V. Die weissen Sclaven.


Der Schauplatz ist das Innere einer der ärmlichsten Hütten des ärmlichen Fabrikdorfes Kayna, dessen Lage wir hier nicht näher geographisch angeben dürfen. Ein Wohnzimmer kann das elende Gemach wohl kaum genannt werden, denn ihm fehlt auch das Geringste jener Meubels, die, nicht die Cultur, nein, die schon die Natur des Menschen verlangt. Da ist nicht ein Tisch, nicht ein Stuhl, nicht einmal eine Bank. Der Heerd ohne Feuer und eine Schütte halbfaules Stroh in der Ecke – das ist das Ameublement der Wohnung eines ordentlichen, fleißigen Mannes, des Spinners Mensdorf; auf dem Heerde, rechts und links, neben dem Loche, in welchem das letzte Reisigfeuer brannte, liegen zwei halbnackte Knaben von acht und neun Jahren, die schauernd und zähnklappernd zusammenfahren, wenn der herbstliche Nachtsturm niederfährt und sich rasselnd in dem wankenden Kamine der Hütte fängt. Licht brennt keines in der Hütte und[123] doch ist es erst acht Uhr, ohne Licht müssen die Armen die Stunden hinbringen, bis der Schlaf so barmherzig ist, die Augenlider der Unglücklichen zuzudrücken, damit sie durch ihn gerade Kraft genug erhalten, um den andern Tag neues Elend, alte Noth, dulden zu können.

Auf der Strohschütte im Winkel regt sich ein dunkler Knäuel von lebenden Gestalten, ein Vater ist's und eine Mutter ist's, die ein Kind, ein krankes Kind, zwischen sich genommen haben, um es mit ihren Leibern gegen die Kälte zu schützen. Die Mutter richtet sich auf mit halbem Leibe von dem Stroh, ein zerrissenes Tuch vermag nicht die welken Brüste des armen Weibes zu bedecken, ein dünner, kurzer, wollener Rock ist das Einzige, was dieses Kind des Elends der empfindlichen Nachtkühle entgegensetzen kann; die Mutter richtet sich halb auf, das bleiche Gesicht mit den hohlen Wangen und den halberloschenen Augen beugt sich ganz tief herab auf das Antlitz des schlafenden Kindes. »Es schläft, Mann!« sagt sie mit leiser Stimme; »ist Röschen noch nicht da?«

»Nein, Hannchen!« antwortet der Mann mit einer Stimme, in der der tiefste Schmerz zittert; »nein, Hannchen und sie wird auch schwerlich vor zehn kommen.«[124]

»Ich hungere sehr, Vater!« ruft der eine Knabe vom Heerd her. »Ich hungere und friere!« der Andere.

»Sie haben seit gestern Morgen nichts gegessen!« seufzt die arme Mutter leise.

Der Vater dreht sich um, er wendet sein Gesicht nach der Wand, er weint nicht, denn er hat so viel geweint, daß seine Thräne versiegt ist, er betet nicht, denn das Beten hat ihm tausendmal nichts geholfen, er kann es aber nicht ertragen das gräßliche: »Mich hungert, Vater!«

Ein armer Mann war Mensdorf von jeher gewesen, aber er hatte geschafft und gearbeitet und hatte sich und seine Kinder durchgebracht, selbst in der schwersten Zeit, denn er war ein Arbeiter so rüstig wie es keinen mehr gab in der ganzen Umgegend. Jetzt aber, seit drei Monaten, er hatte nicht weniger gearbeitet als sonst, eher noch mehr und dennoch war er in die entsetzliche Lage gerathen, in der wir ihn heute finden; in eine Lage, in der er täglich fürchten mußte, daß Frau und Kinder verhungern würden vor seinen Augen; in eine Lage, die so entsetzlich war, daß er nur durch den Tod aus ihr erlöst zu werden hoffen konnte.[125]

Wie kam das? Was hatte den Mann mit allen den Seinigen so namenlos, so über alle Beschreibung elend gemacht? Wir werden es sehen. –

»Mann!« sagte die Frau plötzlich, »Mann, hörst Du nicht? Es kommt Jemand.«

Das Herz des armen Mensdorf schlug hörbar, er stand auf und ging mit zitternden Knieen nach der Thür der Hütte; Furcht und Hoffnung, Mangel und Elend, Schwäche und Verzweiflung hatten den, einst so starken, Mann zum Schatten gemacht in wenigen Wochen. Zerrissen schlotterten die Fragmente eines ehemaligen Beinkleides um die entfleischte Gestalt des armen Menschen.

