind im Französischen das n'allés pas etc. das je m'en vais etc. und 1000 andre Ausdrücke, und viele Phrases, Bindewörter, usw. müssen's im Griechischen sein. Hier ist Clarke sehr zu brauchen und für mich zu wünschen, daß ich einen gebornen Griechen fände oder selbst nach Griechenland käme, auch nur, wie es jetzt ist: um diesen[225] lebendigen Ton des Sinnes, den Akzent des Ausdrucks usw. zu hören, um Nationalgriechisch sprechen zu können. Wieviel 1000 kleine Unterschiede gibt's da nicht, bei Konstruktionen, temporibus, Partikeln, Aussprache, die man bloß durch die lebendige Rede hört. Die Franzosen z.E. scheinen mit ganz andern und höhern Organen zu reden, als wir: unsre scheinen tiefer im Munde und Rachen zu liegen: so Holländer, Engländer; jene höher, öffnen mehr den Mund: insonderheit wird das beim Singen merklich. Daher auch mit je höhern Organen man spricht, man musikalischer wird und sich dem Gesange nähert: s. Rousseaus Wörterbuch unter Akzent, Schall, Ton, Stimme usw. Die Deutschen singen also wenig oder gar nicht: der Franzose mehr: der Italiener seiner Sprache und Organen nach noch mehr: der Grieche noch mehr und sang. Das gehört zu haben, so sprechen zu können, so die Sprache in allen Akzenten der Leidenschaft kennen: das heißt Griechisch können. O könnte ich Homer so wie Klopstock lesen! Skandiere ich nicht: welch andrer Poet! Weiß ich für die Leidenschaft und Natur ihn zu skandieren; was höre ich da nicht mehr! Welche Verstärkung, Stillstand, Schwäche, Zittrung usw. O sänge mir Homer, Pindar, und Sophokles vor.

Drittens endlich; der Sinn und Inhalt der Rede: Lieblingsausdrücke und Bezeichnungen der Nation: Lieblingswendung und Eigenheit in der Denkart – Gott! Welcher Unterscheid! Wie hier der Franzose das Jolie liebt, immer vom Amüsanten spricht, von Honnêteté, die bei ihm ganz was anders ist; was hatte da der Geist der griechischen und lateinischen Sprache? Nicht, was das Wort heißen kann, nach ein paar Wörterbüchern; sondern nach dem Sinn des lebenden Volks, hier, jetzt, und mit Eigensinn heißet? So muß Thersit charakterisiert werden und alle Charaktere und Homer und alles! Welch ein Feld zu lernen, den Geist der griechischen Sprache zu lernen! nach Zeitaltern und Schriftstellern. Da muß man aber in der Erziehung ein Montaigne und Shaftesbury gewesen sein und lebendig Griechisch können, oder kann nichts! Welche große Sache, wenn ein Professor der griechischen und lateinischen Sprache diese so kann! nicht durch Wörterbücher, und Grammatik, sondern durch ein feines innerliches Gefühl, was uns unsre Ammen besser beibringen, als unsre gelehrte Aristarche! Dies feine Gefühl am Sinn der Worte, der Redarten, der Konstruktion, des Klanges haben es im Lateinischen Gesner und Ernesti? hat es Klotz gehabt? kann er Gesner und[226] Christ und Crusius beurteilen? Wie beurteilt er sie und Reiske und Sannazar insonderheit und Vida u.a.? Hier muß man sich aus den alten Lateinern und aus den neuen Italienern und aus den Favoritsprüchen in ana bilden, und ja gewisse Jahre und Fertigkeiten und am meisten lebendige Eindrücke nicht versäumen. Hat Ruhnke dies Gefühl im Griechischen? Herel im Griechischen? Heyne nicht im Lateinischen! das wäre Weg ihn zu loben (im 2. T. der »Krit. Wälder«). Hat's Klotz in Absicht auf Horaz? Hat's Algarotti in Absicht auf diesen mehr? Wie sind in diesem Betracht die verschiednen Urteile verschiedner von einem Manne zu vereinigen! Siehe die Bibliothek der ana p. 84. 85. usw. Hat Lambin, B. – – – und Ramler ein solch Gefühl von Horaz! Klotz von Tyrtäus, Weiße? – – dies ist auch der beste Weg mich herauszuziehen, wo man mich der wörtlichen Schwäche im Griechischen und Lateinischen beschuldigt. Hierdurch werden die »Krit. Wälder« sich im 1. und 2. Teil sehr heben und das soll Holland tun! So will ich in Frankreich Französisch, in Holland Lateinisch und Griechisch, in England Englisch, in Italien Italienisch und Lateinisch und Griechisch lernen: ei wo Hebräisch und Arabisch? – – Ja aber, daß ich nirgends die Frage vergesse: in Frankreich reden auch die Kinder Französisch?

Von diesem Geist der Zeit hängen Sprachen, wie Regierungen ab: die Sache wird bis zum Augenschein frappant, wenn man vergleicht. Derselbe Geist der monarchischen Sitten, den Montesquieu an seiner Person so augenscheinlich malt, herrscht auch in ihrer Sprache. Tugend, innere Stärke, hat diese wenig, wie die Nation; man macht mit dem Kleinsten das Größeste was man kann, wie eine Maschine durch ein Triebrad regiert wird. Nationalstärke, Eigenheit, die an ihrem Boden klebt, Originalität hat sie nicht so viel; aber das was Ehre auch hier heißt, das Vorurteil jeder Person und jedes Buchs und jedes Worts ist Hauptsache. Ein gewisser Adel in Gedanken, eine gewisse Freiheit im Ausdruck, eine Politesse in der Manier der Worte und in der Wendung: das ist das Gepräge der französischen Sprache, wie ihrer Sitten. Nicht das, was man andern lehrt ist Hauptmiene, sondern das, was man selbst weiß und lehren kann; was man sich selbst schuldig ist, und das weiß keiner vortrefflicher als Voltaire, und Rousseau, sosehr es der letzte auch verleugnet und so greulich verschieden sie es auch sind. Sie sind's doch der erste eitel und frech auf sich; der andre stolz und hochmütig auf sich; aber beide suchen nichts so sehr, als das Unterscheidende. Nur[227] jener glaubt sich immer schon unterschieden zu haben, und verficht sich bloß durch Witz; dieser durch seine unausstehliche, immer unerhörte Neuigkeit und Paradoxie! So sehr Rousseau gegen die Philosophen ficht, so sieht man doch, daß es auch ihm nicht an Richtigkeit, Güte, Vernunft, Nutzbarkeit seiner Gedanken gelegen ist; sondern an Größe, Außerordentlichem, Neuen, Frappanten. Wo er dies finden kann, ist er Sophist und Verteidiger: und daher haben die Franzosen auch so wenig Philosophen, Politiker und Geschichtschreiber; denn diesen drei Leuten muß es bloß an Wahrheit gelegen sein. Was aber opfert nun nicht Voltaire einem Einfall, Rousseau einer Neuigkeit, und Marmontel einer Wendung auf!

Die Galanterie ist daher so fein ausgebildet unter diesem Volk, als nirgends sonst. Immer bemüht, nicht Wahrheit der Empfindung und Zärtlichkeit zu schildern; sondern schöne Seite derselben, Art sich auszudrücken, Fähigkeit erobern zu können – ist die Galanterie der französischen Romane und die Koketterie des französischen Stils entstanden, der immer zeigen will, daß er zu leben und zu erobern weiß. Daher die Feinheit der Wendungen, wenn sie auch nichts sind, damit man nur zeige, daß man sie machen könne. Daher die Komplimente; wenn sie nur nicht niedrig sind: daher also aus dem ersten die Crébillons, aus dem zweiten die Fontenelle, aus dem dritten die Bossuets und Fléchier, die Prologen und die Journalisten. Hätte Fontenelle die Gaben auf den Inhalt gewandt, die er jetzt auf Wendungen und die Oberfläche der Wissenschaften wendet, welch ein großer Mann wäre er geworden, in einer Klasse; da jetzt als Sekretär aller Klassen keiner über ihn ist unter denen die vor ihm gewesen und nach ihm kommen werden. So die Komplimenten der Journalisten: keine Nation kann besser, feiner, genauer, reicher schildern als diese: nur immer wird diese Schilderung mehr zeigen, daß sie schildern können, daß sie Erziehung haben, daß sie nicht grob wie Deutsche sind, als die Sprache des Sturms der Wahrheit und Empfindung sein. Die Galanterie ist nichts weniger als die Sprache des Affekts und der Zärtlichkeit; aber des Umgangs und ein Kennzeichen, daß man die Welt kenne.

So auch der Tadel: er ist immer die Sprache, die da zeigt, daß man auch zu tadeln hardi und frei und klug gnug sei: nicht die Sprache, daß der Tadel unentbehrlich, nützlich, notwendig, gut, gründlich sei. Das ist Wahrheit des Pöbels, der sie bloß aus Simplizität um ihr selbst willen sagt. – – So auch der Wohlstand: er[228] ist Hauptsache der Manier. Man will gefallen; dazu ist der große Überfluß der Sprache an Wohlstands-Höflichkeits-Umgangsausdrücken; an Bezeichnungen fürs Gefällige, die immer das erste sind: Bezeichnungen für das, was sich unterscheidet: an Egards, ohne sich was zu vergeben usw. Diese Hofmiene hat die Sprache von innen und außen gebildet und ihr Politur gegeben. Geschmack ist Hauptsache und tausendmal mehr als Genie, dies ist verbannt, oder wird verspottet, oder für dem Geschmack verkleinert. Der beständige Überfluß von vielen Schriften und Vergnügen, macht nichts als Veränderung zur Haupttugend: man ist der Wahrheit müde: man will was Neues, und so muß endlich der barockste Geschmack herhalten um was Neues zu verschaffen. Dies Neue, das Gefällige, das Amüsante ist Hauptton. Auch als Schriftsteller, auch in der ganzen Sprache ist der »honnêt homme« der Hauptmann. Tausend Ausdrücke hierüber, die auch im Munde des Pöbels sind, geben der Sprache ein Feines und Kultiviertes, was andre nicht haben. Jeder wird von seiner Ehre, von Honnêteté, usw. sprechen und sich hierüber so wohl, und oft so fein, so delikat ausdrücken, daß man sich wundert. Hierin ist sie Muster, und es wäre eine vortreffliche Sache vom Geist, vom Wohlstande, von der Ehre, von der Höflichkeit der französischen Sprache und ihrer Kultur zu schreiben!

