Georg Herwegh

Faust bei drei Nationen

Georg Sand hat über Goethe, über Byron, über Mickiewicz geschrieben; sie hat ein Urteil abgegeben über Faust[107] über Manfred, über Konrad (aus dem dritten Teile der Dziady, 1. Akt. Fragment), ein Urteil, das immerhin von großem Werte ist, da es aus der Feder einer so anerkannt glänzenden Produktivität herrührt. Was man der gefeierten Frau auch Schlimmes nachsagen möchte, staunen muß man vor diesem treuen gewaltigen Ringen eines Geistes, der stündlich ein neues Gebiet der Wissenschaft und Kunst zu erobern und sich anzueignen bemüht ist; lieben muß man sie mit ihrer hochherzig freien Seele, um deren willen ihr einst alle Sünden vergeben werden sollen. Selbst die Wissenschaft, die unerbittlich strenge Wissenschaft, die allem Bestehenden so gern das Wort redet, konnte dem revolutionären Sinne der Madame Dudevant ihre Achtung, ihrem künstlerischen Genie ihre Anerkennung nicht vorenthalten, und sie hat diese ihre Achtung, ihre Anerkennung neulich sehr schön ausgesprochen durch den Mund eines Anonymus in den »Hallischen Jahrbüchern«. Mit George Sand ist übrigens in jüngster Zeit eine bedeutende Veränderung vorgegangen, welche die Unversiegbarkeit ihres reichen Geistes aufs herrlichste beweist. Kurzsichtige wollten beim Erscheinen einiger schwächeren Produktionen auf eine Abnahme ihres dichterischen Vermögens, auf eine Versandung des feurigen Stromes schließen; sie hatten sich schwer getäuscht. George Sands Geist holte nur Atem, um seinen Flug alsdann höher zu nehmen Sie streifte eine der schillernden Häute des Gefühls ab und näherte sich mehr dem reinen Äther des Gedankens, der bei ihr freilich nicht die winterlich-frostige Atmosphäre unserer Philosophie ist, sondern eine Atmosphäre, in der es lenzt, leuchtet, blüht und gewittert. Niemand, am wenigsten der Dichter, weiß sich völlig zu befreien aus der Macht persönlicher Verhältnisse, und so war es sehr natürlich, daß sich das reformatorische Talent der George Sand zunächst an die Institution der Ehe wagte und eine Umgestaltung derselben verlangte. Eine Umgestaltung – die Ehe an und für sich hat sie immer hoch und heilig geachtet, sie wollte nur, was wir alle wollen, die Männer edler, charaktervoller, die Frauen reiner, gebildeter; eine glückliche Ehe war ihr Ideal; aber die Ehen sind nicht glücklich, solange die Konvention über die Herzen gebietet und eine Wahl, die frei sein soll, tyrannisiert. George Sand hat als Weib ganz erklärlich damit angefangen, daß sie die Freiheit des Herzens für ihr Geschlecht forderte; sie schließt ihre Laufbahn wie ein Mann, indem sie in die Reihe der Denker tritt und die Freiheit des Gedankens in Anspruch nimmt. Die Frage der Ehe ist vielleicht vor der Hand noch eine sekundäre,[108] die Hauptfrage unserer Zeit aber die religiöse. Jedes Jahrhundert ist nur ein Atemzug des Unendlichen, es ist eine Strömung, von der die Geister aller Nationen getragen werden; so muß es denn auch eine Luft sein, die sie ausatmen; sie halten unsichtbar und oft sich selbst unbewußt über den Sternen die vernehmlichste Zwiesprache miteinander. Wer nur zu hören versteht!

Freiheit überall, um jeden Preis! Also auch im Religiösen das Recht, zu forschen, zu prüfen! Die Wahrheit, die Wahrheit, und wär' sie auch bitter! Wir wollen lieber unglücklich sein aus freier Wahl, als gezwungen werden zum Glücke. Träume können uns trösten, aber nie helfen.