Es klopfte an die Hüttenthür. »Hast Du Brod, Röschen?« fragte der Vater ängstlich, indem er den hölzernen Riegel zurückschob.

»Ja, Vater!« antwortete eine, vielleicht funfzehnjährige, Dirne eintretend.

»Gott sei Dank!« lispelte der arme Mann und lehnte sich an die feuchte Wand.

»Hast Du Brod, Röschen?« fragten noch zwei Stimmen, nur die Mutter fragte nicht, ein grenzenloser Schmerz zerschnitt das Innere der unglücklichen Frau.[126]

»Hier, hier, hier!« sprach die Dirne und reichte den Brüdern und der Mutter Jedem ein Stück grobes, schwarzes Brod aus dem kleinen Korbe, den sie nebst einigen Reisigbündeln im Arm trug.

Dann machte sie Feuer an auf dem Heerde mit diesen Bündeln Reisholz; hellauf flackerte die Flamme und erhellte mit röthlichen und gelblichen Lichtern die Wohnstätte des Hungers und der Verzweiflung.

Da saßen die beiden ganz nackten Knaben auf dem Heerd und kaueten, die Knaben froren nicht mehr, denn sie konnten essen und damit begnügte sich ihre zufriedene Jugend; dort saß die unselige Mutter neben ihrem jüngsten Liebling, sie hielt ein Stück Brod in der Hand, aber sie aß nicht, sie kaute ihr Brod blos klein und bemühte sich nun die, in ihrem Munde erwärmte, schleimige Brodmasse dem armen Kinde einzuflößen.

»Vater, wollt Ihr nicht essen?« fragte die Dirne, sich nach dem Vater umsehend, der noch immer sprachlos an der Wand lehnte. »Kommt, kommt, Vater, Ihr müßt morgen zeitig an die Arbeit, hier ist auch ein Tropfen Schnaps für Euch!« Der arme Mann arbeitete schwer, schwer hob sich seine Brust und erst nachdem ihm Röschen einige Tropfen Schnaps eingeflöst[127] hatte, kam er wieder zu sich, sah sich um in seiner Hütte und schien verwundert, als er alle seine Kinder essen sah, mechanisch ergriff er das Stück Brod, das Röschen ihm reichte und verschlang es dann mit einer thierischen, nicht mehr menschlichen, Gier.

»Die alte Susanne hat mir ein kleines Töpfchen geborgt, Mutter, ich will der Kleinen einen Mehlbrei kochen und dann den Jungen, eines nach dem andern, werdet nicht ungeduldig.«

Bei der flackernden Flamme des Heerdfeuers haben wir Gelegenheit das junge Mädchen, das wir Röschen genannt haben, zu betrachten. Röschen ist erst funfzehn Jahre alt und dennoch schon vollständig erwachsen, ihr Wuchs ist schlank, elegant und dennoch üppig. Glänzend braunes Haar liegt schlicht an einer feinen Wange, deren Blässe von dem Hunger erzählt, den auch sie gelitten in der letzten Zeit, das braune Auge der jungen Dirne ist mild und hell, Mund und Kinn sind zierlich und die Hand, wenn auch nicht ohne Spuren der Arbeit, doch feingeformt. Die Kleidung Röschens besteht in einem kurzen, wollenen Rock, der nicht einmal lang genug ist, um ein grobes, baumwollenes Hemde, das die Wade kaum bedeckt, zu verbergen.[128] Ein schlechtes Tuch verhüllt den Hals und die junge Brust der Dirne.

Röschen würde schön sein, wenn sie besser gekleidet wäre, selbst so in ihrem Plunder, in ihrer ärmlichen Blöße, ist sie nicht ohne Reiz, ohne Anmuth. Emsig ist sie bemüht ein kleines, wie wir hörten geborgtes, Töpfchen zum Kochen zu bringen, sie scheint ganz mit dieser Angelegenheit beschäftigt, dennoch würde es einem aufmerksamen Beobachter nicht entgehen, daß tiefer Schmerz thront auf der tadellosen Stirn, in den hellen Augen des Mädchens, ja, er würde bemerken können, daß der Thränenweg über die Wange frisch betreten ist und daß der Mund, leicht zusammengedrückt, dem anmuthigen Gesicht einen Ausdruck von Entschlossenheit und Willensenergie giebt, den man sonst nicht sucht, auch wohl nicht liebt in den Gesichtern jugendlicher Mädchen.

