Georg Herwegh

Ein Verschollener

Wir haben uns schon mehrfach und kräftig zugunsten aller jungen Geister ausgesprochen, die im Dienste des Jahrhunderts handeln und die Interessen und Fragen der Gegenwart mit Kopf und Herzen ergreifen, und, wenn nicht lösen, doch nach Kräften neues Licht über dieselben zu verbreiten sich bestreben. Der marmorne Ruhm unserer deutschen Klassiker ist gesichert für lange, vielleicht für ewige Zeiten; mögen einige Stubengelehrte sie beharrlich bald vom Standpunkte des Christentums, bald von dem des Heidentums aus betrachten und ihnen darnach ihre Stelle anweisen – sie werden ihrer Unsterblichkeit dadurch weder Vorschub leisten, noch Abbruch tun. Ein Journal, glaubten wir und glauben dies bis heute, habe es vorzüglich mit dem lebenden Geschlechte zu tun; wie eine Pflanze der Wärme des Sonnenlichts, so bedürfe der werdende Dichter der Liebe seines Volkes, um heranzugedeihen zu dessen Freude und Trost.

Und doch will ich heute einen Schatten, einen edlen Schatten heraufbeschwören, den wir unverantwortlicherweise beinahe ganz vergessen haben. So nachdrücklich ich stets die Teilnahme der Nation für ihre lebenden Genien verlangt habe, so weit war ich immerdar von der irrigen Meinung entfernt, als ob ein echter Dichter je aufhören könnte, der Dichter der Zeit zu sein. Das Göttliche ist immer an der Zeit.[78]

Was haben wir einem Langbein, einem Blumenhagen, einem Blumauer, einem Rabener zu danken? Was will die Poesie Gellerts im neunzehnten Jahrhundert? Was wir zu sagen haben, sagen wir frei und frank heraus; wozu die Umständlichkeit der Fabel? Fabeln passen für Kinder und Unmündige; der Vater aller Fabeldichter, Äsop, war ein Sklave.

Wir kennen seit Sterne und Jean Paul den Humor, und haben in den letzten Jahren im komischen Romane Treffliches geleistet – was soll uns die schale Kost der Rabenerschen Satiren? Das heißt doch die Zopfzeit mit Gewalt wieder an die Tagesordnung bringen und das Publikum von allem Interesse an der Gegenwart mit böslicher Absicht entwöhnen!

Das Geschlecht der literarischen Proletarier, die ihre Namen vor solche Gesamtausgaben abgestandener Autoren setzen, d.h. dieselben aufs neue abdrucken lassen und die Korrektur besorgen, ist unsterblich. Der Buchhändler kommt alsdann hinterher mit einer Anzeige, die so pompös und auf den Unverstand berechnet ist, daß das Publikum am Ende betrogen werden muß. Und keine Stimme will sich gegen diese traurige Industrie, diesen literarischen Kleinhandel erheben?

Was müssen unsere westlichen Nachbarn von uns denken, wenn sie unsere Journale zur Hand nehmen und die Buchhändlerannoncen lesen? Sie könnten wahrlich glauben, Schiller sei ein Buchbinder gewesen, wenn ewig und ewig von Schillerformaten die Rede ist! Mich wundert, daß nicht auch schon von den Schriften der Herrn Gentz oder von Hallers »Restauration der Staatswissenschaften« eine ähnliche Ausgabe erschienen, damit die preiswürdigen Ideen dieser herrlichen Köpfe so wohlfeil als möglich Eigentum des deutschen Volkes werden! Doch – wer weiß, ob nicht in irgendeinem Winkel Deutschlands im Augenblicke, da ich dies schreibe, eine solche vorbereitet wird?

Es hat etwas Beängstigendes – dieses Totengräberwesen im gegenwärtigen deutschen Buchhandel, dieses fortwährende Spekulieren auf die Vergangenheit; allein man darf das Tröstliche daran nicht übersehen, wie schon früher angedeutet worden. Das Tröstliche daran ist eben die Hoffnung auf einen baldigen Abschluß mit der Zeit vor der Juliusrevolution, die Verbreitung allgemeiner Bildung und ein Endurteil über den Wert und Unwert dieses oder jenes Schriftstellers aus dem Munde des Volkes selbst.

Will man einmal die ganze Vergangenheit neu auflegen, so möge man nur bei diesem Geschäfte gewissenhafter zu Werke[79] gehen, als es bis jetzt geschehen ist. Waiblinger ist soeben die Ehre einer Gesamtausgabe (von Canitz besorgt) widerfahren. Warum wird sein Ideal und Vorbild so beharrlich vernachlässigt? Warum führt Cotta nicht in würdiger Ausstattung den Dichter Hölderlin uns ins schwache Gedächtnis zurück?