Aber nun umgekehrt: wo ist Genie? Wahrheit? Stärke? Tugend? Die Philosophie der Franzosen, die in der Sprache liegt: ihr Reichtum an Abstraktionen, ist gelernt; also nur dunkel bestimmt, also über und unter angewandt: also keine Philosophie mehr! Man schreibt also auch immer nur beinahe wahr: man müßte auf jeden Ausdruck, Begriff, Bezeichnung achtgeben, sie erst immer selbst erfinden, und sie ist schon erfunden: man hat sie gelernt: weiß sie praeter propter: braucht sie also, wie sie andre verstehen und ungefähr brauchen: schreibt also nie sparsam, genau, völlig wahr. Die Philosophie der französischen Sprache hindert also die Philosophie der Gedanken. – – Welche Mühe hat sich hierüber Montesquieu gegeben: wie muß er oft bestimmen, sich immer an einem Wort festhalten, es oft neu schaffen um es zu sichern! wie muß er kurz, trocken, abgeschnitten, sparsam schreiben, um völlig wahr zu sein: und doch ist er's nicht immer und das seiner Sprache halben! doch ist er nicht genau, oft seiner Sprache halben! und den Franzosen unleserlich, kurz und freilich, da man immer ins Extrem fällt, zu abgekürzt. Helvetius, und Rousseau bestätigen noch mehr, was ich sage, jeder auf seine[229] Art. Hieraus werde beurteilt, ob die französische Sprache philosophische sei? Ja sie kann's sein, nur Franzosen müßten sie nicht schreiben! nicht sie für Franzosen schreiben! Sie als tote metaphysische Sprache schreiben! und da nehme man doch ja lieber gerade statt dieser barbarischen, die es damit würde, eine andre noch mehr barbarische, die nicht Franzosen erfunden, die sich nicht wie die französische verändere, die tot, metaphysisch, bestimmt ist, die lateinische. – – Aber freilich in Sachen lebendigen Umgangs mit etwas Teinture der Philosophie keine besser, als die französische. Sie hat einen Reichtum an feinen und delikaten Abstraktionen zu Substantiven, eine große Menge Adjektiven zur Bezeichnung insonderheit Dinge des Geschmacks, eine Einförmigkeit in Konstruktionen, die Zweideutigkeiten verhütet, eine mehrere Kürze von Verbis als die deutsche; sie ist zur lebendigen Philosophie die beste.

Insonderheit in Sachen des Geschmacks! Großer Gott! welche Menge, Reichtum, glücklicher Überfluß in Bezeichnungen, Charakterisierung der Schönheit und Fehler herrsche nicht in Cléments Nouvellen! Welch ein Überfluß von Hof- und galanter Sprache im »Angola«, im »Sopha«, in den feinen Romanen des Jahrhunderts! Selbst der Mangel hat hier Reichtum gegeben! Man macht Subst. aus Adject.: man macht Bezeichnungen mit dem genitive: c'est d'un etc. man formt neue Wörter: man biegt andre alte in einen neuen Sinn – was wäre hier für ein Wörterbuch und für eine Grammatik über den Geschmack in der französischen Sprache zu schrieben, wie das Komische z.E. bekannt ist: so hier das Ästhetische, das Feine, das Galante, das Artige, das Polie! Ich wünsche und wäre es nicht wert mich daran zu üben! Wer von dieser Seite die französische Sprache innehat, kennt sie aus dem Grunde, kennt sie als eine Kunst zu brillieren, und in unsrer Welt zu gefallen, kennt sie als eine Logik der Lebensart. Insonderheit aber wollen die Wendungen derselben hier berechnet sein! Sie sind immer gedreht, sie sagen nie was sie wollen: sie machen immer eine Beziehung von dem, der da spricht, auf den, dem man spricht: sie verschieben also immer die Hauptsache zur Nebensache, und die Relation wird Hauptsache und ist das nicht Etikette des Umgangs? Mich dünke, diese Quelle der Wendungen hat man noch nicht gnug in diesem Licht angesehen, und verdient's doch so sehr, philosophisch behandelt zu werden. Hier geht die französische Sprache von allen ältern ab: hier hat sie sich einen ganz neuen Weg gebahnet: hier ist sie andern und[230] der deutschen Sprache so sehr Vorbild geworden: hier und hier allein ist sie Originalsprache von Europa. Die Alten kannten dies Ding der galanten Veschiebungen nicht: wie oft ist Montesquieu in Verlegenheit, wenn er seinen Perser französische Wendungen machen läßt, oder ihn orientalisch will reden lassen und also diesen Wendungen entsagen muß. Und doch ist Montesquieu noch so edel, so simpel, so einfach in seinem Ausdruck, daß er in seinen Briefen z.E. oft wie ein Winckelmann spricht, und in seinen Sachen, die ausgearbeitet sind, und wo er nicht drechselt, noch mehr. Und doch ist Montesquieu der vielleicht, der unter allen Franzosen am meisten von seinen Freunden den Römern und Orientaliern gelernt hat! Wieviel verliert man daß sein »Arsaces« nicht erscheint! wie würde er da auch über die eheliche Liebe morgenländisch denken und französisch sprechen! Nun nehme man aber andre, die die französische Sprache haben orientalisieren wollen, um den Unterschied zu sehen! Wo bleibt da das morgenländische Wiederholen des Chors? Es wird in französische Wendung umgegossen. Hier will ich noch die »Lettres Turques« von Saintfoix lesen und überhaupt sehen wie dieser delikate Geist den Orientalismus behandelt! Alsdenn die »Peruvianerin« mit ihrer französischen Liebesmetaphysik! Alsdenn den guten Terrasson in seinem »Sethos«! Ramsay in seinem »Cyrus« und hier wäre die Parallele schön, wie Xenophon den Perser gräzisieret und Ramsay ihn französieret, oder nicht! Alsdenn ein Blick über die türkischen Spione, sinesischen und jüdischen, irokesischen und barbarischen Briefe, über die französischen Heroiden aus Orient her, über die orientalischen Erzählungen in den englischen Wochenblättern, in Wieland, in Sonnenfels, in Bodmer – – um aus allem Verschiedenheit des Genius der Sprache zu sehen. – – Die griechische Sprache hat ebensowenig von diesen Wendungen des bloßen Wohlstandes gewußt, wie es ihre Sprache der Liebe, des Umganges, des Affekts, der Briefe, der Reden zeige. Daher der jämmerliche Unterschied wenn Euripid und Racine seine griechischen Liebhaber! wenn Corneille und Sophokles seine Helden sprechen läßt – bei den Griechen ist alles Sinn, bei dem Franzosen alles loser, gewandter Ausdruck. Voltaire hat recht, daß es schwer sei, griechische und lateinische Verse französisch zu machen und daß Corneille dabei viel Kunst bewiesen! Viel Kunst freilich: Voltaire hat wahr, daß aus einem meist zwei werden, weil Wendung und Endreim in der französischen Sprache gegeben sind, und vorgestochen daliegen! Aber wehe der[231] Sprache, die so was gibt! und vorzeichnet, das sind nicht olympische Schranken! Hier öffnet sich überhaupt die große Frage, ob bei dieser Bildung des französischen Stelzenausdrucks in der Tragödie nicht viel an Corneille gelegen! an seiner schweren Art sich auszudrücken! an dem Geschmack den er vor sich fand! an der gewandten Ritter- und Höflichkeitssprache, die man liebte, der er aus dem Spanischen folgte! die ganz Europa angesteckt hatte! Und denn, Corneille war ein Normann, so wie die Scudéry, so wie Brébeuf, so wie Benserade, so wie Fontenelle! und haben alle mit ihrem normännischen Romangeist im Ausdruck nicht ebensoviel und mehr zum Verfall des guten simpeln Geschmacks beigetragen, als man's von den Seneca und Persius und Lukans aus Spanien abmißt! Seneca und Corneille, Lukan und Brébeuf, der Philosoph Seneca und Fontenelle, wie gut passen sich die nicht überhaupt. Vom Fontenelle zeigt's die Vorrede vor dem »Èsprit de Fontenelle«: von Corneille hat's Voltaire in einigen Remarquen gezeigt und wäre über ihn ausführlicher zu zeigen. Von Brébeuf, Scudéry, Benserade, Marot ist alles bekannt! Von hier aus ein Weg über die Verschiedenheit des Ausdrucks in der griechischen und französischen Tragödie! und wieviel Corneille auf diese gewürkt! eine große und weder vom Elogisten Fontenelle, noch vom Kommentator Voltaire berührte Frage. Racine folgte dieser Sprache nach und hat sie zur künstlichsten Versifikation zugeschmiedet: und Belloy und Marmontel, jener in der »Zelmire«, dieser im »Dionys.« und »Aristomène« u.f. wie übertreiben sie! Noch artiger wäre die Aufgabe von der Verschiedenheit des griechischen, oder römischen und französischen Wendungsausdrucks in Reden! Hier müßte man Übersetzungen vergleichen und Original gegen Original halten, Demosthen gegen Bossuet, Cicero gegen Fléchier und urteilen! Daraus entscheiden sich die Inversionen der französischen Sprache, über die Batteux und Cerceau und Diderot und Clément so geteilt sind. Ohne Zweifel hat die französische Sprache viele, aber das sind Tours des Wohlstandes! nicht Inversionen für die Einbildungskraft! wie das Latein, wie das Griechische! Diese den Alten ganz unbekannte Sprache, sofern sie ans Dekorum grenzt, würde den zweiten Teil der »Krit. Wälder« sehr heben! und wäre völlig neu!

Woher ist aber dieser Geist des Wohlstandes bei den Franzosen entstanden? Aus dem Genie der Nation? die wie Saintfoix will, schon als Barden das schöne Geschlecht ehrten und schon zu Julius Cäsars Zeiten leichtsinnig und Tänzer waren? Alsdenn[232] aus dem Feudalgeist der alten Franken! wo hier die Gesetze der Ehre und der Monarchie für Montesquieu sich herleiten, da hier die Gesetze der Ehre in der Sprache! Alsdenn aus dem spanisch-italienischen Geschmack, der vor dem Jahrhundert Ludwigs die Welt beherrschte! Alsdenn aus dem Hofgeschmack Ludwigs, der die Teniers aus seiner Stube hinwegroch und bei dem vieles aus seinem jugendlichen Romangeist erklärt werden kann! Und endlich aus dem einmaligen Ton, in den sich die Nation gesetzt hat, und auf welchen sie andre Nationen besuchen um ihre Höflichkeit zu sehen und zu lernen.