»Röschen,« beginnt der Arbeiter sich schauernd und fröstelnd dem kleinen Feuer nähernd, »sage mir, haben Deine Bitten gefruchtet? will der Herr mir etwas geben?«

Das Mädchen nimmt hastig das Töpfchen vom Feuer, eine glühende Röthe fliegt über ihr Gesicht und erst, als sie das Töpfchen der Mutter gereicht,[129] antwortet sie fest: »Ja, Vater, er will Euch den Arbeitslohn auszahlen lassen, sechs Pfennige täglich und nur den siebenten will er einbehalten für seine Forderung, auch will er Dir drei Wochen vorauszahlen, damit Du Dir das Nöthige wieder anschaffen kannst.«

Mensdorf antwortete nicht, aber Thränen liefen über seine entfleischte Wange, krampfhaft falteten sich seine Hände, jetzt hatte er wieder Muth und Kraft zu beten.

Röschen seufzte und füllte das Töpfchen zum zweiten Male, um auch den hungernden Brüdern einen Mehlbrei zu kochen.

Welches Bild, hier stand ein Mensch, der Gott brünstig dafür dankte, daß er täglich mit zwölf Stunden Arbeit sechs Pfennige verdienen durfte, daß ihm sein hartherziger Fabrikherr nicht, wie bisher, das Ganze, sondern nur den siebenten Pfennig einbehalten wolle zur Bezahlung einer Forderung von vier Thalern – und dort –? –

Wir verlassen jetzt die Hütte, den Schauplatz des Elends, wir haben die Gewißheit, daß die unglückliche Familie in dieser Nacht noch nicht verhungern wird, wir begeben uns nach dem besten Zimmer jenes schmucken Hauses, das dicht an der großen Fabrik liegt.[130]

Das behaglich erwärmte und erleuchtete Zimmer ist mit allen den kleinen und kleinsten Erfordernissen des feinsten Comforts reichlich versehen – prächtige Meubles, kostbare Uhren, reiche Draperieen – es ist sehr angenehm leben, wenn man reich ist und der junge Mann dort im seidenen Schlafrock ist sehr reich, er besitzt mehrere einträgliche Fabriken und hat einige hundert Sclaven, weiße Sclaven, die er höflich seine »Fabrikarbeiter« nennt. Nachlässig streckt der junge Krösus seine Glieder auf den wollüstig schwellenden Kissen des Divans, nachlässig hält er ein Buch vor sein Gesicht, vor sein Gesicht, das ganz hübsch sein würde mit seinen dunkeln Augen und seinem kleinen Munde, wenn es nicht durch Züge des unleidlichsten Hochmuthes, so wie durch Spuren von sehr frühem und sehr raschem Lebensgenuß entstellt worden wäre. Der junge Mann warf gelangweilt sein Buch weg und eine Art von Freude schimmerte in seinen Augen, als sich die Thür leise öffnete und ein großer, hagerer, gelber Mann eintrat, den die Brille, in Stahl gefaßt, der lange, graue Rock, das große Buch unter dem Arme, die Feder hinter dem Ohr sogleich als die wichtige Person ankündigte, die den Posten eines ersten Buchhalters der Fabrik bekleidete.[131]

Diese Maschine verbeugte sich dreimal äußerst devot vor dem jungen Herrn, der sich nicht rührte, sondern nur einen Laut von sich gab, den man für einen »Guten Abend!« halten konnte, wenn man eben Lust hatte. Schweigend nahm der Buchhalter Platz an dem Tischchen vor dem Divan, öffnete sein Buch und begann mit heiserer, eintöniger Stimme zu lesen: »Hüll und Comp. bestellen 100 Stück Linnen Nr. 21., rathsam anzunehmen, kann in sechs Wochen erledigt sein.«

»Angenommen!« sagt der junge Herr und der Buchhalter macht ein Zeichen in sein Buch.

»Bernett bestellt hundert Stück, ist aber auf die letzte Bestellung noch eintausend siebenhundert Thaler und neun Pfennige schuldig.«

»Soll erst seinen Rest abmachen!« entscheidet der junge Herr.

»Von Berlin werden verschiedene kleine Bestellungen von kleinen Geschäften, aber guten Zahlern, für nächste Ostern gemacht, zusammen für neuntausend Thaler.«

»Angenommen!«

Der Buchhalter schlägt ein anderes Blatt seines Buchs auf.

