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[187] Als Kingscourt und Friedrich in den Gasthof kamen, um Frau Sarah und Fritzchen auf die Reise abzuholen, waren diese schon fort. Frau Sarah war ihrem Gatten mit dem nächsten Zuge nachgeeilt. Es ging aber gleich wieder ein Expreß nach Tiberias und diesen benützten die Freunde. Im Wagen der elektrischen Eisenbahn sitzend, schauten sie in die Landschaft hinaus, die vorüberflog, und sie hielten auch eine Rückschau über die bisher wahrgenommenen Einrichtungen von Altneuland.
Kingscourt war sehr überrascht, als Friedrich im Eifer dieses Gespräches plötzlich sagte:
»Ich möchte nach Europa hinüber.«
»Was, Sie launenhafter Schlingel? Nun haben Sie das Land Ihrer hebräischen Ahnen schon wieder satt bekommen?«
»Nein, mein lieber Kingscourt. Ich bin zu froh, daß Sie hierbleiben wollen, und daß ich wenigstens noch versuchen kann, ein nützliches Mitglied der neuen Gesellschaft zu werden. Vielleicht kann ich meine juristischen Kenntnisse irgendwie verwerten? Vielleicht bekomme ich in irgendeinem Zweige der Verwaltung eine Arbeitsgelegenheit? Aber ich möchte dennoch für kurze Zeit nach Europa hinüber, um zu sehen, wie sich die Verhältnisse seither dort gestaltet haben. Ich kann mir nämlich gar nicht vorstellen, daß in den zwanzig Jahren unserer Abwesenheit nicht auch dort große Veränderungen eingetreten seien. Wenn ich bedenke, daß wir hier eigentlich nur die schon damals bekannten Materialien in einer neuen Ordnung wiedergefunden haben, so muß ich glauben, daß ähnliches wie hier auch dort existieren muß. Die Worte des Akademikers Marcus brachten mich auf diesen Gedanken. Er sagte: wir sind kein Staat, sondern eine große Genossenschaft...«
»Die Jenossenschaft mit dem endlosen Ideal!« schmunzelte Kingscourt.
»Ich frage mich nämlich«, fuhr Friedrich ernst fort, »ob wir da nicht bei einer Antwort auf manche Frage unserer vergangenen Zeit stehen. Damals sprach man viel vom Zukunftsstaate, qualmig taten es die einen, höhnisch die anderen, grimmig die dritten. Das Ausmalen künftiger Zustände war in den Augen der sogenannten praktischen Leute eine große Lächerlichkeit. Sie vergaßen, daß wir immer in künftigen Zuständen leben, denn das Heute ist die Zukunft von gestern. Man sah den unmöglichen Zukunftsstaat nur auf den unwahrscheinlichen Trümmern der bisherigen Einrichtungen. Also ein Weltuntergang, an den wirklich nur ein Hasenfuß glauben kann. Zuerst ein Chaos, und dann irgend etwas, von dem es fraglich blieb, ob es besser wäre als das Frühere. Aber derselbe Marcus sprach neulich[187] ein Wort, welches mir nachgeht: daß es eine Koexistenz aller Dinge gebe. Das Alte muß nicht mit einem Ruck untergehen, damit das Neue entstehe. Nicht jeder Sohn ist ein Posthumus, in der Regel leben die Eltern noch eine Zeitlang mit den Kindern fort, und eine alte Gesellschaft geht noch nicht unter, weil eine neue kommt. Seit ich hier gesehen habe, wie man mit lauter alten Materialien eine neue Ordnung der Dinge errichtet, glaube ich weder an eine völlige Zerstörung, noch an eine völlige Erneuerung der Institutionen. Ich glaube – wie soll ich es nur sagen – an einen allmählichen Umbau der Gesellschaft. Ich glaube auch, daß ein solcher niemals planmäßig, sondern zufällig vor sich geht. Das Bedürfnis ist der Baumeister. Zur Auswechslung eines Fußbodens, einer Stiege, einer Mauer, eines Daches, einer Wasserleitung, einer Beleuchtungsform entschließt man sich erst, wenn die Not drängt oder eine Erfindung siegt. Das Haus bleibt als ganzes, was es war. So kann ich mir auch den Staat, den wir einst sahen, erhalten denken, auch wenn das Neue hinzukam. Und dies möchte ich in Europa suchen ... Als wir damals von der Kulturwelt Abschied nahmen, sahen wir schon überall neue Lebensformen aufsprießen. Ich verstehe das Stockton-Darlington-Jubiläum. Damit hat alles angefangen. Es ist die Feier des Entstehung einer anderen Zeit. Wie lange war diese da, neben der früheren, sie durchdringend, von ihr durchdrungen – und die klugen praktischen Leute sahen davon noch gar nichts. Die Grenzen bestanden fort, aber Menschen und Waren durchzogen die Welt. Und wo kam man mit den Maschinen und auf der Eisenbahn überall hin! In andere Verkehrs-, in andere Wirtschaftsverhältnisse. Das Alte lebte noch, und das Neue war schon da. Die Genossenschaft der Kleinen, das Kartell der Großen – die beiden Formen kannten wir schon. Warum sollten sich nicht auch die Genossenschaften kartellieren, wenn es die einzelnen Fabrikanten tun konnten?...