Mit diesem Geist des Wohlstandes geht aber den Franzosen das meiste innre Gefühl weg! So wie die Regelmäßigkeit ihrer Sprache aus Wohlstand immer verschoben ist, daß sie sich nie recht und geradezu ausdrückt: so macht auch überhaupt der Wohlstand Barriere für den Geist! Ihr »Vive le Roi« ist Wort, Ausdruck, den sie empfinden, wie sie alles empfinden, leicht, ohne Jugement, auf der Oberfläche, ohne Grund und dabei sind sie glücklich – sie preisen ihn und dienen ihm und tun alles pour le Roi, auch wenn sie aus der Schlacht laufen! Die Deutschen grübeln schon mehr, murren, wenn ihr König Invaliden die Erlassung gibt und der König von Frankreich tut's immer; murren, wenn sie nicht aus dem Lande sollen, und die Franzosen machen sich eine Ehre draus, es nicht zu wollen! murren bei Auflagen und Verpachtungen, und in Frankreich ist alles verpachtet! Kurz, in Frankreich ist alles selbst bis auf den Namen Ludwigs des Vielgeliebten Ehre des Patriotism, darüber man schreiben möchte: sie wissen nicht, was sie tun? und warum sie es tun! So die Générosité des Franzosen! Sie ist Politesse; selten reelle, gründliche Freundschaft, Einlassung in die Situation des andern. So selbst ihr Vergnügen: Agrément, Zerstreuung; nicht innerliches Eindringen und daher hat Yorick recht, daß es eine zu ernsthafte Nation ist: ihre Gayeté ist Flüchtigkeit, nicht innerliche Freude. Ihr Lachen ist mit Wohlstand verbunden; daher wenig von dem süßen beseligenden Lachen, das uns den Genuß der Natur zu fahlen gibt: sondern so wie es Clément in seinem ersten Briefe bei Gelegenheit des »Méchant« von Gresset und im letzten bei seinem »Der Teufel ist los«, zeigt. Daher hat ihre Komödie so große Schranken, und schildert nichts als Auftritte des bürgerlichen Lebens, oder Komplimentenszenen, oder Wohlstandsübungen. Worin sind die Franzosen glücklicher als in diesen? Im Abend nach der Mode, in Visiten, in Stellungen um eine Gruppe[233] zu machen, in Amanten nach den Affenmienen des Wohlstandes. Aber den wahren Liebhaber? wer macht den mit dem Händedrücken und Affektieren – den wahren Menschen im Auftritt – das wird gemeiniglich Coup de théâtre, wie z.E. in de la Chaussée, »Préjugé à la Mode« der beste schönste Auftritt ein Theaterstreich wird. Das kann der Franzose nicht sehen, daß ein gerührter Ehemann wiederkehrt, und zu Füßen fällt, und die ganze Szene sich ordentlich entwickle, dazu muß Maske und Radebrechen in epigrammatischen Versen, und ein bout rimé nötig sein. Das wahre Lachen ist überdem aus der feinen neuen französischen Komödie so glücklich ausgestorben, als der wahre Affekt von ihrem Trauerspiel. Alles wird Spiel, Schluchsen, Händeringen, Deklamieren, Szene, Bindung der Szenen usw. Von diesem letzten und von dem was Wahrscheinlichkeit des Orts, Zeit, usw. ist, haben sie ein Gefühl von dem der Deutsche weniger, der Engländer nichts fühlt. Und es ist auch in der Tat nichts als Etiquette des Theaters, woraus sie das Hauptwerk machen. Man lese alle Voltairische Abhandlungen über das Theater und in seinen Anmerkungen über Corneille gleich die erste Anmerkung vom Schweren und Wesentlichen des theatralischen Dichters, und man sollte schwören, den Zerimonienmeister, nicht den König des Theaters zu lesen. So wie bei aller franz. Anordnung der Häuser doch nicht in allem Bequemlichkeit herrscht: so wie sie bei ihren Gesellschaftszimmern ein andres ebenso Nötiges vergessen: so wie sie bei ihrem Etiquette sich Lasten aufgelegt haben, die sie nicht aber andre fühlen, so auch bei ihrem Theater, Romanen, und allem, was Szene des Wohlstandes heißt. Welche freiere Natur haben da die Engländer, nur auch freilich übertrieben! und was könnten wir Deutsche uns für eine schöne mittlere Laufhahn nehmen! Die Komödie vom Italiener, die Tragedie vom Engländer, in beiden die französische Feile hintennach, welch ein neues Theater! Da wird keine Zelmire sich mit hundert Verbrämungen es zu sagen schämen, daß sie ihrem Vater die Brust gegeben! Da wird kein Ehemann sich schämen, sich mit seinem Weibe zu versöhnen! Da wird die »Opéra comique« nicht Lieder und petits airs des Wohlstands lallen, sondern Szenen der Empfindung, Lieder der Empfindung haben! und wieviel hätte sie damit gewonnen – o was wäre hierüber zu sagen! – – –

Den 4./15. Jul. stiegen wir in Paimboeuf an Land, und unser Wahrzeichen war ein altes Weib. Man gewöhnt sich an alles, sogar[234] ans Schiff und mein erster Eintritt in die Barke war nicht ohne kleinen Schauder so bei Helsingör, so hier. Wie gut wäre es gewesen mich bei Kopenhagen zu debarkieren. Ich erinnere mich noch der himmlischen Nächte, die ich vor Kopenhagen hatte, der schönen Tage, da wir die Jagdschlösser des Königs und seine Flotte vorbeizogen, der schönen Abende, da wir seine Gesundheit im letzten guten Rheinwein trunken. Ich bin aber zu gut um mich lenken zu lassen und ich gab mein Wort ohne daß ich selbst wollte und ohne daß ich sagen kann, ein andrer habe mich dazu gezwungen. Der Geist Klopstocks hatte nicht gnug Anziehung vor mich, um über die kleinen Hindernisse der Reise zu profitieren, und so ward mein ganzer Plan vereitelt. In Deutschland wäre kein Schritt für mich ohne den größesten Nutzen gewesen und meine Beschäftigung wäre in ihrem vollen Feuer geblieben. Klopstock wie sehr dachte ich ihn zu nutzen, um seinen Geist und sein Temperament kennenzulernen! um mich mit ihm über sein Bild des Messias und seiner Zeit und seiner Religion überhaupt zu besprechen! um einen Funken von seinem Feuer zu bekommen! um seinen »Messias« noch einmal und von Angesicht zu Angesicht zu lesen! ihn lesen, ihn deklamieren zu hören! und also auch nur von seinen Silbenmaßen rechten Begriff zu erhalten! – Resewitz! über wieviel Punkte der Offenbarung hatte ich nicht zu reden, wo man nur mündlich offenherzig ist. Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts. Über unsere Begriffe von den Patriarchen. Von Moses und seiner Religion. Von der Theopneustie und dem Zustande der jüdischen Kirche zu aller Zeit. Vom Charakter des Erlösers und der Apostel. Vom Glauben. Von den Sakramenten. Von der Bekehrung. Vom Gebet. Von der rechten Art zu sterben. Vom Tode und Auferstehung. Von einer andern Welt nach den Bildern der Christen – – welch ein Katechismus der Redlichkeit und mündlichen Offenherzigkeit! – – Alsdenn Cramer und ihn predigen zu hören, ihnen meine Ideen von der geistlichen Beredsamkeit zu geben, vielleicht selbst zu predigen! – – Das Münzkabinett zu sehen und da Begriffe zu sammlen, die ich durchaus noch nicht habe! – – Gerstenberg aufzusuchen, mit ihm die Barden und Skalder zu singen, ihn über seine Liebe und Tändeleien im »Hypochondristen« und wo es sei, zu umarmen, die »Briefe über die Merkwürdigkeiten« etc. mit ihm zu lesen, von Hamann, Störze, Klotz usw. zu sprechen, und Funken zu schlagen, zu einem neuen Geist der Literatur, der vom dänischen Ende Deutschlands anfange und das Land[235] erquicke. Alsdenn da über die Skalden zu schreiben, und nach Kiel hin ins Arabische zu verschwinden. Das war meine erste Periode, werde ich sie in Frankreich erreichen?

Es ist freilich vortrefflich, die französische Sprache und Nation von ihr selbst aus zu kennen; aber wenn man schon wählen muß, wenn man nicht lange Zeit, nicht viel Geld zu reisen hat, und am meisten noch nicht reisen gelernt hat: muß man da Frankreich wählen? Für die Kunst, für die Wissenschaft, was ist da zu sehen, wo alles in dem großen Paris versteckt liegt, wo alles mit Luxus, Eitelkeit, und französischem Nichts verbrämt ist? Wieviel große Leute gibt's denn, die für mich so merkwürdig sind. Etwa einen Wille und wird der nicht vielleicht bloß Künstler sein? Einen Diderot, und hat der sich nicht vielleicht schon ausgelebt? Einen Buffon, Thomas, Duclos, D'Alembert, Marmontel – und sind die nicht gewiß in einen Hefen französischer Welt, und Anstandes und Besuchs eingehüllet? Und wem kann ich mich denn mitteilen? Wem Interesse an mir einflößen? Gegen wen mir den Stempel des Ausdrucks geben, der nach der französischen Denkart allein den Menschen von Geschmack und von Geist ausmacht? Ton, Anstand, Geschwindigkeit, Wendung! siehe dahin ist alles geflohen. Armer! wirst du dich mit deiner deutschen Denkart, die mit deiner Muttersprache so zusammengewachsen ist, mit deiner deutschen Langsamkeit dich nicht durch alle französische Literatur nur durchbetteln müssen? Und in welche Kluft stürzest du dich alsdenn von Beschämungen, Mißvergnügen, unaufgeräumten Stunden, verfehlten Visiten, müßigen Tagen? Wo wirst du einen Freund finden, der mit dir dies Land der Fremde für dich, durchreise? Louvre und Luxemburg aufsuche, Tuileries und Gärten durchpromeniere, dir Bibliotheken und Naturkabinette aufschließe, dich Künstler und Kunstwerke betrachten lehre? Wo wirst du ihn finden? und wird's ein Franzose oder ein Deutscher sein?

Ich habe A gesagt; ich muß auch B sagen: ich geht nach Frankreich: eine Nacht vor Helsingör hat's entschieden. Ich überließ – mich meiner Trägheit, meiner Schläfrigkeit, um zwei Tage zu verderben: da mir nichts leichter gewesen wäre, als von Helsingör nach Kopenhagen zu gehen: wir sind fortgesegelt: Ich fand mich in der See: ich geht nach Frankreich. Nun ist also die französische Sprache nach der Mundart der Nation, nach ihrem Ton, und Nasenlaut, nach ihrem Geschmack und Schönheit, und Genie mein Hauptzweck – und da, denke ich, in 14 Tagen, wie mir[236] mein Freund B[erens] Hoffnung gemacht hat, in den Ton zu kommen, und mit ihr, wieviel habe ich, insonderheit in Riga, gewonnen! Welche Schande, bei Landräten und Sekretären von Wind und von Geschmack kein Französisch zu sprechen! Welche Schande eine Schweizer Französin und einen durchwandernden Franzosen insonderheit wenn es ein Abbé wäre, nicht zu verstehen! Welcher Vorteil hingegen mit jedem Narren nach seiner Narrheit zu reden! den Geschmack auch in der Sprache des Geschmacks hören zu lassen! Werke des Geschmacks in Poesie, Prose, Malerei, Baukunst, Verzierung, auch in der Sprache des Geschmacks zu charakterisieren! Anekdoten von Paris zu wissen! wenigstens alles das kennen, wovon andre plaudern! – Ferner, die französische Oper und Komödie zu studieren, zu schmecken! die französische Deklamation, Musik und Tanzkunst zu genießen! mir wenn nicht neue Piste der Vergnügen, wenigstens neue Farben zu geben! Kupferstecher- Maler- und Bildhauerkunst, wenn es möglich ist, unter der Aufsicht eines Wille, zu studieren! Von allem, was zum Jahrhundert Frankreichs gehört, lebendige Begriffe zu haben, um z.E. einen Clément, einen de la Place, einen Fréron recht verstehen zu können! – Ferner die französischen Gelehrten kennenzulernen, wäre es auch nur, wie sie aussehen, leben, sich ausdrucken, bei sich und in Gesellschaft sind! Auch sie nur kennen bringt Leben in ihre Werke, und wenn nicht einen Stachel der Nacheiferung, so doch ein gutes Exempel, sich wie sie zu betragen. Das ist alsdenn ein Kursus der domestiken Literatur in Frankreich, der viel erklärt, an sich und im Kontrast von Deutschland, und viel aufschließt! – Endlich die französische Nation selbst, ihre Sitten, Natur, Wesen, Regierung, Zustand: was daraus auf ihre Kultur und Literatur folge? was ihre Kultur eigentlich sei? die Geschichte derselben? ob sie verdiene, ein Vorbild Europens zu sein? es sein könne? was der Charakter der Franzosen dazu beigetragen? durch welche Wege sie das Volk von Honnêteté, Sitten, Lebensart und Amusements geworden sind? wieviel sie dabei Wesentlichers verlieren? und es andern Nationen durch die Mitteilung ihrer Narrheit rauben und geraubt hatten! – Ja endlich! sollte sich denn keiner finden, der mein Freund und mein Muster werde, als Mann von Welt, um seine Kenntnisse recht vorzutragen, in unsrer Welt geltend zu machen, als Mann von Adresse und von Umgange, um auch in den Sachen, für die ich reise, es zu werden und das in meiner Zeit auszurichten, wozu ich da bin! Gütiges Schicksal, gib mir[237] einen solchen, lehre mich ihn kennen! und gib mir Biegsamkeit, mich nach ihm zu bilden! Vorjetzt bin ich schon in Frankreich, ich muß es nutzen: denn gar ohne französische Sprache, Sitten, Anekdoten, und Kenntnisse zurückzukommen, welche Schande!