»Eine Rechnung von 1300 Thalern für die neue Kutsche.«[132]

»Hundert Thaler abzuziehen und zu bezahlen!«

»Eine Weinrechnung von Clicquot Wittwe.«

»Wie viel?«

»Dreihundert Thaler!«

»Zu zahlen; eine neue Bestellung von 200 Bouteillen zu machen!«

Wieder schlägt der Buchhalter ein neues Blatt auf.

»Ein Brief von Major Klödwyn, er ladet zur Jagd für nächsten Freitag.«

»Die Einladung sehr höflich abzulehnen, ich muß nächsten Freitag nach Elberfeld.«

»Ein Brief vom Herrn von Goldstein, er ladet zum Diner auf übermorgen.«

»Kurz abzulehnen, denn man kann mit dem Menschen keinen Umgang mehr haben, seit er den öffentlichen Scandal in den Zeitungen gehabt hat; hätte auch klüger gethan, den Zeitungsschreibern mit ein paar Louisd'or das Maul zu stopfen.«

»Haben Sie noch etwas zu befehlen Herr Strobel?«

»Ja, erstlich bekömmt der Spinner Mensdorf von morgen an täglich sechs Pfennige baar und der siebente wird ihm gut geschrieben, er erhält auch drei Wochen praenumerando und zweitens werden seiner Tochter ein wollener Rock und ein Paar Schuhe verabreicht[133] und ihm nicht in Anrechnung gebracht. Drittens wird das Mädchen nicht zur Arbeit angehalten, sondern arbeitet so viel sie Lust hat, versteht sich Alles nur für jetzt und bis auf Weiteres.«

»Sehr wohl, Herr Strobel!« antwortete der Buchhalter, schloß sein Buch und stand auf.

»Sie können heute mit mir essen, Buchhalter, klingeln Sie einmal.«

Der Buchhalter erfüllte den Befehl seines Herrn und nach einigen Augenblicken stand ein feines Souper zwischen den beiden Männern, die es sich trefflich schmecken ließen und auch der Flasche eifrig zusprachen.

Als Herr Strobel satt war streckte er sich wieder bequem auf seinen Divan und fragte: »Nun, Buchhalterchen, was giebt's Neues? Haben Sie nichts für mich? Ich denke Sie kennen meinen Geschmack hinlänglich.«

»Gewiß, Herr Strobel,« antwortete der würdige Mann mit abscheulichem Grinsen, »habe auch wieder mancherlei, da ist die dicke Dorthe –«

»Nichts mit der, die ist mir zu plump, ich habe sie mir neulich angesehen.«

»Nun denn, die Cordelie von Hornberg's,« fuhr der Buchhalter fort, »die Mutter war heute bei mir[134] und läßt sie Ihnen anbieten, für einen Thaler, wie ich glaube, die Leute nagen entsetzlich am Hungertuche, der Mann soll aber nichts erfahren davon; Sie kennen das Mädchen?«

»Ja, das Mädchen ist hübsch, aber noch sehr jung, will für jetzt mit Röschen zufrieden sein.«

»Mit der haben Sie in der That ein Meisterstück gemacht, Herr Strobel,« versetzte der Buchhalter mit teuflischem Grinsen, »glaubte schon, der Kerl würde desperat genug sein, mit Frau und Kindern zu verhungern.«

»Er weiß auch nichts davon, Buchhalter, ich habe der Dirne versprechen müssen dem Vater nichts davon zu sagen.«

Der Buchhalter lachte diabolisch und sprach: »Ja, ja, ich glaub's schon, mag tüchtig gehungert haben der hochnäsige Kerl in der letzten Zeit, sah wie ein Schatten aus, weiß übrigens sicher Niemand besser um die Sache, als er.«

»Uebertreib' Er's nicht mit den Leuten, Buchhalter,« warnte Herr Strobel nachdenklich, »damit mir's nicht etwa geht, wie dem Narren, dem Goldstein, drüben.«[135]

»Hat gar nichts zu sagen, Herr Strobel, ich weiß, wie weit ich gehen kann, sorge ich doch nur für Dero Vergnügen und Vortheil.«

»Uebrigens, Buchhalter,« fuhr der Fabrikherr, indem er seinem würdigen Diener winkte und sich von ihm eine Cigarre reichen ließ, »hat Er hier jedenfalls Unrecht, Er hätte das Mädchen sehn sollen, wie hübsch es aussahe, wie großartig förmlich, als es mit seinen nackten, weißen Beinchen da vor mich hintrat und mich anblitzte mit seinen hellen, braunen Augen –«

»Ein Paar Ruthenhiebe hätten den Trotz der Dirne schon gebrochen!« murrte der Buchhalter.