Es kam schon früher vor, daß vernünftige Unternehmer die Fürsorge für ihre Arbeiter und deren Familien freiwillig übernahmen. Jede große Fabrik hatte ihre Wohlfahrtseinrichtungen, je größer das Unternehmen, um so größer konnte die Wohlfahrt eingerichtet sein. Die Kartelle wieder konnten, wenn sie wollten, das Los ihrer Arbeiter freundlicher gestalten, weil sie mehr Mittel hatten als der einzelne Fabrikant und weil sie sturmfester organisiert waren. Das weiß ich aus Ihren eigenen Erzählungen, Mr. Kingscourt. Die amerikanischen Trusts haben ja Sie mich kennen gelehrt.«
»Janz richtig. Und wo wollen Sie raus?«
»Ich meine, daß es eine notwendige Entwicklung war, wenn die Produktivgenossenschaft sich gegenüber dem Einzelunternehmen bildete. Das Betriebskapital war ursprünglich die schwache Seite dieser Genossenschaft, aber die Möglichkeit, auch den Konsum zu organisieren, war ihre starke Seite. Und die Genossenschaften mußten wachsen mit der allgemeinen Bildung. Und ich meine endlich, daß die großen Trusts wohltätig wirken mußten, weil sie den Weg bahnten zur Organisierung der Arbeit. Die Genossenschaften konnten sich nach diesem Beispiel einmal kartellieren. Die neue Gesellschaft, die wir hier gesehen haben, ist in meinen Augen nichts als ein Kartell von Genossenschaften. Ein großes Kartell, das alle Geschäfte in sich macht, die gemeine Wohlfahrt im Auge hat und aus lauter Nützlichkeit[188] auch das Ideal pflegt. Ich möchte nun sehen, ob dergleichen jetzt auch schon in Europa vorhanden ist.«
»Wollen Sie vielleicht jar sagen, daß so 'ne neue Gesellschaft auch anderswo möglich ist?«
»Ja, das will ich sagen. Diese neue Gesellschaft könnte überall existieren, in jedem Lande, ja, es kann in jedem Lande mehrere solcher Genossenschaftskartelle geben. Der Übergang zu dieser Form der Wirtschaft ist ja denkbar, wenn es Genossenschaften und Kartelle gibt. Dabei braucht der alte Staat keineswegs aufzuhören, er besteht vielmehr fort und schützt die Entwicklung der neuen Gesellschaft, die ihm ja zugute kommt, die ihn stärkt und erhält. Das ist die Koexistenz der Dinge, und daran glaube ich...«
Da waren sie in Tiberias angelangt.
Sie eilten vom Bahnhof nach der Villa des alten Littwak. Ein Diener, der sie an der Tür empfing, antwortete auf ihre Frage nach dem Befinden von Davids Mutter mit einem traurigen Kopfschütteln. Zugleich übergab er Kingscourt eine dringende Depesche, sie war soeben eingetroffen.