In Paimboeuf Begriffe von Frankreich holen, welche Schande, und gibt's nicht Reisebeschreibungen, die sie so geholt haben – Smollett z.E. und selbst große Reisebeschreibungen in den 5. Weltteil, die von den Küsten aus geurteilt haben.

Meine Reisegesellschaft von Paimboeuf nach Nantes: es ist immer wahr, daß eine Niedrigkeit dem Dinge anklebt, von solchen Gesellschaften nach der Manier Teniers und Tristrams Gemälde nehmen wollen.

Ich verstand weder Pilot, noch Wirtin, noch alte Weiber mit alle meinem Französischen. So müßte ebenfalls ein Grieche daran sein, wenn er nach Griechenland käme. O Pedanten, leset Homer, als wenn er auf den Straßen sänge; leset Cicero, als wenn er vor dem Rate deklamierte!

Der erste Anblick von Nantes war Betäubung: ich sah überall, was ich nachher nie mehr sahe: eine Verzerrung ins Groteske ohngefähr; das ist der Schnitt meines Auges, und nicht auch meiner Denkart. Woher das? ein Freund, den ich über eben diesen ersten Anblick fragte, stutzte und sagte, daß der seinige auch vast, aber vaste Regelmäßigkeit, eine große Schönheit gewesen wäre, die er nachher nie in der vue á la Josse hätte finden können. Entweder hat dieser kälter Geblüt, oder wenn ich so sagen darf einen andern Zuschnitt der Seh-Art. Ist in der meinigen der erste Eintritt in die Welt der Empfindung etwa desgleichen gewesen? ein Schauder, statt ruhiges Gefühl des Vergnügens? Nach den Temperamenten derer, die dazu beitrugen, kann dies wohl sein, und so wäre das der erste Ton, die erste Stimmung der Seele, der erste Anstoß von Empfindung gewesen, der nur gar zu oft wiederkommt. Wenn ich in gewissen Augenblicken noch jetzt meinem Gefühl eine Neuigkeit und gleichsam Innigkeit gebe: was ist's anders, als eine Art Schauder, der nicht eben Schauder der Wollust. Selbst die stärksten Triebe, die in der Menschheit liegen, fangen in mir so an, und gewiß, wenn ich in diesen Augenblicken zum Werk schritte, was könnte für eine frühere Empfindung dem neuen Wesen sich einpflanzen, als ebendieselbe? Und breite ich nicht also eine unglückliche verzogene Natur aus? oder ist's kein Unglück, diese zu haben? oder werden mir bei reiferen Jahren, in der Ehe, bei rechten sanften Schäferstunden andre[238] Gefühle und Schwingungen bevorstehen? Was weiß ich? Indessen bleibe dies immer Bemerkung in mir, die sich auf alles erstreckt. Ein erstes Werk, ein erstes Buch, ein erstes System, eine erste Visite, ein erster Gedanke, ein erster Zuschnitt und Plan, ein erstes Gemälde geht immer bei mir in dies gotische Große, und vieles von meinen Planen, Zuschnitten, Werken, Gemälden ist entweder noch nicht von diesem hohen zum schönen Seil gekommen, oder gar mit dem ersten verschwunden. Gefühl für Erhabenheit ist also die Wendung meiner Seele: darnach richtet sich meine Liebe, mein Haß, meine Bewunderung, mein Traum des Glückes und Unglücks, mein Vorsatz in der Welt zu leben, mein Ausdruck, mein Stil, mein Anstand, meine Physiognomie, mein Gespräch, meine Beschäftigung, alles. Meine Liebe! wie sehr grenzt sie an das Erhabne, oft gar an das Weinerliche! wie ist die Entfernung in mir so mächtig, da es bei den Angolas nur immer der gegenwärtige Augenblick ist! wie kann mich ein Unglück, eine Träne im Auge meiner Freundin rühren! was hat mich mehr angeheftet, als dieses! was ist mir rührender gewesen, als jene, die Entfernung! – – Daher eben auch mein Geschmack für die Spekulation, und für das Sombre der Philosophie, der Poesie, der Erzählungen, der Gedanken! daher meine Neigung für den Schatten des Altertums und für die Entfernung in verfloßne Jahrhunderte! meine Neigung für Hebräer als Volk betrachtet, für Griechen, Ägypter, Kelten, Schotten usw. Daher meine frühe Bestimmung für den geistlichen Stand, dazu freilich Lokalvorurteile meiner Jugend viel beigetragen, aber ebenso unstreitig auch der Eindruck von Kirch und Altar, Kanzel und geistlicher Beredsamkeit, Amtsverrichtung und geistlicher Ehrerbietung. Daher meine erste Reihen von Beschäftigungen, die Träume meiner Jugend von einer Wasserwelt, die Liebhabereien meines Gartens, meine einsamen Spaziergänge, mein Schauder bei psychologischen Entdeckungen und neuen Gedanken aus der menschlichen Seele, mein halbverständlicher, halbsombrer Stil, meine Perspektive von Fragmenten, von Wäldern, von Torsos, von Archiven des menschlichen Geschlechts – – alles! Mein Leben ist ein Gang durch gotische Wölbungen, oder wenigstens durch eine Allee voll grüner Schatten: die Aussicht ist immer ehrwürdig und erhaben: der Eintritt war eine Art Schauder: so aber eine andre Verwirrung wird's sein, wenn plötzlich die Allee sich öffnet und ich mich auf dem Freien fühle. Jetzt ist's Pflicht, diese Eindrücke so gut zu brauchen, als man kann, Gedanken voll zu wandeln,[239] aber auch die Sonne zu betrachten, die sich durch die Blätter bricht und desto lieblichere Schatten malet, die Wiesen zu betrachten, mit dem Getümmel darauf, aber doch immer im Gange zu bleiben. Das letzte Gleichnis habe ich insonderheit in den Wäldern in Nantes gefühlet, wenn ich ging oder saß und meinen »Belisar«, meinen Thomas auf »Daguesseau« las, und über mein Leben nachdachte und dasselbe für meine Freundin in Gedanken entwarf, und mich in großen Gedanken fühlte, bis selbst das Leben des Erlösers in seinen größten Szenen mir zu imaginieren, und denn aufblickte, die Allee, wie einen grünen Tempel des Allmächtigen vor mir sah, und Gedanken aus Kleists »Hymne« und seinem »Milon« aus dem Herzen aufseufzete, und wieder las, und durch die Blätter die Sonne sah und das weite Getümmel der Stadt hörte und an die dachte, die mein Herz besaßen und weinte! Da soll es sein, wo mein Geist zurückwandert, wenn er Marmontels erste Kapitel und Thomas' »Daguesseau« lieset, und den »Messias« fühlt und ein »Leben Jesu« entwirft.

Wie kann man sich in dem Charakter eines Menschen beim ersten Besuch irren, insonderheit wenn er sich hinter der Maske des Umgangs versteckt. Der erste, der mich in N[antes] besuchte, schien die Munterkeit, Belebtheit selbst: wer hätte in ihm den Türken an Bequemlichkeit, und den Langweiligen erraten sollen, der sich auf seinem Lehnstuhl zermartert und die schrecklichste höllische Langeweile auf die muntersten Gesichter ausbreitet, der immer einen Diskurs zu lang findet, frägt und keine Antwort Lust hat zu hören, mitten im Diskurs ein langweiliges Gähnen hervorbringt und an nichts Geschmack findet – wer hätte den in ihm raten sollen? Artig gnug! sollte man sagen, wenn alle französische Männer so sind, wer wird denn – – und siehe es sollte umgekehrt heißen: Gleißend gnug! wenn alle französische Männer so anders beim Kartentisch mit andern, und zu Hause sind, so heißt das Feuer aufraffen, damit es ersterbe und tote Flammen geben. Und würklich an diesem Charakter war recht das Französische zu sehen, was nichts als Gleisnerei und Schwäche ist. Seine Höflichkeit war politesse und honnêteté, oft auswendig gelernt und in Worten: seine Lobeserhebungen fingen damit an, »er sprach Französisch« und endigten damit, »er war von einer politesse, daß – –« und der Nachsatz fehlte. Seine Geschäftigkeit war leicht, aber auch um nichts: Briefe schreiben, wie Wasser; es waren aber auch gewässerte Briefe, die nichts enthielten als metereologische Verzeichnisse über Regen usw. Seine Delikatesse[240] war tote Ordnung z.E. Symmetrie auf dem Tische, oder Faulheit: Seine Ruhe Gedankenlosigkeit: Sein Urteil eine Versicherung voriger Jahre über die er weiter nicht dachte: sein Widerspruch oft der simpelste Gegensatz ohne Umschweif und Gründe: kurz, bei allen guten Seiten, die abgebrauchteste, entschlafenste menschliche Seele, die Gähnendes gnug hatte, um zehn andre um sich einzuschläfern und gähnend zu machen. Seine Freundin, der entgegengesetzteste Charakter von der Welt hielt ihn für unglücklich: er war's nicht, als nach ihrer Empfindung: dieser Gegensatz zeigt, wie opponiert beide Charaktere waren; zeigt aber auch die schöne Seele, die halb aus Freundschaft, halb aus Mitleid seit Jahren in die Gewohnheit hineingedrungen ist, mit zu schlafen, und sich aufzuopfern!


[Lücke im Manuskript]


Auf die Dogmatik müßte ein anderes Werkchen folgen, wie die christliche Religion jetzt zu lehren sei. Hiezu viel Data, wo der gemeine Unterricht Schwächen, Irrtümer, Mißbildungen gibt; wo er unnütz ist in Geheimnissen und Dunkelheiten von Abstraktionen: wo er was zu denken scheint und nichts zu denken gibt, in der ganzen orientalischen Seite: wo er gar verderblich werden kann, in manchen Pflichten der Ewigkeit, der Unnützlichkeit guter Werke usw. wo er veraltet und unvollkommen ist, wo ihm also aus unser Zeit zugesetzt werden muß – Hiezu immer Data, so kurz, so einfältig, daß nichts mehr und minder werde, als ein Katechismus der christlichen Menschheit für unsre Zeit.

Die geistliche Beredsamkeit ist lange ein Lieblingsplan meiner Seele gewesen; aber wie wenig habe ich noch Materialien gesammlet. Ein großer Teil davon kommt ins große Werk, daß man nämlich nicht wie Propheten, Psalmisten, Apostel predigen müsse; und zweitens wie die verschiednen Geschichten und Stellen der Offenbarung Kanzelmaterien sein können. – – Das übrige des Werks von den Kirchenvätern z.E. Chrysostomus an, über Luther, und die neuern Engländer, Franzosen und Deutschen muß allein abgehandelt werden.