»Schäm' Er sich, wer wird ein hübsches Mädchen schlagen!« verwies Herr Strobel und blies den blauen Rauch seiner Manilla von sich.

»Was sagte denn die Dirne, Herr Strobel, wenn ein alter, treuer Diener Ihres Hauses sich erdreisten darf danach zu fragen?«

»Hm!« sprach der reiche Herr, sich dehnend, »sie sagte: ›Herr, ich hungere, mein Vater hungert, meine Mutter hungert, meine Geschwister hungern, Sie sind unser Feind, Sie haben uns Alles genommen, weil mein Vater nicht in Ihr Begehren willigen wollte – meinetwegen aber soll Niemand verhungern, machen[136] Sie mit mir, was Sie mit mir machen wollen, ich will Alles dulden, nur geben Sie meinem Vater seinen Lohn und versprechen Sie mir, ihm nichts von meiner Schande zu sagen.‹ Das sagte das hübsche, trotzige Kind, wir wurden einig und sie ergab sich mir dann ohne alles Widerstreben.«

»Ja, ja, der Hunger ist gut,« erwiederte der Buchhalter, »und wie fanden der Herr Principal die Kleine?«

»Schön, über alle Erwartung!« rief Herr Strobel mit dem Tone der größten Genugthuung.

Während diese beiden Menschengestalten sich also mit einer teuflischen Leichtfertigkeit über das namenlose Elend unterhielten, das sie aus Sinnlichkeit, Habsucht und Gewohnheit über ihre ärmern Mitmenschen brachten, fand in einer ärmlichen Hütte eine ganz an dere Scene statt.

Auch diese Hütte ist, gleich der des armen Mensdorf, von allem Hausrath entblößt, doch lodert ein tüchtiges Feuer auf dem Heerde und einige schadhafte Stühle stehen um einen wackeligen Tisch.

Drei Männer sprechen an dem kleinen Fenster, dessen zerbrochene Scheiben mit geöltem Papier verklebt sind, leise aber eifrig, mit einander, an dem Heerde[137] sitzt eine Frau, die von Schmutz und Häßlichkeit starrt, sie blickt gedankenlos in das Heerdfeuer, an dem eine plumpe, aber sonst nicht unschöne, wenn auch sehr schmutzige, Dirne beschäftigt ist.

»Cordelie!« spricht die schmutzige Frau zu dem schmutzigen Mädchen, »Cordelie, brich doch die Lehne ab von dem Stuhl und wirf sie in's Feuer, damit wir wenigstens warm haben die Nacht, denn schlafen können wir doch nicht wegen der Mannsleute.«

Schweigend gehorchte das Mädchen, man sah sie mit großer Behendigkeit die beiden Stuhllehnen abreißen und dann die mürben Holzstücke, so leicht als wären es Strohhalme gewesen, über dem Knie zerbrechen.

»Es wird spät, Hornberg wird uns doch etwas Brod mitbringen?« fragte die Alte.

»Ich verhungere fast, Mutter!« antwortete die Tochter.

»Ich habe heute Deinetwegen mit dem Herrn Buchhalter gesprochen, Cordelie, er machte mir Hoffnung, er meinte, Du könntest dem Herrn gefallen und gab mir einen Schluck Branntwein.«

»Giebt mir der Herr zu essen, wenn ich ihm gefallen habe, Mutter?« fragte Cordelie und sah ihre Mutter mit dem gutmüthigsten und einfältigsten Blick ihrer blaßblauen Augen an.[138]

»Er giebt Dir zu essen, Kind, und Geld und einen neuen Rock, denn der Herr ist eigentlich gut, sehr gut, wenn nur der Herr Buchhalter nicht wäre!«

»Wenn ich Geld habe und Essen, Mutter, dann sollt Ihr sicher nicht hungern!« rief Cordelie mit natürlicher Gutmüthigkeit.

In diesem Augenblick traten noch vier Männer in die Hütte, von denen Einer, der Fabrikarbeiter Hornberg, rasch auf den Heerd zuschritt und seiner Frau und seiner Tochter, Jeder, ein Stück Brod und ein Stück Speck reichte.