Achtung, hohe Achtung vor dem harmlosen Gemüte, das noch seine Befriedigung findet im teuern Glauben seiner Väter! Wir suchen ja alle nichts anderes mit unserem rastlosen, angstvollen Ringen. Aber keinen Fluch, kein Zeter – hört ihr! – wo einer in seines Herzens Bangigkeit, in der Beklemmung peinigender Zustände, sich zweifelnd fragt, ob sein alter Glaube auch der richtige, und nicht nur, ob er der richtige, ob er der schönste sei, ob es nicht einen Gott gebe, der viel strahlender, viel herrlicher, als der, der sich uns bisher aus Priestermunde und im Buchstaben geoffenbart! Deutsches Volk, deine himmlischsten Genien sind es gerade, die den so verrufenen Zweifel als die echteste Religion betrachten und ausüben. Erschrecke nicht, sie wollen deinem frommen Sinne nicht bloß ein Kleinod rauben, sondern ein goldneres, edleres an dessen Stelle glänzen lassen, das auch deine kühnsten Träume überfliegt. Verwirf ihre Lehren, es liegt in deiner freien Wahl, aber lästere sie nicht, sie meinen es wahrlich gut mit dir; lächle über ihren Wahn, aber fluche ihnen nicht, wenn sie behaupten, daß auch der hohe Gott selbst dem Gesetze des Fortschrittes huldige. Denke ihrer blutigen, gottvollen Kämpfe in mancher stillen Nacht, da du so ruhig im Glauben an die von deinen Ahnen überkommene Lehre schläfst! Denke, daß es leichter ist, sich im Besitze des Himmels zu fühlen, als den Mut zu haben, zu forschen und ihn möglicherweise zu verlieren! »Es gibt keine Atheisten« und die man so brandmarkt, suchen eben Gott am inbrünstigsten, und die sie verketzern, sind eben diejenigen, die unfähig sind, sich zum Ideal aller Ideale zu erheben. Man nimmt dir einen Gott, um ihn dir reiner, verklärter, schöner wiederzugeben. Die Wissenschaft wird sich ihn auch erobern, sie hat schon zu viele Brücken abgeschlagen, als daß ein Rückzug für sie möglich wäre. Es wird auf diesem neuen skeptischen Wege, zur Erkenntnis[109] des Absoluten zu gelangen, viel Irrtümer absetzen und manches Herz in Verzweiflung untergehen. Aber ist die Verzweiflung nicht auch ein Gebet? Das heiligste Gebet? Möchte nicht der Verzweifelnde an die Brust des Ewigen sich stürzen, sich fest an ihn anklammern und das rettende Wort von seinen Lippen reißen? Ist der Jeremias Polens, Adam Mickiewicz, etwa weniger fromm als der Hauptpastor dieser oder jener Kirche, weil er im Gefühle unsänglichen Jammers seine Helden nicht mehr auf die Knie kommandieren läßt vor einem Wesen, das sein Vaterland verlassen? Dieser Irrtum vor dem Richterstuhl der Wissenschaft ist doch gewiß verzeihlich vor dem Tribunal des Menschenherzens.

Irrtum hin, Irrtum her – man behalte nur fest im Auge und überzeuge sich dessen, daß die neue Wisenschaft, die neue Literatur der Menschheit nichts, nichts nehmen, sondern alles, alles geben will; daß die Angeber und Verleumder der neuen Richtungen die Menschheit auf den armseligen Genuß des Jetzt beschränken und um eine große Zukunft zum voraus verkümmern möchten. Sie sind zu ohnmächtig, den Adlern zur Sonne zu folgen, und über sie hinaus, und jammern nun wie bestellte Klageweiber, das seien eitel Käuzlein, die schweres Unglück prophezeien.

Unsere ganze Atmosphäre ist skeptisch; doch ging die Hauptströmung von Osten nach Westen; Deutschland hat die Initiative, ich glaube, dargetan zu haben, zu seinem Ruhme. Unsere Zeit ist tief religiös, religiöser als irgendeine. Denn ist Religion etwas anderes, als diese innige Beschäftigung mit der Wahrheit, mit dem Absoluten? Und wenn wir auch alle den alten Himmel plündern, so geschieht es einzig, um die Decke wegzurücken vor dem Antlitz des Unendlichen. – Es kann also nur erfreulich sein, wenn ein Nachbarvolk diese unsere Richtung in sich aufnimmt und nach seiner Weise verarbeitet; unter den Franzosen hat dies George Sand getan, zuerst in ihrem Romane »Spiridon« und alsdann in dem neuesten Hefte der »Revue des deux mondes« in einem kritischen Aufsatze, betitelt: »Abhandlung über das phantastische Drama«. Goethes »Faust«, Byrons »Manfred«, Mickiewicz' »Konrad« sind der Gegenstand ihrer kritischen Studien seit ihrem Eintritt in eine neue Lebens- und Literaturphase geworden. Die zwei ersten gewiß wackere und edle Helden des Zweifels! Ob diese Studien bei ihr vielleicht nur Vorstudien sind, um eine Produktion in ähnlichem Sinne zu dichten? Ich wünsche es und wäre begierig auf die Lösung der Aufgabe.