Christliche Kirchengeschichte – was bloß ein Christ vom Zustande der Kirche aus jedem Jahrhundert wissen muß – o welch ein ander Werk – als Schröckh! – Um alles das auszuführen, um davon wahre Begriffe auch nur für mich zu bekommen, was habe ich da zu studieren! Und um das zu studieren, was wie ich glaube, kein andrer für mich tun kann! so ist's Geist der Zeit und Kenntnis der menschlichen Seele! Eine deutsche Bibel und eine Bibel[241] nach dem Grundtexte und Poli Commentar. sind mir dazu Hauptstücke: alsdenn die englischen Übersetzer, die jüdischen Paraphrasten, Richard Simon, Michaelis, usw. o großes Werk!

Und geschrieben muß es werden! ohne System, als bloß im Gange der Wahrheit! ohne übertriebnen Schmuck, als bloß Data, nach Datis! Viel Beweise, Proben, Wahrscheinlichkeiten! Schlag auf Schlag! Adel, Größe und Unbewußtheit der Größe, wie Ossian und Moses! Edle Erhobenheit über kleine Widersprüche und Kabalen der Zeit, wie für die Ewigkeit geschrieben! Sprache an den gesunden Verstand und das menschliche Herz wie Pascal und Rousseau, wo er nicht Paradox und Enthusiast ist! Viel Materie, und in Form Simplizität! Kein Esprit der Franzosen, der Montesquieu so verunziert: keine Enthusiasterei! die Sprache der Wahrheit für alle Welt! insonderheit für die Nachwelt! – – Großes Werk empfange meine Wünsche! meinen Eidschwur! meine Bestrebung!

Ich komme auf meine Deutsche zurück, die viel denken und nichts denken, und nichts ist von zwei Seiten betrachtet, unwahrer und wahrer, als der Satz. Unwahrer; der Erfinder der Luftpumpe, des Pulvers, des Laufs der Sterne, der Infinitesimalrechnung etc. der Kupferstecherkunst sind Deutsche: und also die Guericke, Keplers, Schwarze, Leibnize, Dürers usw. aber gegen wenige Erfindungen welche Menge von Systemen! In der Theologie, und haben wir eine Erklärung der Bibel? Haben wir Polos, Locke, Bensone usw. – In der Juristerei und Historie – da sind wir als Sammler, einzig. In der Medizin reichen unsre wahren Bemerker an die Boerhaave und Sydenhams? In der Philosophie endlich. Wie vieles ist bei Wolff System, Zuschnitt, Form, Methode! Eine Probe ist die Ästhetik: wieviel scheinen wir gedacht zu haben! wie wenig denken wir!

Ich habe z.E. etwas über die Ästhetik gearbeitet, und glaube, wahrhaftig neu zu sein; aber in wie wenigem? In dem Satze, Gesicht sieht nur Flächen, Gefühl tastet nur Formen: der Satz aber ist durch Optik und Geometrie schon bekannt und es wäre Unglück, wenn er nicht schon bewiesen wäre. Bloß die Anwendung bliebe mir also: Malerei ist nur fürs Auge, Bildhauerei fürs Gefühl: eine Entdeckung, die noch immer arm ist, und wenn sie zu sehr ausgedehnt ist, lächerliche Folgen geben kann, wie wir jetzt sind, da wir Gesicht für Gefühl gebrauchen, und zu gebrauchen gewohnt sind. Also sei dieser Satz bloß Wegweiser zu mehrern Erfahrungen, über Gesicht und Gefühl! ich muß ein Blinder und Fühlender werden, um die Philosophie dieses Sinnes[242] zu erforschen! ich glaube, dabei schon auf einigen neuen Wegen zu sein: lasset uns sehen!


Von der Bildhauerkunst fürs Gefühl s. Kollektaneenbuch hinten unter den Alten Schwäbischen Poesien. Bl. 3:

1. Illusion der Statue vom Fleische:

von der Bekleidung Ursachen etc.

von der griechischen Nacktheit Aufklärung

Warum Malerei nicht Nacktheit noch Wassergewände nachahme

von Haaren Augenbranen, Binde um den Mund usw.

von Adern, Knorpeln, Scham

vom griechischen Profil

von vorgebognen Armen, kleiner Taille und Füßen.

2. Illusion der Statue vom Geiste:

von der Stirn, dem Tempel der Gesinnung

vom Auge dem Redner des Verlangens

von der Nase

von der Augenbrane, dem Wink des Willens

vom Munde dem Sitz der Grazie und des Reizes

von der Stellung des Kopfs zur Seite, vorwärts, zurück

von der Stellung der Brust, aus- einwärts, zur Seite

von der Stellung der Hände und Füße,

Korrespondenz zwischen Stirn und Brust, Auge und Hand, Mund und Fuß.

3. Vom Schönen durchs Gefühl (hinter Baumgarten Ästh.)

Daß es der Blinde habe;

daß es die fühlbare Form des Guten und Bequemen sei,

also ein fühlbarer Begriff der Vollkommenheit

Erklärungen daraus auf die Kunst der Tiere

des blühenden Alters

Ruhe und sanfte Ruhe.

4. Von der Philosophie des Gefühls überhaupt (neu Papier k)

1. Sprache, die ein Blinder erfunden

2. seine Welt, seine Kosmologie

3. die Erinnerung seines Ichs, wie es sich ins Universum geoffenbart hat, seine Psychologie u. Kosmologie

4. seine Ideen von Raum, Zeit, Kraft, seine Ontologie

5. seine Ideen von Unsterblichkeit der Seele, Gott, Welt, Religion, Theologie, Nat.
[243]

Das ist ein Plan, den ich schon entworfen, der aber noch sehr zu beleben ist, durch die Gesellschaft und das Studium der Blinden und Stummen und Tauben! Diderot kann Vorbild sein, Versuche zu machen, nicht aber bloß auf seine Versuche zu bauen und darüber zu systematisieren! Ein Werk von der Art kann die erste Psychologie werden, und da aus dieser alle Wissenschaften folgen, mithin eine Philosophie oder Enzyklopädie zu diesen allen. Vorzüglich aber will ich der Sucht der Deutschen widerstehen, aus Nominalerklärungen alles herzuleiten, was folgt und nicht folgen kann.

Italiener sind die feinsten und erfindsamsten; für die mittlern Zeiten ist's wahrhaftig wahr. Ihre Komödie lebt: ihre Heldengedichte sind Originale: in ihnen ist Kunst geschaffen: Galilei und Tartini, Machiavell und Boccaz, Ariost und Tasso, Petrarch und die Poliziane, Kolumb und Vespucci, der Erfinder der Ferngläser und des Kompasses – alles Italiener! der ganze französische Parnaß ist aus Spanien und Italien gestohlen: in beiden Ländern lebt mehr wahre Natur, Genie, Schöpfung. Die italienische und französische Komödie, Ariost und La Fontaine, Tasso und Voltaire, die italien. und franz. Musik, Petrarch und die franz. Liebesdichter – welcher Unterschied! O daß ich Italien kennte, mich in ihre Natur setzen, und sie fühlen, und mich in sie verwandeln könnte!

Ich habe in Nantes die neue »Voyage d'Italie« gelesen und zu exzerpieren angefangen. Welche Anstalten die gewesen sind und zum Teil noch sind – ich habe darauf gedacht, manche von ihnen in meiner Republik nachzuahmen! Wieviel ist da zu sehen, was ich durchaus nicht gesehen habe! Insonderheit lebende Natur. Alsdenn über sie ein Bild liefern, was Frankreich und Europa von ihnen genutzt! Was sie unter den Römern und mittlern Zeiten getan, geleistet!

Ich wurde in Nantes mit einem jungen Schweden, Koch, bekannt – durch die Klotzische Bibliothek! so muß sich selbst das Pasquillhafte oft zu Zwecken finden! Wer hätte mir sagen sollen, daß dies Buch dienen würde, um mich in Nantes bekannt zu machen: hätte ich aber verloren, wenn ich nicht bekannt geworden wäre?

Dieser junge Mensch hatte vielen Geschmack am Wahren, Guten, und Würklich-Schönen! Ich hab es oft bei ihm gesehen, daß sein Auge und sein Geist mehr für das Richtige geschaffen war, als meines; daß er in allem ein gewisses Gefühl von Realität[244] hatte, das ihn nicht mit Hypothesen sättigte; daß er nicht aus Büchern Sachen lernen wollte, die auf Erfahrung und Praxis beruhen, sondern zur Tat schritt. Zeichnen, Geometrie, wahre Mathematik, Physik, Algebra, Augenschein der Kunst – werde ich's nie lernen, und immer die Akademie der Wissenschaften nur aus Fontenelle kennen? Womit habe ich's in meinem vergangnen Zustande verdient, daß ich nur bestimmt bin, Schatten zu sehen, statt würkliche Dinge mir zu er fühlen? Ich genieße wenig, d.i. zu viel, im Übermaß und also ohne Geschmack: der Sinn des Gefühls und die Welt der Wollüste – ich habe sie nicht genossen: ich sehe, empfinde in der Ferne, hindere mir selbst den Genuß durch unzeitige Präsumption, und durch Schwäche und Blödigkeit im Augenblick selbst. In der Freundschaft und Gesellschaft: zum voraus unzeitige Furcht oder übergroße fremde Erwartung, von denen jene mich im Eintritt hindert, diese mich immer trügt, und zum Narren macht. Überall also eine aufgeschwellte Einbildungskraft zum voraus, die vom Wahren abirrt, und den Genuß tötet, ihn matt und schläfrig macht, und mir nur nachher wieder fühlen läßt, daß ich ihn nicht genossen, daß er matt und schläfrig gewesen. So selbst in der Liebe: die immer platonisch, in der Abwesenheit mehr als in der Gegenwart, in Furcht und Hoffnung mehr, als im Genuß, in Abstraktionen, in Seelenbegriffen mehr, als in Realitäten empfindet. So bei der Lektüre, wie walle ich auf, ein Buch zu lesen, es zu haben; und wie sinke ich nieder, wenn ich's lese, wenn ich's habe. Wieviel auch selbst der besten Autoren habe ich durchgelesen, bloß der Wahrheit ihrer Kenntnisse wegen, in der Illusion ihres Systems, in der Fortreißung ihres Ganzen, bloß des Inhalts wegen, ohne Niedersinken, und Ermatten! so lese ich, so entwerfe ich, so arbeite ich, so reise ich, so schreibe ich, so bin ich in allem!