»Ihr werdet verdammt gehungert haben, Ihr armen Weibsen!« sagte der Mann mit rauher Stimme und streichelte mit seiner gewaltigen Hand den Kopf seiner Tochter, die, gleich der Mutter, eifrig zu essen begann; »und doch hättet Ihr beinahe nichts bekommen, der Buchhalter, der Schuft, wollte mir und Cordelien die zwei Tage abziehen, die Du, armes Weib, krank gewesen bist, unsere Schuld beim Krämer habe ich bezahlt, aber er will uns doch nichts mehr borgen, da hier ist der ganze Rest!« bei den Worten warf er vierzehn Pfennige in den Schooß des Weibes1; »wie[139] es nun werden soll bis zum nächsten Sonnabend, das mag Gott wissen, ich weiß es nicht!«

Der Mann mit dem herkulischen Körperbau wendete sich um, er wollte den Weibern die Thräne nicht sehen lassen, die über sein finsteres Gesicht rann, er knöpfte die baumwollene Jacke auf, der Gedanke an die Zukunft machte ihm heiß selbst in der Kälte, denn das Heerdfeuer erleuchtete die Hütte zwar, aber erwärmte kaum die dem Heerde zunächst Stehenden. Jetzt traten noch vier Männer in die Hütte und gleich nach ihnen noch einige, so daß wohl ein funfzehn versammelt sein mochten, deren zerrissene Kleidung, elendes Aussehen und gedrücktes Wesen hinlänglich verrieth, daß sie zu der verachteten Kaste der deutschen Parias gehörten; es waren besitz- und rechtlose, deutsche Fabrikarbeiter, weiße Sclaven.

Das Gespräch dieser Männer schien aufregender Art zu sein, denn immer lauter wurden die Stimmen.

»Gott helfe mir!« rief Einer plötzlich ganz laut, »ich kann's nicht länger ertragen dieses beständige Arbeiten und Hungern, mag der König mein armes Weib und meine armen Würmer ernähren, ich gehe davon!«

»Sind wir nicht Menschen so gut als die reichen Herren?« begann ein Anderer, »ist's nicht himmelschreiend,[140] durch unsere Arbeit werden sie immer reicher und wir müssen unsere Kinder verhungern sehn!«

»Es ist wenig sieben Pfennige,« sprach der Arbeiter Hornberg, »aber wenn man sie uns nur gäbe, es ginge dann schon.«

»Ja, ja,« sagte ein älterer Mann, »wenn man uns unser Geld nur gäbe, wir brauchten doch dann nicht zu hungern, aber die verdammten Waaren, die man uns statt des Geldes giebt, die wir wieder verkaufen müssen, weil wir sie nicht brauchen können, die richten uns zu Grunde.«

»Und es ist doch gegen das Gesetz,« bemerkte ein Anderer, »man soll uns baar Geld geben und keine Waare, es ist verboten, ich weiß es!«

»Was hilft uns das, Anton,« rief Hornberg, »wer Geld hat, hat immer Recht, willst Du etwa klagen gegen den Herrn?«

»Ich kann nicht klagen, denn ich habe kein Geld und ohne Geld giebt's kein Recht auf Erden!«

»Ich will Euch etwas sagen, Genossen!« schrie ein derber, nerviger Mann, einen Schritt vortretend, »neulich sprach ich einen Reisenden, der aus Frankreich kam, dem klagte ich meine Noth, wißt Ihr, was er sagte?«[141]

»Nun?« fragten ein Dutzend Stimmen.

»Ich will's Euch sagen; um's Euch zu sagen, habe ich Euch hierher bestellt zu Hornbergen; er sagte, wir sollten's machen wie unsere französischen Brüder –«

»Und wie machen's die?«

»Das sind Kerls, sag ich Euch, wenn die der Fabrikherr zu sehr schindet und plagt, dann weigern sie sich einmüthig zu arbeiten und zwar so lange, bis der Herr in ihr Begehren gewilligt!«

»Laßt's uns auch so machen, Genossen, wir wollen uns weigern zu arbeiten; er muß nachgeben und thut er's nicht, wir müssen ja so und so verhungern!« rief ein Anderer.