[110] Georg Sand trägt immer noch das Herz höher als den Kopf, und wird von tausend Illusionen irregeleitet. Welch sonderbarer Einfall, Goethe zum Schüler Voltaires zu machen! Soviel ich weiß, liest George Sand nicht Deutsch, sie kennt schwerlich die trefflichen Arbeiten, die wir über Goethe besitzen, wie z.B. das Buch: Goethe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte; wir wollen also für diese Ansicht nicht sie, sondern die lieben französischen Kritiker, die überall mit Vergleichen zur Hand sind, einstehen lassen. Ein zweiter Irrtum, in den sie fällt und der für mich bei dieser geistreichen Frau wahrhaft betrübsam ist, liegt darin, daß sie Goethe bloß als Künstler, dem die Kunst Selbstzweck ist (angeführt nach dem französischen Ausdruck Kunst für Kunst), nicht aber als Dichter gelten läßt. Sie zitiert zu diesem Ende aus dem Monologe im ersten Teile des »Faust« »Erhabener Geist usw.« die Stelle: »Du lehrst mich meine Brüder im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.« So, meint sie, können wir bloß als Künstler, nicht als Dichter reden. Man sieht, die Franzosen haben recht artige Begriffe von der deutschen Lyrik. Was würden sie wohl zu Rückerts »Sterbender Blume« sagen? – Goethe ist ferner nach George Sand ein Dichter ohne Ideal, und darum für sie nicht, wie für andere, das Ideal eines Dichters. George Sand sucht überall Helden und riesige Charaktere, und verzeiht es Goethe nicht, daß er bloß Menschen geschaffen. »Er hat die Menschen dargestellt, wie sie sind, nicht wie sie sein sollen!« O wie ähnlich ist ihm doch eben darin die französische Dichterin! »Margarethe ist eine interessante, aber nichts weniger als engelreine Gestalt!« Ist es möglich, daß George Sand das naive, echt deutsche Gretchen so verkennen kann? – Und dennoch darf man ihr nicht böse sein. Fürs erste weiß sie nach dem, was vor mir liegt, rein nichts von einem zweiten Teil des »Faust« und ist über den herben, untröstlichen Ausgang des ersten beinahe selbst untröstlich, während sie sich an dem friedsamen Ende Manfreds höchlichst erbaut. Man mag über den zweiten Teil des »Faust« sagen, was man will, diese Allegorien so fad und kalt finden, als einem beliebt, auf die Intention des Dichters wirft er allein das richtige Licht, gibt allein für die Beurteilung des Ganzen den gehörigen Maßstab ab. Die zweite Entschuldigung für George Sand ist die Entschuldigung für jeden Franzosen: die deutsche Spekulation ist ihr ein böhmisches Dorf. George Sand soll heute einen Faust schreiben – habt acht, ob er nicht ein Politiker ist und nachdem er alle Systeme probiert, als enthusiastischer[111] Republikaner in das Grab steigt. Die dritte und beste Entschuldigung für sie ist ihre Eigenschaft als Weib, das sie so ganz doch nicht abgestreift hat. Wir müssen es gelten lassen und uns bequemen, wenn sie meint, Faust hätte schreiben sollen statt, »im Anfang war die Tat«: »im Anfang war die Liebe!«

Ich habe weiter oben gesagt, mit ihrem »Spiridon« habe sich George Sand der Skepsis in die Arme geworfen. Dies ist mit der Einschränkung zu verstehen: soweit es einem Weibe auf einmal möglich ist. Noch ist sie nicht auf dem Punkte angekommen, wo sie alles aufgeben könnte, um alles zu gewinnen; ihre Logik ist noch etwas scheuer Natur und sie fürchtet sich vor den Resultaten strengen Denkens.