Empfindungen der Art haben mich, wie Walter Shandy, auf die Ideen gebracht, ein Werk über die Jugend und Veraltung menschlicher Seelen zu erdenken, wo ich teils aus meiner traurigen Erfahrung, teils aus Beispielen andrer Seelen, die ich zu kennen Gelegenheit gehabt, einer solchen Veraltung zuvorzukommen, und sich seiner Jugend recht zu erfreuen und sie recht zu genießen lehre. Der Plan entstand mir schon in Riga, in traurigen Tagen, wo die Organisation meiner Seele gleichsam gelähmt, das Triebrad der äußeren Empfindungen stille stand, und sie in ihr trauriges Ich eingeschlossen, die muntere Sehnsucht verloren hatte, sich Ideen und Vergnügungen und Vollkommenheiten zu[245] sammlen. Da ging ich umher, dumm, und gedankenlos, und stumpf, und untätig, sprach zum Lachen etc. nahm hundert Bücher, um hundert von ihnen wegzuwerfen, und doch nichts zu wissen. Hier fiel mir der ehrliche Swift ein, der über den alten elenden grauen Mann, den er im Spiegel sahe, die Achseln zuckte, und zum Gegensatz schilderte sich mir die junge fröhliche Welt des Plato und Sokrates vor, wie sie unter Scherz und Spiel ihre Seelen und Körper übeten, und bildeten, und schlank, stark, und fest machten, wie schöne Ölbäume am Rande der Quelle. Der alte und immer junge Montaigne fiel mir ein, der sich immer zu verjüngen wußte im Alter und ich stand da, stutzig, betäubt und alt in meiner Jugend. Die Begriffe sammleten sich: es sollte eine Abhandlung in die Königsberg. Zeitungen werden und wurde nicht, wie viel andre Plane meines Lebens. In der Untätigkeit von Nantes brachte mich die Umarbeitung der »Kritischen Wälder«, die Bekanntschaft mit diesem Jünglinge, der so sehr auf das Wesen hinzueilte, und am meisten das Gefühl des Leeren, Regellosen in mir, wieder auf die Gedanken. So wie es aber immer mein Fehler ist, nie recht an Materie, sondern immer zugleich an Form denken zu müssen; so ward ein Riß daraus, zu dem der Abt Clément die muntre Jugend seines Stils hergeben sollte. Der Plan ward lange umhergewälzt, und es ging ihm also, wie bei allen Umwälzungen; zuerst werden sie größer; nachher reiben sie sich ab. Einen Abend gab ich meinem schwedischen Jünglinge davon Ideen, die ihn bezauberten, die ihn entzückten: das Gespräch gab Feuer; der Ausdruck gab Bestimmtheit der Gedanken: werde ich jetzt, in der frostigen, unbequemen Stellung, da ich sitze, noch einige Funken von dem fühlen, was mich so oft durchwallte, wenn ich der Untätigkeit und der Vernichtung der B[abut]schen Gesellschaft entrann:

Die menschliche Seele hat ihre Lebensalter, wie der Körper. Ihre Jugend ist Neugierde, daher kindischer Glaube, unersättliche Begierde, Dinge zu sehen, insonderheit Wunderdinge, die Gabe Sprachen zu lernen, wenn sie nur an Begriffen und Dingen hangen; jugendliche Biegsamkeit und Munterkeit usw. Ein Alter, von der Neugierde, ist immer verächtlich und ein Kind.

Das Kind konnte an allem, was es durch Neugierde kennenlernte, noch nicht viel Anteil nehmen: es sahe nur, es staunte, es bewunderte. Daher seine Ehrerbietung für die Alten, wenn sie ihm wahrhaftig ehrwürdig sind: daher die Tiefe seiner Eindrücke, die durch Staunen und Bewundern gleichsam eingerammelt[246] werden. Je mehr Seele und Körper wächst, je mehr die Säfte in beiden zunehmen und aufwallen: desto mehr nähern wir uns gleichsam an die Gegenstände an, oder ziehen sie stark zu uns. Wir malen sie also mit Feuer des Geblüts aus: das ist Einbildungskraft, das herrschende Talent der Jugend. Da ist Liebe mit allen ihren Szenen die bezauberte Welt, in denen sie wandelt: oder in der Einsamkeit sind's Dichter, alte entfernte dichterische Geschichten, Romane, Begeisterungen. Da wohnt der Enthusiasmus von Freundschaft, sie mag akademisch oder poetisch ausgemalt werden: da die Welt von Vergnügungen, von Teilnehmungen, Zärtlichkeiten. Da wird auch in den Wissenschaften, alles Bild, oder Empfindung, oder aufwallendes Vergnügen. Das ist der Jüngling: ein alter tändelnder feuriger Greis ist ein Geck.

Er wird Mann und Gesellschafter: dies zuerst, und also nach unsrer Welt werden die heftigen Züge der Einbildungskraft ausgelöscht: er lernt sich nach andern bequemen, sich von andern unterscheiden: das ist, Witz und Scharfsinn kommen los. Er wird Gesellschafter; lernt alles Feine, das in der gesellschaftlichen Politur besteht: und wozu ihn Liebe, um seiner Schöne zu gefallen und was zu gelten, Freundschaft, die bei uns meist Gesellschaft ist, Vergnügungen, die nie ohne das Gesellschaftliche so allgemein sind, kurz alles einladen. Ein Fontenelle, der in der Akademie der Wissenschaften, und in seinem 103. Jahr witzelt, ist lächerlich. – – Aus dem Gesellschafter wird Mann, und dies ist eigentlich die reelle Stufe, da der Gesellschafter bloß ein Zugang ist, den man nicht entbehren kann, in dem man aber nicht stehenbleiben muß. Im Mann regiert Bonsens, Weisheit zu Geschäften. Er hat die Bahn der Neugierde durchwandelt, und gefunden, daß es viel Leeres gibt, was bloß ersten Blick verdient und nichts mehr; er ist die Zeit der Leidenschaften durch, und fühlt, daß sie gut sind, sich in die Welt hineinzuleben, nicht aber sich durch sie hinweg zu leben, sonst verliert man alles. Er hat also kaltes Geblüt, wahre Dienstfertigkeit, Freundschaft, Weisheit, Brauchbarkeit, Bonsens. Sein Alter, seine Gesellschaft, seine Denkart, seine Beschäftigung sind die reellsten im menschlichen Leben: er ist der wahre Philosoph der Tätigkeit Weisheit Erfahrung.

Der Greis ist ein Schwätzer und Philosoph in Worten. Seine Erfahrungen, matt, weitläuftig, ohne Bestimmtheit in Lehren vorgetragen, werden loci communes: und er ist reich an ihnen, weil er Erfahrung zu haben glaubt, und sie vorträgt, da er die[247] Jugend so von sich entfernt siehe, sie für zu frei hält, weil er nicht mitspringen kann usw. Das ist das Alter der Ruhe. Neuen Eindrücken ist die Seele kaum mehr offen: sie ist verschlossen: zu neuen Erfahrungen kaum aufgelegt: zu furchtsam: für neuen Unterricht nicht mehr biegsam gnug; gesättigt gleichsam an Lehre. Das was vorher weich, und gleichsam Knorpel der Bewegung waren, sind Knochen der Ruhe geworden. Die Seele genießt ihr Leben, das sie geführt und verlebt sich; und es ist diese eingezogne Furchtsamkeit auch gut, weil der Greis kaum mehr Kraft und Stärke hat, sich aus seiner Austernschale zu bewegen. Das ist der Greis. – – Aristoteles, Horaz, Hagedorn haben die Lebensalter geschildert: ihre Schilderung muß für die Seele auf gewisse Hauptbegriffe psychologisch zurückgeführt werden, und diese sind Neugierde, Einbildungskraft und Leidenschaft, Witz und Bonsens, endlich die alte Vernunft. Und aus ihnen wird so ein System des menschlichen Lebens, wie Montesquieu die Regierungsarten geschildert hat.

Jeder Mensch muß sie durchgehen: denn sie entwickeln sich auseinander: man kann nie das Folgende genießen, wenn man nicht das Vorhergehende genossen hat: das erste enthält immer die Data zum zweiten: sie gehen in geometrischer nicht arithmetischer Progression fort: in ihrer ganzen Folge nur genießt man das Leben, und wird auf honette Weise alt. Man kann nie das Vorhergehende völlig zurücknehmen, (auch in Verbesserung) ohne das Gegenwärtige zu verlieren.

Hingegen aber, wenn man 1) dem Lebensalter nicht Gnüge tut, in dem man ist, 2) wenn man das folgende vorausnimmt, 3) wenn man gar alle auf einmal nimmt, 4) wenn man in verlebte zurückkehret: da ist die Ordnung der Natur umgekehrt, da sind veraltete Seelen: junge Greise, greise Jünglinge. Unsre Vorurteile der Gesellschaft geben viel Gelegenheit zu solchen Monstern. Sie nehmen Zeitalter voraus, kehren in andre zurück, kehren die ganze menschliche Natur um. So ist Erziehung, Unterricht, Lebensart: hier eine Stimme der Wahrheit und Menschheit ist Wohltat: sie schafft den Genuß der ganzen Lebenszeit: sie ist unschätzbar. Und dazu das Buch.


Erster Teil: nach Fähigkeiten der Seele: und eben dabei nach den Zeitaltern der Menschheit.

Erster Abschnitt: von der Ausbildung der Sinne: und also von der Seele der Kindheit.[248]

Man verliert seine Jugend, wenn man die Sinne nicht gebraucht. Eine von Sensationen verlassene Seele ist in der wüstesten Einöde: und im schmerzlichsten Zustande der Vernichtung. Nach langen Abstraktionen folgen oft Augenblicke dieses Zustandes, die verdrießlichsten im Leben. Der Kopf wüste und dumm: keine Gedanken und keine Lust sie zu sammeln: keine Beschäftigung und keine Lust sich zu beschäftigen: sich zu vergnügen. Das sind Augenblicke der Hölle: eine völlige Vernichtung, ein Zustand der Schwachheit, bis auf den Grad, was zu begehren. – – Man gewöhnt die Seele eines Kindes, um einst in diesen Zustand zu kommen, wenn man sie in eine Lage von Abstraktionen, ohne lebendige Welt; von Lernen ohne Sachen, von Worten ohne Gedanken, von gleichsam Ungedanken ohne Gegenstände und Wahrheit hineinquält. Für die Seele des Kindes ist keine größere Qual, als diese: denn Begriffe zu erweitern, wird nie eine Qual sein. Aber was als Begriffe einzubilden, was nicht Begriff ist, ein Schatte von Gedanken, ohne Sachen; eine Lehre ohne Vorbild, ein abstrakter Satz, ohne Datum, Sprache ohne Sinn – das ist Qual; das ältert die Seele. (Alle Tugenden und Laster sind solche Abstrakta aus 1000 Fällen herausgezogen: ein feines Resultat vieler feinen Begriffe.)

Geht also in eine Schule der Grammatiker hinein: eine Welt älternder Seelen, unter einem veralteten Lehrer. Jeder Mensch muß sich eigentlich seine Sprache erfinden, und jeden Begriff in jedem Wort so verstehen, als wenn er ihn erfunden hätte. Eine Schule des Sprachunterrichts muß kein Wort hören lassen, was man nicht versteht, als wenn man's denselben Augenblick erführe. Man geht ein Deutsch-Lexikon durch, ob man so die Sprache versteht: man geht eine fremde Sprache durch, tausendmal weniger. Ein Kind lernt tausend Wörter, Nuancen von Abstraktionen, von denen es durchaus keinen Begriff hat; tausend andre, von denen es nur halben Begriff hat. In beiden wird's gequält, seine Seele abgemattet und auf lebenslang alt gemacht. Das ist der Fehler der Zeit in der wir leben: man hat lange vor uns eine Sprache erfunden, tausend Generationen vor uns haben sie mit feinen Begriffen bereichert: wir lernen ihre Sprache, gehen mit Worten in 2 Minuten durch, was sie in Jahrhunderten erfunden und verstehen gelernt; lernen damit nichts: veralten uns an Grammatiken, Wortbüchern und Diskursen, die wir nicht verstehen, und legen uns auf zeitlebens in eine üble Falte.