Kingscourt riß das Papier auf, indem er Friedrich bedeutsam anblickte. Und wirklich, da stand es zu lesen:
»David Littwak ist vom Kongresse mit 363 von 395 abgegebenen Stimmen zum Präsidenten der neuen Gesellschaft gewählt worden. Reschid.«
Sie stiegen die Treppe hinan und kamen in den Salon, an den das Krankenzimmer grenzte. Im Salon saß der alte Littwak mit Frau Sarah. Die Tür stand offen, und sie konnten in die Leidensstube blicken. Sie sahen Davids Mutter im Bett liegen. Das Antlitz der Dulderin war schon so bleich wie das Kissen, von dem es sich abhob, doch sie lebte noch. Ihre sanften Augen waren mit einem unendlich liebreichen Ausdruck auf ihre Kinder gerichtet, die am Fußende des Bettes standen und leise mit ihr sprachen. Der Arzt saß an der Seite des Bettes und betrachtete sie aufmerksam.
Kingscourt gab wortlos die eben erhaltene Depesche dem alten Littwak. Dieser nahm das Papier teilnahmslos, starrte darauf, dann gab es ihm einen Ruck. Er wischte sich die Augen mit dem Handrücken und las nochmals. Dann reichte er es seiner Schwiegertochter, seine Stimme zitterte:
»Sarah, les' mir das vor!«
Frau Sarah überflog das Telegramm mit den Blicken. Sie wurde blutrot, es schossen ihr die Tränen in die Augen, dann las sie es mit erstickter Stimme dem Alten vor. Dann sprang sie auf, schwang das Blatt hoch und winkte damit ihren Mann heran.
David kam auf den Fußspitzen heraus. Er sah Kingscourt und Friedrich im Hintergründe stehen, da nickte er ihnen kurz und ernst zu. Er wandte sich an Sarah und sagte mit leisem Unwillen:
»Was gibt es denn?«
Sein Vater war aufgestanden und ging mit schwankenden Schritten auf ihn zu:
»David, mein Kind – David, mein Kind!«
Die Frau hatte ihm das Telegramm gereicht. Er las es ruhig und runzelte die Stirn:[189]
»Nein, daß Reschid solche Scherze macht, hätte ich nicht geglaubt! Ich bin wahrlich dazu nicht aufgelegt.«
»Es ist kein Scherz!« erklärte Friedrich und berichtete den Hergang, soweit er dessen Zeuge gewesen war.
»Nein, nein!« sagte David. »Wie komme ich dazu? Es ist ja gar nicht möglich. Ich habe mich nicht beworben.«
»Eben darum!« bestätigte Kingscourt.
»Ich eigne mich nicht dazu. Hundert andere sind eher berufen als ich. Und ich nehme es auch nicht an. Bitte, telegraphieren Sie gleich an Marcus, daß ich es nicht annehme.«
Da sagte sein Vater stark:
»Du wirst es annehmen, David! Du mußt es annehmen – wegen deiner Mutter. Es ist die letzte Freude, die du deiner Mutter machen kannst.«
David bedeckte sich die Augen.
Mirjam trat aus dem Krankenzimmer:
»Was geht hier vor? Die Mutter ist unruhig; sie will wissen, was hier vorgeht.« Und sie gingen an das Lager der Sterbenden.
»Mutter!« sagte der alte Littwak, »der Herr Doktor Löwenberg hat uns etwas Gutes gebracht.«
»Ja?« hauchte die Dulderin, ihre Züge verklärten sich. »Wo ist er? Ich will ihn sehn. Man soll mich aufrichten.«
Der Arzt holte Friedrich aus dem Salon, während Mirjam und David ihre Mutter aufsetzten und ihren schmalen Rücken mit Kissen stützten.
Nun stand auch Friedrich an dem Bett. Die Mutter blickte ihn so gut an. Sie murmelte:
»Ich – hab' – mir's – gleich gedacht – damals – wie ihr – am Balkon war's ... Da draußen ... Kinder!...« Sie tastete schwach in der Luft herum. »Mirjam hat mir – nichts gesagt ... Aber – eine Mutter – sieht das ... Kinder! ... Ihr sollt euch – die Hand geben ... Meinen Segen – meinen Segen!«
Und so geschah es, daß Mirjam und Friedrich einander die Hände reichten. Aber sie taten es so zögernd und verlegen, daß es ihr auffiel. Da blickte sie mit Angst von einem zum anderen und flüsterte:
»Oder – oder?...«
»O ja!« sagte Friedrich warm und drückte die Hand des Mädchens fester. »Ja«, sagte auch Mirjam leise.
So wahr ist es, daß eine Mutter, auch wenn sie schon ganz schwach und hilflos ist, noch immer die Kraft hat, ihres Kindes Glück zu schaffen.
