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[78] New York, 26. Dezember 1899.


Gestern, lieber Freund, ward ich unterbrochen und musste meinen Brief schliessen, ohne Ihnen unsern ganzen Weihnachtsabend geschildert zu haben. Denn er war mit unserm kleinen Aufbau nicht zu Ende, sondern wir waren noch zur Bescherung im Hause unseres Konsuls eingeladen.

Mit allerhand Paketen beladen, fuhren wir auf der Hochbahn dorthin.[78]

Nach längerem, vergeblichen Klingeln öffnete uns der Konsul selbst die Haustür und entschuldigte sich, »der Sam sei wohl beim Tischdecken«. Dann führte er uns in sein kleines Arbeitszimmer, wo wir einige deutsche Herren trafen, darunter auch den Generalkonsul mit seinem herzerfreuenden, ansteckenden Lachen. Der Konsul ist vor einigen Monaten hierher ernannt worden, und seine Frau ist ihm erst vor ein paar Tagen aus ihrer Schwarzwaldheimat mit ihren zwei kleinen Kindern nachgereist. Es ist ein rührend deutscher Zug, dass sie sich, selbst kaum eingerichtet, zu diesem Abend gleich einige Landsleute eingeladen haben, die ihn sonst allein mit ihrem Heimweh verlebt hätten.

»Meine Frau baut auf,« sagte der Konsul. Da kam sie schon selbst herein, sehr jung, mit aschblonden Zöpfen um den Kopf gesteckt, erstaunten blauen Augen, das ganze Gesichtchen von der Arbeit gerötet. Auf dem Arm trug sie einen dicken, einjährigen Jungen, mit denselben erstaunten blauen Augen; und neben ihr trippelte ein kleines, dreijähriges Mädchen, das mit wichtiger Miene eine Klingel hielt.

»Es ist alles fertig,« rief sie, »Evchen, nun klingle mal schön.«

Und Evchen klingelte, und wir alle folgten in das Wohnzimmer, wo der Baum strahlte. Mit[79] Ketten, vergoldeten Nüssen, Äpfeln, Pfefferkuchen war er geschmückt – sicher genau nach dem Vorbild, das die Frau Konsul bei ihrer Grossmutter und Mutter in dem kleinen Schwarzwaldstädtchen gesehen hat. Es war sehr heimatlich. Man vergass dabei die hastende, neue Stadt da draussen und fühlte sich in eine alte Welt zurückversetzt, wo der Wechsel so langsam vor sich geht, dass sie eigentlich still zu stehen scheint.

Der kleine Junge wurde auf den Teppich gesetzt und ein zusammenlegbares, unzerreissbares Bilderbuch um ihn aufgestellt, und wir halfen der Frau Konsul die Kiste auspacken, die von ihrer Mutter gekommen war. Wie sorgfältig war alles gepackt, in Seidenpapier eingewickelt, mit blauen Bändchen jedes einzelne Paket gebunden und ein Zettel dran gesteckt, mit ein paar lieben Worten für den Empfänger in zittriger Handschrift darauf geschrieben. Lauter Dinge waren darin, die man in New York ganz ebenso bekommen kann. Recht unpraktisch und doch so rührend deutsch! Selbstgestrickte und gehäkelte Dinge für die Kinder, selbstgebackener Kuchen und Würste von dem für Weihnachten geschlachteten Schwein, und auf dem Grund der Kiste ein paar dicke wissenschaftliche Bücher für den Herrn Konsul und, in modernstem Rahmen, eine grosse Photographie von Böcklins[80] geigendem Mönch, dem die Engelchen lauschen. – Liebes altes Deutschland? Wäre doch Dein Raum so gross wie Dein Gemüt, dass all Deine fern verstreuten Kinder bei Dir Platz fänden! –

Evchen hatte sich den Böcklin andächtig betrachtet, nun lief sie ans Fenster und drückte sich das Näschen an den Scheiben platt.

»Was machst Du denn da,« fragte ich sie.

»Ich gucke, ob da draussen auch Engelchen herumfliegen,« antwortete sie und setzte dann hinzu: »nein, hier gibt's keine.«

Ich schaute mit dem Kind hinaus in die Strasse mit den vielen gleichmässigen Häusern, an deren einem Ende, ganz nah von uns, eine Station der Hochbahn war. Ein hellleuchtender Zug kam herangesaust, hielt einen Augenblick und brauste dann weiter.

»Der Eisenbahn gefällt es hier nicht,« sagte Evchen, »sie eilt sich so sehr her zu kommen und dann geht sie immer ganz schnell wieder fort.«

»Liebes Kind,« sagte der Konsul zu seiner Frau, »gibt es nicht bald was zu essen?«

Sie fuhr aus all den heimatlichen Paketen empor: »Aber ja, es muss alles schon fertig sein.«

Sie klingelte, aber Ursache und Wirkung folgten nicht aufeinander. Nun ging sie hinaus, kam aber bald mit bestürztem Gesicht zurück, trat an ihren[81] Mann und sagte leise: »Willst du nicht lieber mal mit ihm reden?«

Nun ging der Konsul hinaus, und bald hörten wir erregte Stimmen und darauf etwas Schweres, das die Treppe hinabpolterte. Der Konsul kam wieder herein, etwas aufgeregt und ausser Atem: »Meine Herrschaften, ich bitte sehr um Entschuldigung – ein kleiner amerikanischer Zwischenfall – der Neger Sam war schwer betrunken – ich fand ihn, mit dem Eidamer Käse Ball spielend. – Da habe ich die Rollen umgekehrt und mit ihm etwas Ball gespielt – und dabei ist er die Treppe hinab und auf die Strasse geflogen.«

»Und als ich vorhin draussen war,« erzählte die Frau Konsul mit kläglicher Stimme, »ass er die Austern auf und sagte mir, er nähme ja nur die schlechten, um uns vor Vergiftung zu bewahren.«

Der Generalkonsul lachte in seiner herzhaften Art, und wir alle stimmten mit ein. Und dann folgte das komischste Weihnachtssouper, das ich je mitgemacht, denn es stellte sich heraus, dass die irische Köchin dem schwarzen Sam nachgelaufen war. So gingen wir denn mit der Frau Konsul in die Küche, retteten, was zu retten war, trugen die Gerichte hinauf in das Speisezimmer und sprachen ausserdem tüchtig den Würsten zu, die wir aus der Weihnachtskiste ausgepackt hatten.[82] Als wir Abschied nahmen, sagte unsere Wirtin: »Sie müssen schon entschuldigen – es ist hier halt alles so anders, als daheim in Baden.«

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 78-83.
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