»Aber,« wendeten Einige ein, »wenn man nun die Gensd'armen schickt und Soldaten, um uns zu zwingen?«

»So wehren wir uns,« schrie der, der zuerst gesprochen hatte, »ich glaube es ist besser unter den Bajonetten der Soldaten zu sterben, als zu verhungern, als Weib und Kind verhungern zu sehen.«

Eine tiefe Stille herrschte nach diesen Worten in der Versammlung, es war nicht die Furcht vor dem Tode, was diese armen Menschen stutzen ließ, sie sahen ja dem schrecklichsten Tode, dem Hungertode, Jahre[142] lang in's Antlitz, aber es wohnt ein rührender Abschen vor der Empörung in der Brust des deutschen Menschen, selbst diese Rechtlosen, diese Sclaven elender Gewinnsucht, schauderten bei dem Gedanken an den Widerstand gegen die Soldaten des Landesherrn. Diese Pause, die im Gespräch eingetreten war, benutzte ein junger Mann in einer blauen Blouse, um rasch in den Kreis zu treten.

Es ist der Doctor Johann Faust, Don Juan's Freund.

»Wollt Ihr mich hören, lieben Leute?«

»Wer ist er? Ein Fremder! Doch kein Spion?« fragten die Arbeiter unter einander.

»Es ist ein Herr, den ich mitgebracht habe, ich stehe für ihn!« sprach der Arbeiter Hornberg laut.

»Ein Herr?« fragten die Arbeiter staunend.

»Ein Mensch, ich bin ein Mensch, wie Ihr!« rief Faust, »seit Jahren habe ich mich mit Eurem Elend beschäftigt, arme Brüder, seit Jahren auf Abhülfe gesonnen; hört mich, Euer Elend ist groß, riesengroß, ich kenne es genau und, bei Gott, ich wundere mich nicht, daß Ihr auf den Gedanken kommt, gewaltsam die Fessel des Elends zu sprengen; aber der Gedanke[143] ist thöricht, denn er hilft Euch nicht aus Eurem Jammer, sondern führt Euch nur in's Gefängniß –«

»Im Gefängniß verhungert man nicht,« warf der alte Mann, der schon einmal gesprochen, finster ein, »der König sorgt für die Diebe und Mörder besser, als für uns, die wir seine getreuen Unterthanen sind.«

»Der König,« rief Faust, »ist mächtig, lieben Brüder und weiß Vieles, aber allmächtig und allwissend kann er nicht sein, das eben wollte ich Euch sagen, dazu bin ich hergekommen. Der König soll es erfahren, wie es Euch geht; er soll unterrichtet werden von Eurem Elend und, ich weiß es, er wird Euch helfen. Ihr müßt zuerst ein Recht haben, in einem rechtlichen Verhältniß zu den reichen Fabrikherren stehen und darum sollt Ihr den König bitten, daß er Euch Schiedsgerichte giebt, halb aus Arbeitern, halb aus Fabrikherren zusammengesetzt; diese Gerichte sollen darüber wachen, daß Ihr Euren Lohn baar und pünktlich erhaltet, sie sollen gemeinschaftlich die Höhe des Lohnes, der sich nach der Höhe der Preise richten muß, bestimmen. Diese Schiedsgerichte werden Streitigkeiten zwischen Euch und Euren Herren schlichten und auf diese Weise werdet Ihr ein Recht erhalten, das Euren Zustand sichert. Ihr werdet dann vielleicht noch immer[144] arme Leute sein, aber Ihr werdet nicht verhungern und werdet Staatsbürger sein, so gut wie die Reichen, und nicht wie jetzt arme hungernde Sclaven! Glaubt Ihr nicht, lieben Leute, daß der König solchen billigen Wünschen ein geneigtes Ohr leihen werde?«

»Ja, Herr, ja der König ist gut!« riefen Einige, Andere aber sagten: »Der König ist wohl gut und er würde uns gewiß hören, wie aber zu ihm kommen? Wer von uns hat Geld genug, um nach Berlin zu reisen, so weit? Wer bringt uns zu ihm? Würden uns die vielen Soldaten zu ihm in sein Schloß lassen?«

»Freilich wohl nicht,« fuhr Faust fort, »wenn Ihr sämmtlich kämet, aber hört mich, ich bin schon in vielen Fabrikdörfern gewesen und habe mit den armen Arbeitern gesprochen, wie ich mit Euch gesprochen habe, Ihr sollt die letzten sein mit denen ich jetzt rede, denn ich habe genug. Zwanzig Eurer Brüder, Jeder aus einem andern Ort, haben sich entschlossen mit mir nach Berlin zu reisen; ich will Euch zum Könige bringen, er wird Euch hören und wird sicher Euer Elend berücksichtigen; gebt mir Einen von Euch, Einen der reden kann und das Herz auf dem rechten Flecke hat,[145] der mag mich begleiten, die Kosten der Reise will ich tragen.«

Stumm vor Erstaunen standen die elenden Menschen; Einer der Ihrigen sollte in den Königspallast treten und ihre Noth dem Herrscher selbst klagen! Der Gedanke machte sie schwindeln. Doctor Faust drängte, man entschloß sich nun, bestimmte endlich den Arbeiter Hornberg zum Deputirten und begann sich in Danksagungen gegen Faust zu erschöpfen.