Weg also Grammatiken und Grammatiker. Mein Kind soll[249] jede tote Sprache lebendig, und jede lebendige so lernen, als wenn sie sich selbst erfände. Montaigne, Shaftesbury lernten Griechisch lebendig: wie weit mehr haben sie ihren Plato und Petrarch gefühlt, als unsre Pedanten. Und wer seine Muttersprache so lebendig lernte, daß jedes Wort ihm so zur Zeit käme, als er die Sache sieht und den Gedanken hat: welch ein richtiger philosophisch denkender Kopf! welch eine junge blühende Seele! So waren die, die sich ihre Sprache selbst erfinden mußten, Hermes in der Wüste, und Robinson Crusoe. In solcher Wüste sollen unsre Kinder sein! nichts als Kindisches zu ihnen reden! Der erste abstrakte unverstandne Begriff ist ihnen Gift: ist, wie eine Speise, die durchaus nicht verdaut werden kann, und also wenn die Natur sich ihrer nicht entledige, schwäche und verdirbt. Hier ebenso, und was würden wir, wenn die Natur nicht noch die Güte hätte, uns dessen durch Vergessenheit zu entledigen. Wie ändert sich hier Schule, Erziehung, Unterricht, alles! Welche Methode, Sprache beizubringen! Welche Genauigkeit und Mühe, Lehrbücher zu schreiben und noch mehr über eine Wissenschaft zu lesen, und sie zu lehren! Lehrer! in Philosophie, Physik, Ästhetik, Moral, Theologie, Politik, Historie und Geographie kein Wort ohne Begriff, kein Begriff präokkupiert: so viel, als in der Zeit eine menschliche Seele von selbst fassen kann, und das sind in der ersten Jugend, nichts als Begriffe durch Sinne.

Auf diese eingeschränkt, wie lebt die menschliche Seele auf: nun kein Zwang, keine Schule mehr. Alles Neugierde, die Neugierde Vergnügen. Das Lernen Lust und Ergötzen; üben, sehen, neu sehen, Wunderdinge sehen, welche Lust, welche schöne Jugend! Hier ein Plan, was und wie sie in allen Wissenschaften hindurch zu lernen hat, um immer jung zu sein, ist Verdienst der Menschheit.

Umgekehrt aber: sehet die elenden Schüler, die in ihrem Leben nichts als Metaphysik an Sprache, schönen Künsten und Wissenschaften, und allem nichts als Metaphysik lernen! sich an Dingen zermartern, die sie nicht verstehen! über Dinge disputieren, die sie nicht verstanden haben. Sehet elende Lehrer! und Lehrbücher, die selbst kein Wort von dem verstehen, was sie abhandeln. In solchen Wust von Nominalbegriffen, Definitionen, und Lehrbüchern ist unsre Zeit gefallen: drum liefert sie auch nichts Großes: drum erfindet sie auch nichts. Sie ist wie der Geizige, hat alles und genießet nichts. Ich darf nur meine eigne Erziehung durchgehen, so finde ich einen Reichtum von traurigen[250] Exempeln. Ein Kind muß bloß durch sich und seine Triebfeder handeln, das ist Neugierde: die muß geleitet und gelenkt werden; ihm aber keine fremde eingepflanzt werden z.E. Eitelkeit usw. die es noch nicht hat. Durch die kann's viel lernen, nichts aber an seinem Ort, zu seiner Zeit. Die Jugend der menschlichen Seele in Erziehung wiederherzustellen, o welch ein Werk! Das einzige, was den Schwarm von Vorurteilen töten kann, der in Religion, Politik, Weltweisheit usw. die Welt bedeckt! ich zweifle aber, ob es ganz in unsrer Gesellschaft angeht. Jeder lernt die Masse von hundert andrer Gedanken und wird damit alt.

Nicht, als wenn man nicht von der Gesellschaft andrer profitieren könnte: der Mensch ist ein so geselliges Tier, als er Mensch ist. Die Senkung zur Sonne ist den Planeten ebenso natürlich, als ihre Kraft fortzueilen. Aber nur, daß die Geselligkeit unsre Eigenheit nicht ganz töte: sondern sie nur in eine andre schönre Linie bringe. So also wird die Gesellschaft uns auch tausendmal mehr Begriffe geben können, als wenn wir allein wären: allein nur immer Begriffe, die wir verstehen können, die Begr. sind. Der Führer muß uns den Weg verkürzen, uns aber selbst gehen lassen, nicht tragen wollen, und uns damit lähmen!

Es ist eine schwere Sache, jede Wissenschaft in allen Begriffen und jede Sprache in allen Worten auf die Sinne zurückzuführen, in denen und für die sie entstanden sind, und das ist doch zu jeder Wissenschaft und Sprache nötig.

Zweitens. Alle seine Sinne zu gebrauchen. Das Gefühl z.E. schläft bei uns, und das Auge vertritt, obgleich manchmal nur sehr unrecht, seine Stelle. Es gibt eine Reihe von Modifikationen des Gefühls, die kaum unter der Zahl der bisherigen 5 Sinne begriffen werden können, und in denen allen die schöne Jugend geübt werden muß. Überhaupt ist kein Satz merkwürdiger und fast vergeßner, als: ohne Körper ist unsre Seele im Gebrauch nichts: mit gelähmten Sinnen ist sie selbst gelähmt: mit einem muntern proportionierten Gebrauch aller Sinne ist sie selbst munter und lebendig. Es gibt in den alten Zeiten der schönen Sinnlichkeit, insonderheit in den Morgenländern Spuren, daß ihre Seele gleichsam mehr Umkreis zu würken gehabt habe, als wir. Alsdenn würden sich teils neue Phänomena teils die alten auf neue Art [zeigen]. Das ist der Weg, Originale zu haben, nämlich sie in ihrer Jugend viele Dinge und alle für sie empfindbare Dinge ohne Zwang und Präokkupation auf die ihnen eigne Art empfinden zu lassen. Jede Empfindung in der Jugendseele ist[251] nicht bloß was sie ist, Materie, sondern auch aufs ganze Leben Materie: sie wird nachher immer verarbeitet, und also gute Organisation, viele, starke, lebhafte, getreue, eigne Sensationen, auf die dem Menschen eigenste Art, sind die Basis zu einer Reihe von vielen starken, lebhaften, getreuen, eignen Gedanken, und das ist das Originalgenie. Dies ist in allen Zeiten würksam gewesen, wo die Seele mit einer großen Anzahl starker und eigentümlicher Sensationen hat beschwängert werden können: in den Zeiten der Erziehung fürs Vaterland, in großen Republiken, in Revolutionen, in Zeiten der Freiheit, und der Zerrüttungen war's würksam. Diese sind für uns weg: wir sind im Jahrhundert der Erfahrungen, der Polizei, der Politik, der Bequemlichkeit, wo wir wie andre denken müssen, weil wir, was sie sehen, wie sie sehen lernen, und man es uns durch Religion, Politik, Gesellschaftston, usw. selbst zu denken verbeut, wie wir wollen. Wir sehen in unsrer Jugend wenige Phänomena, wenn es noch Zeit ist, sie zu sehen, damit sie in uns leben. Diese Phänomena sind meistens schwach, gemein, unwichtig, aus einer bequemen, üppigen Welt, wo die Regierung der Staaten, und alle große Handlungen des menschlichen Geschlechts geheim, oder verborgen, oder gar verschwunden sind: und also ihr Anblick kein Zunder zu großen Taten geben kann. Wir werden durch Worte und das Lernen fremder allgemeiner Begriffe so erstickt, daß wir nicht auf sie merken, wenigstens nicht mit dem ganzen Feuer auf sie merken können. Die rührendsten Auftritte der Natur sind bei uns weg. Wir bekommen also nur schwache, monotone Stöße: unsre jugendlichen Sensationen sagen wenig unsrer Seele: diese erstirbt.

O gebet mir eine unverdorbne, mit Abstraktionen und Worten unerstickte Jugendseele her, so lebendig, als sie ist; und setzet mich denn in eine Welt, wo ich ihr alle Eindrücke geben kann, die ich will, wie soll sie leben! Ein Buch über die Erziehung sollte bestimmen, welche und in welcher Ordnung und Macht diese Eindrücke sollten gegeben werden! daß ein Mann von Genie daraus würde, und dieses sich weckte! Durch Repräsentation der Sachen fürs Gesicht, noch mehr aber Gefühl: durch körperliche Übungen und Erfahrungen allerlei Art, durch Bedürfnisse und Ersättigungen, wie sie nur sein können. Alles versteht sich pro positu, in welcher Art von Welt man lebt, und sehen kann Jeder Mensch wird finden, daß seine später verarbeiteten Gedanken immer von solchen Eindrücken, Visionen, Gefühlen, Sensationen, Phänomenen herrühren, die aber oft schwer zu suchen sind. Die[252] Kindheit in ihrem langen tiefen Traum der Morgenröte verarbeitet solche Eindrücke und modifiziert sie nach allen Arten, dazu sie Methoden bekommt. Dies führt auf ein drittes:

Man gebrauche seine Sinne, um von allem Begriffe der Wahrheit zu bekommen, und nicht gleich mit dem ersten Eindruck dem Häßlichen und Falschen eigen zu werden. Ich weiß nicht, wieviel vortreffliche Folgen nicht entstehen müßten, wenn alle erste Eindrücke, die man uns liefert, die besten wären. Unsre gotische Fratzen und Altweibermärchen sind sehr schlechte erste Formen: die ersten Eindrücke von Tempeln, und Religion sind gotisch, dunkel und oft ins Abenteuerliche und Leere: die ersten Bilder und Gemälde sind nürnbergsche Kupferstiche: die ersten Romane Magelonen und Olympien; wer denkt wohl dran, in der Musik, die ersten Töne schön, sanft, harmonisch, melodisch sein zu lassen? Daher kommt's auch, daß unsre Seelen in dieser gotischen Form veralten, statt daß sie in den Begriffen der Schönzeit erzogen, ihre erste Jugend wie im Paradiese der Schönheit genießen würden. Hier sind aus meinem Beispiel die Folgen klar. Nach den ersten Eindrücken meiner Erziehung hat sich viel von meiner Denkart, von der Bestimmung zu einem Stande, vielleicht auch von meinem Studieren, meinem Ausdruck usw. gerichtet. Was kann aus einer in Geschichte, Kunst, Wissenschaft und Religion gotisch verdorbnen Jugendseele werden? Und was würde aus einer werden können, die mit den schönsten Begriffen des Schönen genährt würde? Hier starke menschliche Anreden! Proben z.E. von einem richtig gewöhnten Auge, Ohr, von einem Sinn des Schönen! Und denn Vorschläge und Vorbilder!

