Georg Herwegh

Salon und Hütte

Was liegt im Grunde daran, ob unsere Leser von einem Buche mehr oder weniger Nachricht erhalten? Nachricht erhalten? Ich wollte sagen, ausführliche Nachricht. Wir werden gegen die Geister, die zuletzt doch die Tröster der Menschheit bleiben, gegen die Dichter, immer so galant sein und keinen ihrer Laute, wenn er nur etwas besser klingt, als Gold, verschweigen. Aber wozu, wie so manches ehrbare deutsche Journal, ganze Opernbücher für eine Note schreiben? Wozu Abhandlungen über eine Sache, wenn es über tausende zu sprechen gilt? Für das Beste ist eine Glosse zuviel und ein Kommentar von zwanzig zensurfreien Bogen zuwenig.

Die Zeit drängt und heißt kurz sein; wir müssen uns nicht nur über die Tatsachen der Gegenwart, sondern auch über die geheimnisvollen Mütter der Zukunft, die Ideen, orientieren. Es liegt wieder etwas in der Atmosphäre, das sich wahrscheinlich über die Erde hin entladen wird. Der Hahn scheint zum drittenmal krähen zu wollen, und Petrus wird ihn nicht zum dritten Male verleugnen. Die deutschen Disteln werden noch Trauben tragen, und ich fürchte schier, die Brabanter Elle möchte diesmal zu kurz sein, um die gewonnenen Stücke auszumessen.

Salon und Hütte! Ein Thema, das unter andern Titeln schon öfters von uns besprochen wurde, und dem wir heute einige neue Seiten abzugewinnen hoffen. Die Gesetze der Schönheit sind ewige, und das formelle Element der Poesie wird von den sozialen Stürmen am wenigsten zu leiden haben. Im Gegenteil, je freier die Welt wird, desto strenger wird vielleicht die Ästhetik. Jetzt, wo wir den ganzen Tag über Zeit haben, uns zu erholen, sind unsere Ansprüche am Abende bescheidener. Wenn wir erst ringen und streiten bis Sonnenuntergang, wird unsere müde Seele auch eine tüchtigere Portion Schönheit verlangen.[175]

Die Literatur wird mit unserm sozialen Fortschritt herrlicher erblühen, als je, aber auch die Anforderungen an sie werden größer sein, als zu irgendeiner Zeit. Ich kenne Geister, die gelehrter Dünkel jetzt schon schmäht, und sie werden gewiß einst der Stolz unserer Nation.

Die Gesetze der Schönheit werden dieselben bleiben. Ja! das mögen nur einige Schriftsteller, die ich vor Augen habe, wohl bedenken. Die Freiheit darf keine Grimassen schneiden! Herold hat ein Gedicht »Luther« veröffentlicht, das besser im Pulte oder noch besser in der Feder geblieben wäre. Man muß auch gegen Leute verwandter Gesinnung ehrlich sein, wenn sie Mißgriffe tun. Sollen wir denn lügen untereinander oder Karikaturen schön heißen, weil sie zufällig einige flüche donnern, die auch uns schon entfahren sind? Doch – mit jeder Wahrheit bekömmt man einen neuen Feind auf den Hals. Sei's! Da wurde uns noch ein anderes Buch zugesandt: Ecce Homo usw. von Blumenfeld. Es ist in London gedruckt und, wie es scheint, in Bedlam verfaßt. Herr Blumenfeld glaube nicht, daß wir in unsern Forderungen gemäßigter sind, als er; aber wir werden nie den Wahnwitz zum Champion der Freiheit machen. Der Wahnwitz kann nicht einmal deutsch schreiben. Das hat Herr Blumenfeld bewiesen; die Phantasie eines Folterknechts gehört dazu, um die Lektüre dieses Buches ohne Beben und Zittern zu ertragen. Die Blumen, die in die Darstellung verflochten sind, scheinen auf Gräbern gewachsen und duften alle wie Armesünderblumen.

Erquickend, wahrhaft erquickend sind dagegen Bücher, wie das längst erwartete von Benedey, das wir in den nächsten Tagen besprechen werden. Es führt den Titel: »Römertum, Christentum und Germanentum, und deren wechselseitiger Einfluß bei der Umgestaltung der Sklaverei des Altertums in die Leibeigenschaft des Mittelalters. Frankfurt, Meidinger.« Wenn wir auch noch die Gelehrsamkeit in unsere Reihen bekommen, so muß unsere Phalanx undurchdringlich sein.

Die Abschweifung war groß genug. Ich kehre zu meinem Thema zurück. Den Gott der Häßlichkeit werden wir also niemals auf den Thron erheben, die Ästhetik als formale Wissenschaft wird für Deutsche und Kosaken die gleiche sein müssen.