Sie lehnte nach dieser großen Anstrengung mit geschlossenen Augen in den Kissen und atmete kaum noch. Da erschrak der Alte, daß sie entschlummern könnte, bevor er ihr die Größe ihres Sohnes gemeldet hätte.
»Mutter!« schrie er laut. Sie öffnete noch einmal die Lider, und es war ein Bedauern in ihrem Blick, daß man sie in dem schönen Traum störe, den sie fein hinüberspinnen wollte – hinüber...
»Mutter!« rief der Alte. »Wir müssen dir sagen etwas Großes. Weißt du, wer[190] geworden ist der Präsident von der neuen Gesellschaft? ... Unser David ist geworden der Präsident! Mutter, unser David!...«
Da lag David wie als Knabe auf den Knien vor seiner kranken Mutter und weinte bitterlich auf ihre wachsbleiche, erkaltende Hand. Sie aber zog die Hand hervor und streichelte ihm sanft das Haar, als ob sie ihn hätte im voraus trösten wollen.
»Mutter!« rief der Alte noch einmal angstvoll, »hast du gehört?«
»Ja!« hauchte sie, »mein – mein David...«
Und ihre Augen brachen.
Man begrub sie.
Man sang die alten hebräischen Gesänge, und der gute Rabbi Samuel von Neudorf sprach die Gebete. Es wurde keine Grabrede gehalten. David hatte es nicht gewünscht.
Aber als er mit den Freunden vom Friedhofe kam und im Trauerzimmer niedersaß, da hielt er selbst ihr den Nachruf:
»Sie war meine Mutter. Sie war für mich die Liebe und das Leiden.
Die Liebe und das Leiden waren in ihr verkörpert, so daß mir die Augen übergingen, wenn ich sie nur sah.
Ich werde sie nicht mehr sehen, und sie war meine Mutter.
Sie war unser Haus und unsere Heimat, als wir nicht Haus noch Heimat hatten.
Sie hielt uns aufrecht, als wir im Elend waren, denn sie war die Liebe.
Sie lehrte uns Demut, als es uns besser ging, denn sie war das Leiden.
Sie war in bösen und guten Tagen die Ehre, die Zierde unseres Hauses.
Als wir so arm waren, daß wir auf Stroh lagen, da waren wir doch reich, weil wir sie hatten.
Sie dachte immer an uns und nie an sich.
Unser Haus war nur eine kümmerliche Stube, und es barg einen Schatz. Mancher Palast hat keinen solchen Schatz. Das war sie, die Mutter.
Sie war eine feine Dulderin. Das Leiden beugte sie nicht, es erhöhte sie.
Da habe ich sie manchmal angeschaut als das Judentum in der Zeit der Leiden. In ihrer Gestalt sah ich es.
Sie war meine Mutter – und ich werde sie nicht mehr sehen. Nie mehr, Freunde!
Nie mehr. Und ich muß es tragen...«
Die Freunde hörten seinem Schmerze zu und sie schwiegen.
Allmählich kamen ihrer mehr herein in das Trauergemach. Es waren alle da, welche David Littwak und seinem Hause näherstanden.
Dr. Marcus begann das Gespräch hierhin und dorthin zu führen. Es war erkennbar, daß er Davids Gedanken ablenken, ins Leben zurückgeleiten wollte. Die Reden hatten einen ernsten und hohen Zug.
In dieser Stimmung warf Friedrich Löwenberg die Frage auf, die sie nacheinander beantworteten. Jeder tat es in seiner Weise.
Dies aber war die aufgestellte Frage:
»Wir sehen hier eine neue, eine glücklichere Form des Zusammenlebens von Menschen – wer hat das nun geschaffen?«[191]
Der alte Littwak sagte: »Die Not!«
Architekt Steineck sagte: »Das wiedervereinigte Volk!«
Kingscourt sagte: »Die neuen Verkehrsmittel!«
Dr. Marcus sagte: »Das Wissen!«
Joe Levy sagte: »Der Wille!«
Professor Steineck sagte: »Die Naturkräfte!«
Der englische Prediger Hopkins sagte: »Die gegenseitige Duldung!«
Reschid Bey sagte: »Das Selbstvertrauen!«
David Littwak sagte: »Die Liebe und das Leiden!«
Der alte Rabbi Samuel aber stand feierlich auf und sagte: »Gott!«
Ende.[192]
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