Wenn ich hier von Vorbildern der Schönheit usw. rede: so sage ich nicht, daß unsre Seele in der Kindheit alle die feine Verbindungen von Begriffen schon habe, die in uns dies Sentiment bilden: die hat's noch nicht. Allein eben daß man der Verwirrung von Begriffen zuvorkommt, bildet man ihn. Wir lernen die feinsten Abstraktionen, die das Resultat langer Betrachtungen sind, die nicht anders als aus einer Menge feiner und seltner Verbindungen und Assoziationen mit andern haben entstehen können, in einem Augenblick durch den Hasard der Sprache, oder durch schlechte Gelegenheiten. Ein schöner Jüngling müßte nichts als richtige Sensationen haben, und aller Ideen beraubt werden, die noch nicht für ihn sind. Weil er aber in der Gesellschaft lebt, und leben sollen, so geht diese Beraubung nicht lange an, aber in der Mitteilung auch dessen, was andre für ihn ausgedacht haben, und[253] worin derselbe eingeweihet wird, muß wenigstens so viel Philosophie wohnen, daß er nichts wider seinen gesunden Verstand annehme, wenn auch schon manches durch die Gesellschaft akzeleriert wäre: daß er nichts ohne richtige Sensation annehme, was er ausspricht usw. So muß er zum Begriff feiner Worte, feiner Tugenden und feiner Sentiments der Schönheit kommen.

Die Schönheit z.E. von wie vielen Ideen ist sie das Kompositum? von wie vielen Ideen aus ganz verschiednen Sachen gezogen? wie fein verflochten sind alle diese Ideen von denen sie das Resultat ist? was setzen sie vor feine Begriffe schon wieder voraus von Ordnung, Maß, Proportion? Und diese Begriffe was für eine Reihe Bemerkungen, Sitten, Konvenanzen wieder? wie ändern sie sich also nach diesen Konvenanzen nach Ort, Zeit, Völkern, Nationen, Jahrhunderten, Geschmacksarten? wieviel Weisheit gehört also dazu einer Jugendseele die ersten Eindrücke des Schönen in Formen, Gestalten, Körpern, Tönen richtig zu machen! ihn noch nichts von Schönheit überhaupt reden, sondern nur das Einzelne, jedes beste Schöne in seiner Art begreifen lassen! ihn allmählich von einem simpeln Gegenstande zu einem mehr verflochtnen führen! von Bildhauerkunst zur Malerei, von einfach schöner Musik zu einfach schönen Tänzen! lebendige Gestalt wird er sich selbst suchen, nur laßt uns seine Seele so zur Richtigkeit der Begriffe und sein Herz zur Richtigkeit der Tugend gewöhnen, daß er auch in dieser so komplizierten Wahl noch richtig geht.

Was für einen Unterschied in der ganzen Doktrin gäbe dies! Die ganze Moral ist ein Register feiner abstrakter Begriffe: alle Tugenden und Laster das Resultat vieler feiner Bemerkungen, feiner Situationen, feiner Fälle! Jahrhunderte, Gesellschaften, Konvenanzen, Religionen haben dazu beigetragen! Welche kindische Seele kann sie alle indem sie das Wort hört und lernt, entziffern! Welcher Philosoph hat sie entziffert! Welcher lebendige Philosoph wenn jener sie auch entziffert hätte, hätte sie so lebendig, um sie anwenden zu können! um dem Strom von Sprache, Gesellschaft, feinen Unterricht widerstehen zu können, der auf eine Seele los stürmt! Hier ein großes Geschäfte: der Verf. des »Gouverneurs ou Essai sur l'éducation« (Lond. Nourse) hat einige angefangen: Schönheit, Herrschaft; simpler, und philosophischer als er, will Ich ihm nachfolgen! Das Alter der Einbildungskraft ist leicht. Sie nimmt keine neue Bilder mehr an: sie wiederholt nur die vorigen. Noch ein andres höheres Alter: sie[254] wiederholt sie auf einerlei Art. Das höchste endlich: sie wiederholt sie, ohne sie einmal völlig und ganz auszudrücken. Sie spricht wie mit schwacher Zunge, wie im Traum.

Alle Bilder, die wir sehen, malen sich in unser Auge, in unser Gehirn: da bleiben welche vielleicht materielle Spuren, das macht das Gedächtnis. Diese Spuren können aufgefrischt und zur idealen Gegenwart gebracht werden: das ist Imagination. Wie sie sich ins Gehirn malen? Physisch ist dies Problem noch nicht gnug aufgelöset: die Bemerkungen, die Maupertuis vorschlägt mit dem Gehirn der Malefikanten würden dazu helfen, und denn würde gleichsam die Welt materieller Ideen lebendig. Wie sie sich im Gehirn erhalten, und nicht von andern ausgelöscht werden? Huart hat darüber Spitzfündigkeiten gegeben, die bei seinem Scharfsinn es wenigstens zeigen, daß eine bessere Auflösung unmöglich sei, wenn man zuviel grübeln will. Wie sie sich im Gehirn wieder aufwecken lassen? Das ist eine von den dreien Unbegreiflichkeiten, die Scaliger nicht auflösen konnte – lasset uns die Metaphysik lassen und praktisch reden.

Solange das Gehirn, oder die Tafel der Seele weich und zart ist, alle neue Bilder, mit aller Stärke, in allen Farben und Nuancen, mit aller Wahrheit, Neuigkeit und Biegsamkeit einzunehmen: da ist die weiche und wächserne Jugend der Seele! da fühlt ein Klopstock in seiner Kindheit alle die Bilder, die er nachher singt, modelliert und so mannigfalt verarbeitet! da steht die Einbildungskraft offen, und o wenn nur die guten, die besten Bilder jedesmal hineingebracht würden! – – Allmählich schließt sich die Seele d.i. sie verarbeitet die vorigen Ideen: sie wendet sie an, sooft sie Gelegenheit hat: dadurch werden jene zurückgerufen und gleichsam stärker eingeprägt: immer zurückgerufen und immer stärker: das Gehirn also härter und fester: endlich werden sie eben durch die starke Erneurung die einzigen und ewig. Sie kommen immer wieder, und die Seele kann nichts denken, ohne daß sie wiederkommen. So kommen dem Klopstock seine eiserne Wunden, und seine letzten Stunden immer zurück, daß er fast nichts ohne sie etc. Natürlich daß sie endlich andern Ideen den Eingang wehren, und an unrechtem Ort zurückkommen: die Seele, die gleichsam in einer neuen Gesellschaft mehr Neuigkeit, aber auch mehr Zwang hätte, stützt sich auf die alte, schon bekannte: die besucht sie: da gefällt sie sich: diese Furchtsamkeit neue Ideen zu besuchen, diese Anhänglichkeit an die alten Freunde ist ein Zeichen des Alters.[255]

Endlich kommt man gar so weit, zu erzählen, bis man im Erzählen sich vergißt, und nur schwache und träge Abdrücke in Worten gibt von dem, was man denkt und sich einbildet. So wie ein langer Lügner endlich selbst seine Lügen vorträgt, ohne daß er's innewird: so auch ein langer Erzähler, ohne daß er erzählet. Er verliert die Aufmerksamkeit auf das, was er sagt: ob es auch für einen, der so etwas nicht gesehen, nicht gehört, oder nicht so oft erzählen gehört hat, als dieser es selbst erzählt hat, so ganz, so eindrücklich, so vollständig sei, daß es ganzen Eindruck geben könne. Daher z.E. bei Klopstock in seinen Liedern die schwachen Wiederholungen aus seinem »Messias«: ihm sind diese und jene einzelne Züge im Ganzen eindrücklich gewesen: er glaubt, daß sie andern, so einzeln, als sie ihm einkleiben, auch so mächtig sein müssen: er vergißt also das eindrückliche Ganze zu geben, und wird schwach, matt, tot. O Jugend der Seele, die so stark spricht, als sie siehet und fühlet! Mit jeder Wiederholung schwindet ein Zug der Aufmerksamkeit: mit jeder Wiederholung schwächt sich Bild, es wird nur Nachbild, Nachabdruck, und endlich ist's die geschwächste Gestalt der Seele!

O ihr großen Meister aller Zeit, ihr Moses und Homere! ihr sangt durch Eingebung! pflanztet was ihr sanget, in ein ewiges Silbenmaß, wo es sich nicht regen konnte: und so konnte es so lange wieder gesungen werden, als man wollte. Wir in unsrer matten, unbestimmten, uns selbst und jedem Augenblick; überlaßnen Prose wiederholen und prosaisieren so lange, bis wir endlich nichts mehr sagen. So geht's einem alten Professor, der gar zu oft einerlei gelesen: einem alten Prediger, der gar zu oft einerlei gelehrt, gesagt, verrichtet hat, einem alten Witzlinge; er wird endlich schwach, was Stachel sein sollte, ist's nicht mehr, was Delikatesse sein sollte, wird Finesse: kurz, Fontenelle in seinem Alter, wie ihn auch Clément charakterisieret: einem alten Anakreontisten, wie es Gleim zeigt: einem alten Spötter, wie es Voltaire beweiset usw.

Welche große Regel: mache deine Bilder der Einbildungskraft so ewig, daß du sie nicht verlierest, wiederhole sie aber auch nicht zur Unzeit! eine Regel zur ewigen Jugend der Seele. Wem seine ersten Bilder so schwach sind, daß er sie nicht stark und in ebender Stärke von sich geben kann, da er sie empfangen, der ist schwach und alt. So geht's allen Vielbelesnen und Zuviellesenden, die nicht Gelegenheit haben, das was sie gelesen, einmal stark und lebendig zu wiederholen: oder die nicht Lebhaftigkeit gnug[256] haben, zu lesen, als ob man sähe, fühlte, selbst empfände, oder anwendete: oder endlich, die durch zu überhäuftes, schwächliches, zerstreutes Lesen sich selbst aufopfern! So geht's mir. Indem ich mich zu sehr aus meiner Sphäre wage: indem ich nie mit ganzer zusammengenommner, natürlich vollkommnen Seele lese, so wird kein Eindruck ganz! Nie so ganz, als ihn der Autor empfand, oft nicht einmal so ganz, daß ich ihn sagen, oder mir nur stark und vollendet denken kann. O Greise, schwache Beschaffenheit der Seele! Der Magen ist verdorben: die Natur geschwächt: die Seele keinen wahren Hunger, also auch keinen wahren Appetit zur Speise: also auch keine starke völlige Verdauung: also auch keine gesunde Nahrung.

Wie ist ihm zu helfen? Wenig essen, viel Bewegung und Arbeit: d.i. ohne Allegorie wenig Lesen, viel Überdenken mit einer gewissen Stärke und Bündigkeit, und denn Üben, Anwenden. Wie wenn dazu meine Reisen dienten? Da komme ich in die Notwendigkeit, nicht immer lesen oder vielmehr lesend schlendern zu können: da muß ich tagelang ohne Buch bleiben. Da will ich's mir also zum Gesetz machen, nie zu lesen, wenn ich nicht mit ganzer Seele, mit vollem Eifer, mit unzerteilter Aufmerksamkeit lesen kann. Hingegen will ich alsdenn an das, was vor mir liegt, denken, mich von der greulichen Unordnung meiner Natur heilen, entweder zu sehr voraus, oder zu spät zu denken, sondern immer die Gegenwart zu genießen. Alsdenn wenn Ich das Buch ergreife – nicht anders, als mit voller Lust und Begierde, und so daß Ich endlich so weit komme, ein Buch auf einmal so lesen zu können, daß ich's ganz und auf ewig weiß; für mich und wo ich gefragt werde, wo ich's anwenden soll, und auf welche Art auch die Anwendung sein möge. Ein solches Lesen muß Gespräch, halbe Begeisterung werden, oder es wird nichts! –

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 185-257.
Entstanden 1769/70. Erstdruck in: E.G. v. Herder, Herders Lebensbild, Erlangen 1846.
Lizenz:
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