Vielleicht wird eine oder die andere Gattung der Poesie vorherrschen, vielleicht ist das Drama die erste gewaltigste Blüte der neuen Zeit. Unser größtes Epos, der Nibelungen Not, ist ja eigentlich ein Drama, und dieser Umstand könnte prototypisch sein für die deutsche Literatur.[176]

Der poetische Glauben wird ein anderer sein! Man wird Dinge für Poesie halten, die man bisher nicht verächtlich genug behandeln zu können gemeint hat. Das Volk wird nicht mehr die lächerliche Rolle spielen, wie jetzt in tausend und abertausend Romanen unserer kindischen Dichter, die einige bunte Fahnen für Poesie ausgeben wollen. Man wird zu der Einsicht gelangen, daß ein Strohdach ebensoviel Unglück, Elend und Poesie – leider auch Dummheit – überschatten kann, als ein Baldachin. Der Bettler hat sein Schicksal wie der König, und der Kreuzer, der ihm fehlt, um ein Stück Brot zu kaufen, daß er seinen Hunger stillen könne, ist wahrhaftig poetischer, als die Million, die eine Abgeordnetenkammer verweigert.

Man erinnert sich vielleicht der Beurteilung eines Buches in diesen Blättern unter dem Titel »Dichtungen von Hermann Kurtz«. Wir sollen den Idyllendichtern eigentlich recht von Herzen gut sein; sie bilden die wohltätigste Opposition gegen jene Poeten, die alle Stoffe aus den obern Sphären der Gesellschaft entlehnen zu müssen glauben, und die zerknitterte Taft- oder Samtblume auf dem Hute eines Fräuleins für rührender halten, als das Maßliebchen, das Robert Burns mit seiner Pflugschar zernichtet, den dunstigen Schein silberner Kandelaber für wohltätiger, als den Sonnenstrahl, der einen armen Lazzaroni wärmt. Unsere Idyllendichter verfehlen es in der Regel nur darin, daß sie das Leben des Volkes nach seiner Oberfläche, selten nach seiner Tiefe hin, ausbeuten. Möchten sie sich nur Béranger, den Apoll der Hütte, zum Muster nehmen! Kann die Seligkeit einer mediatisierten Fürstin, die einen Kronprinzen heiratet, größer sein, als die Seligkeit Lisettchens, die ihren geliebten Schatz so artig hereinzuschmuggeln und die blinde Mutter oder Großmutter so hübsch zu hintergehen weiß.

Man darf nicht unterlassen, unsere Dichter auf den so oft aristokratisch gescholtenen Goethe zu verweisen. Goethe war Aristokrat, ja; aber nur im Leben, nicht in der Poesie! Er hat bei weitem weniger Aufwand von Göttern, Helden und Königen gemacht, als Schiller! Er hat immer nur eines Menschen bedurft, um einen Charakter zu gestalten! Welche einfache Personen in den »Wahlverwandtschaften«! Welche Fülle von Poesie auf der ungeadelten Seite des Lebens im »Egmont«, im »Faust«! Welche Bürgerlichkeit im »Clavigo«! Goethes Erben scheinen der Verfasser des »Blasedow« und der Verfasser der »Epigonen« werden zu wollen. Wie wenig brauchen auch diese, um poetisch zu sein!

Ein bedeutender Dichter, der aus Schuld des deutschen Volkes[177] oder vielmehr seiner Kunstrichter kein bedeutenderer geworden ist, Leisewitz, der Freund Lessings, läßt bereits im Jahre 1775 im »Julius von Tarent« den Helden also philosophieren:

»Ich besuchte die Gruft meiner Väter; – ein wahres Bild des Standes der Fürsten, dacht' ich, als ich die silbernen Särge und die verrotteten Fahnen sah! – Bei ihnen ist alles so, wie in jedem andern Stande, die Flittern ausgenommen, die sie allem, was sie angeht, anhängen! Die Hand voll Staub in diesem Sarge, ehemals der große Theodorich, liebte den Schädel in jenem, einst die schöne Agnese! – Können sie doch jetzt ruhig schlafen, ohne daß ein Kammerherr im Vorsaale zu zischeln braucht: pst! Dieser erstickende Dunst ist wie der Dunst aus der Gruft eines Bettlers, und kein Schmeichler kann sagen, er duftet lieblich. Faulet nicht Theodorichs Hund so gut, als Theodorich, obgleich an seinem Grabe kein verrostetes Schwert und Zepter liegt?«

Der Salon hat nicht mehr Poesie als die Hütte; die neue Literatur wird beweisen, daß er deren viel weniger hat. Mögen die Fürsten immerhin die Angeln der Weltgeschichte sein, die Völker sind die Pfeiler derselben. Das künftige Drama wird sich lange hüten, wieder mit den herkömmlichen großen Personen zu spielen, aus Furcht, zuviel Teilnahme für dieselben zu erwecken. Die Lyrik wird sich mehr an Chamisso und Béranger anschließen, dann an unsern teuern Uhland. Es müssen große Dichter kommen, wenn die Poesie der Geschichte Schritt halten soll. Wir sehen bereits Zeichen, wir werden auch Wunder sehen!

Quelle:
Herweghs Werke in drei Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1909], S. 164,178.
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