»Ich brauche Euch nicht zu sagen, lieben Leute,« nahm der Doctor wieder das Wort, »daß ein tiefes Stillschweigen über unser Vorhaben beobachtet werden muß, redet also so wenig als möglich davon und Du, Freund Hornberg, kommst nächsten Mittwoch nach Elberfeld in den kleinen Gasthof vor der Stadt, wo Du mich zum ersten Male sah'st und fragst nach dem Doctor Faust. Ihr aber, guten Leute, damit Ihr nicht verhungert in der nächsten Zeit, sollt erfahren, daß ich nicht blos leere Worte mache, ich will Euch Geld geben, Ihr könnt mir's einmal wieder geben, wenn Ihr könnt, könnt Ihr's niemals, so ist's auch gut. Ihr, guter Alter, wie viel braucht Ihr wohl, um Euch für's Erste vor dem Hunger zu schützen?«

»Herr!« sagte der Alte, »ich verdiene täglich sechs[146] Pfennige, denn es will nicht mehr recht fort mit mir, meine Tochter, die ein kleines Kind hat, verdient eben so viel, damit kämen wir aus, wenn wir das Geld so bekämen, aber Sie werden wissen, daß man uns immer mit Waaren bezahlt und wir dann in Schulden gerathen, indeß, wenn wir zwei Thaler hätten, so könnten wir wohl den Winter durchkommen.«

Faust zog seine Börse und gab dem Alten zwei Thaler, dann fragte er, Reihe um, nach der Stärke der Familien der Männer und gab Jedem nach Verhältniß. Zweifelnd, staunend und fast erschrocken nahmen die Männer das Geld, zu danken vermochten sie nicht und lächelnd schickte sie Faust fort, indem er rief: »Jetzt geht, lieben Leute, hoffentlich sehen wir uns in einigen Wochen vergnügter wieder, laßt's Euch nicht merken, daß Ihr Geld habt, seid so fleißig, als wenn Ihr keins hättet, lebt wohl!«

Viele der Männer hatten Thränen im Auge, als sie die Hütte verließen.

»Freund Hornberg!« wendete sich Faust jetzt zu dem Arbeiter, »hier ist Geld für Euch, gebt's Eurer Frau, daß sie davon lebt während Eurer Abwesenheit, und Ihr Frau,« Faust trat an den Heerd und sprach ernst und laut, »laßt Euch nicht vom Teufel blenden,[147] verhungert lieber, als daß Ihr Euer Kind der Wollust eines reichen Schuftes verkauft, ich will für Euch sorgen, aber ich stoße Euch ins tiefste Elend, wenn ich je wieder von Euch dergleichen Dinge erfahre, lieber mit Ehren verhungert, als mit Schande schwelgend gelebt. Lebt wohl, Freund Hornberg, am Mittwoch erwarte ich Dich!«

Faust ging hinaus.

Wir wollen diese Facta allein für sich sprechen lassen – Mensdorf in's Elend gestürzt, weil er den Muth hat seine Tochter der Wollust seines »Herrn« zu verweigern; die Hornbergin durch Hunger dahin gebracht, ihre Tochter diesem »Herrn« zum Verkauf anzubieten – die absolute Nichtswürdigkeit des Buchhalters, neben der parfümirten, aber darum nicht geringern seines Principals – was sind in der Hand solcher Tirannen arme Fabrikarbeiter ohne Rechtsschutz? Liegt nicht eine Größe des Elends in dem Charakter der jungen Dirne, die sich dem »Herrn« Preis giebt, um Vater und Mutter und Geschwister vom Hungertode zu retten? –

Fußnoten

1 Sieben Pfennige täglich ist das Höchste, was ein westphälischer Spinner verdienen kann mit zwölfstündiger Arbeit.


Quelle:
Hesekiel, George: Faust und Don Juan. Aus den weitesten Kreisen unserer Gesellschaft, Teil 1, Altenburg 1846, S. 149.
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