Noch fehlt ihr der unerschrockene philosophische Mut; je weniger noch in einer Dichtung aufgegeben wird, desto besser begreift sie dieselbe, desto leichter versöhnt sie sich mit ihr, ja bewundert sie nach Umständen. Der »Faust« Goethes pocht um Erkenntnis, um Wahrheit an die Pforten des Himmels, und setzt für die Befriedigung seines Dranges Leib und Seele aufs Spiel. Byrons »Manfred«, die beste Fortsetzung des Goetheschen »Fausts«, worauf, meines Wissens, noch kein Kritiker aufmerksam gemacht hat, will nur Vergessen, Vergessen einer schuldbefleckten Vergangenheit, worunter er anfänglich allerdings Vernichtung versteht, so lange nämlich, bis er von der Unsterblichkeit der Seele sich überzeugt, das Nichts ihn zurückstößt und er mit den Worten verscheidet: »Alter, es ist doch nicht so schwer zu sterben!« Das tat dem Gemüte unserer Frau wohl, denn sie kannte den zweiten Teil von Goethes »Faust« nicht, allwo auch Fausts Unsterbliches von den Engeln in die Höhe getragen wird.

In einer Zeit, wie die unsrige ist, wo so viel verketzert wird, sollte die Verteidigung Byrons, ich darf nicht sagen durch die Feder, sondern durch das Herz der George Sand, in goldenen Buchstaben an jedem öffentlichen Gebäude stehen. »Kein großer Mann ist es für seinen Kammerdiener!« Das hätte man längst bedenken und einen edlen Charakter nicht nach seinem häuslichen Misere bemessen sollen!

Nachdem sie in zaubervoller Rede die tiefe Religiosität des englischen Dichters nachgewiesen hat, kommt George Sand zum dritten Gegenstand ihrer Abhandlung, zu dem dramatischen Fragment »Konrad«, von Adam Mickiewicz, in das sie sich mit besonderer Vorliebe, wie es auf ihrem jetzigen Standpunkte und von einer Republikanerin zu erwarten stand,[112] vertieft hat. Man kennt diese Dichtung von Mickiewicz in Deutschland schwerlich, und es ist dafür gesorgt, daß man sie in einer Übersetzung nie kennen lernen wird. Und doch welcher Reiz, welcher unaussprechliche Reiz! Der Dichter ein verbannter Pole, die Zuhörer ein in alle Welt zerstreutes Volk! Konrad ist eine Art polnischer Faust. Während der deutsche um Wahrheit, der englische um Vergessen an die Pforten des Himmels pocht, um was konnte der polnische anpochen, als um Freiheit? Der Pole ist fromm, der Pole ist Katholik. Der Dichter durfte daher, um von seinem Volke verstanden zu werden, keinen skeptischen Faust erschaffen, sein Konrad mußte, wenn er Sympathien erwecken wollte, von der Existenz eines Gottes, der Polen rächen wird, tief, tief im Innersten überzeugt sein. Und er ist auch überzeugt, daß es einen Gott gibt, und in seinen begeisterten Träumen steigt er über Sterne und Planeten hinauf, hinauf, bis wo die Natur und der Schöpfer sich zeigen. Gott ist – das weiß Konrad; aber er will erfahren, wer er ist, wie er ist, auch er will ihn erkennen; daß er ist und daß er daß weiß, genügt ihm nicht, er muß wissen, ob er ihn hassen, ob er ihn anbeten, ob er ihn fürchten soll. Wird er seine Ketten brechen, wird er ein Wunder geschehen lassen? Nichts von dem; der polnische Faust hat einen Gott, aber einen Gott, den er nicht lieben kann; vernichtet stürzt er zur Erde. – –

Der Eindruck von Adam Mickiewicz' Dichtung ist zu stark, um noch eine Zeile weiter schreiben zu können. Die Begeisterung der George Sand aber für diesen Sänger eines Heldenvolkes möge mir niemand schelten. Einem Dichter wie Mickiewicz steht der Schmerz noch gut, auch in seinem Übermaße.[113]

Quelle:
Herweghs Werke in drei Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1909], S. 102,114.
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