Hölderlin! von ihm wollte ich schreiben, und das Herz pocht mir schon, wenn ich an ihn denke! – – –

Hölderlin, der eigentlichste Dichter der Jugend, dem Deutschland eine große Schuld abzutragen hat, weil er an Deutschland zugrunde gegangen ist. Aus unsern jämmerlichen Zuständen, ehe noch unsere Schmach voll wurde, hat er sich in die heilige Nacht des Wahnsinns gerettet, er, der berufen war, uns voranzuschreiten, und uns ein Schlachtlied zu singen. Ach! er hat sich umsonst gewünscht zu fallen am Opferhügel, zu bluten des Herzens Blut fürs Vaterland! Tatlos schmachtet er hin an den Ufern des heimatlichen Stromes, den er so oft verherrlicht; während ich mich berausche in seinen Liedern, hat er vielleicht vergessen, daß er jemals eines gedichtet.

Es ist rührend mit anzusehen, welche Anhänglichkeit die akademische Jugend dem wahnsinnigen Dichter in Tübingen bewahrt hat; mehr als Neugierde mag es sein, wenn sie zu dem 70jährigen Greise wallfahrt, der ihr nichts mehr bieten kann, als einige übelgegriffene Akkorde auf einem elenden Klaviere.

»Was die Jugend glaubt, ist ewig,« sagt einmal Börne, und dieser Ausspruch findet seine Wahrheit an Hölderlin. Obgleich bald vier Dezennien vorübergerauscht sind, seit der Verfasser des »Hyperion« sein letztes Lied gedichtet, zünden die großen Worte desselben noch so mächtig in den jugendlichen Gemütern, als ob sie erst gestern gesprochen worden wären. Wenig dichterische Köpfe sind in Schwaben, die Hölderlin nicht ein paar Strophen geweiht, oder in seiner Nähe ein paar Stunden verlebt hätten.

Er hat auch wohl für die mit dem Altertum sich beschäftigende Jugend mehr Wert, als der größte Philolog. Er wollte uns das Schönste aus jenen klassischen Zeiten erobern, den freien, großen Sinn.

Mit solchen unbequemen Anforderungen fand er natürlich im Anfange dieses Jahrhunderts keinen großen Anklang. Was Wunder, wenn er dann zürnend ausruft:

»Es ist herzzerreißend, wenn man euere Künstler, euere Dichter sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und pflegen! Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause; sie sind so recht wie der[80] Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landstreicher gebracht?

Oder an einer andern Stelle:

»Voll Lieb' und Geist wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volke heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln wie die Schatten, still und kalt, sind wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäet, daß er nimmer einen Grashalm treibt, und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr zerstörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er es zu tun hat.«

Hölderlin wußte, wie groß die Welt einst war, und konnte es nicht verschmerzen, daß sie so klein geworden sei. Es war ihm ringsum zu wild, zu bange, es trümmerte und wankte, wohin er blickte. (Gedichte – S. 44.) Er mußte wandern von Fremden zu Fremden, und die freie Erde mußte ihm leider statt des Vaterlands dienen (S. 67). Aber


nimmer vergaß er dich,

So fern er wandert', schöner Main –


und nicht des Necktars Gestade.

Er ist mit Leib und Seele ein Deutscher geblieben und hat trotz allem unserem Elend die Hoffnung nie aufgegeben. Er begriff, daß


Mit ihrem heil'gen Wetterschlage,

Mit Unerbittlichkeit vollbringt

Die Not an einem großen Tage,

Was kaum Jahrhunderten gelingt;

Und wenn in ihren Ungewittern

Selbst ein Elysium vergeht,

Und Welten ihrem Donner zittern,

Was groß und göttlich ist, besteht.


Ist hier mehr als Rabener? Mehr als Blumenhagen? – – Träume dich hin zu deinem Plato, »Echo des Himmels, heiliges Herz«, träume dich hin in den Schatten der Platanen, zu den Blumen des Ilissus, – aber eine glückliche Hand möge unserer Jugend die Zeugnisse deines Geistes sammeln, daß sie sich von neuem daran erbaue, wenn die dunkle Wolke der Gegenwart drückend über ihrem Haupte lastet! Wir haben so viel Zeit für das Unzeitgemäßeste, und bedenken uns wegen der Minute, die wir einem so himmlischen Genius weihen wollen?[81]

Quelle:
Herweghs Werke in drei Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1909], S. 72,82.
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