24

[120] New York, März 1900.


Heute früh brachte die Post einen Brief aus China für Ta. Ich gab ihn ihm. Nach kurzer Zeit kam er wieder zu mir und sagte mir mit einem Gesicht, hinter dessen orientalischem Gleichmut doch die Bestürzung zu lesen war, er bäte mich, ihn nach Hause zurückreisen zu lassen, seine Mutter verlange durchaus nach ihm. Ich konnte es nicht verstehen, denn wir schicken seiner Mutter jetzt regelmässig Geld, und sie ist eigentlich besser daran, als wenn Ta in Peking wäre. Er blieb aber dabei, der Brief sei so, dass er nicht länger zögern dürfe, er müsse durchaus nach Hause, wollte er nicht ein ganz schlechter Sohn sein. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Zum Glück kam der Provikar zum Frühstück zu uns. Ihm erzählte ich den Fall und bat ihn um Rat. Ta wurde hereingerufen. Sie verhandelten lange miteinander auf chinesisch, der Provikar las den Brief, dann wandte er sich an mich: Das ist nun gleich eine Bestätigung dessen, was ich Ihnen vor ein paar Tagen erzählte. Die chinesischen Konvertiten in und um Peking scheinen zu wissen, dass sich schlimme Dinge gegen sie vorbereiten. Tas Mutter, die wie so viele Christen in der Nähe des Petang lebt, fürchtet sich[120] offenbar sehr. Sie hat Drohungen gehört gegen die Christen, die Fremden und alle, die zu ihnen halten. Sie ist Witwe und wohnt allein mit ihren jüngeren Kindern und mit Tas Frau. Den Brief hat sie einem Schwager von Ta diktiert und auch dieser sagt, er solle möglichst rasch zurückkommen. Er fügt noch hinzu, dass Ta, da er Tatare und Bannermann sei, eigentlich gar nicht ausserhalb eines bestimmten Umkreises von Peking hinaus gedurft hätte. Es sei schon mehrmals nach ihm gefragt worden, sie hätten sich bisher immer herausgeredet, die Frager auch mit kleinen Geschenken beruhigt. Aber jetzt fingen Leute, die ihnen übel wollten, an, von Tas Abwesenheit zu reden; um deren Schweigen zu erkaufen, gehörten Summen, die sie nicht aufzubringen imstande seien. Würden sie aber denunziert, so würden sie eingekerkert, gemartert und um alles gebracht werden. Besonders in jetziger Zeit, wo sich Christen still verhalten und suchen müssten, möglichst unbemerkt zu bleiben.

»Und halten Sie die ganze Geschichte für wahr?« fragte ich den Provikar.

»O ja,« antwortete er. »Es ist alles daran so echt chinesisch. Nirgends wie in China hat jeder einzelne so viel Feinde, d.h. Leute, die auf ihn drücken, die etwas Schlimmes, das sie über ihn[121] wissen, ausnutzen, um ihn zu schröpfen. Es ist das Land der Denunziationen, der Erpressungen. Ein jeder hat da Angst vor einem Anderen Mächtigeren. Das geht durch alle Schichten. Geheime Gesellschaften, grosse Spionagesysteme ziehen sich wie Netze durch das ganze Land. Jetzt hat eine besondere Agitation gegen Christen begonnen, gegen alle, die mit den Fremden in Zusammenhang stehen. Als Vorspiel vielleicht für grössere Begebenheiten. Mich erinnert es alles sehr an die Zeiten vor den Tientsiner Fremdenmetzeleien im Jahre 1870.«

»Was raten Sie mir aber wegen Ta zu tun?«

»Ich fürchte, Sie müssen sich entschliessen, ihn nach Hause zu schicken. Er wird aus der Angst um seine Mutter nicht mehr herauskommen und sich nicht mehr beruhigen lassen, denn er hat offenbar das Gefühl, dass es seine Pflicht ist, zu ihr zurückzukehren. Wie sehr der Chinese seine Eltern verehrt, brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen – das steht sogar in den oberflächlichsten Reisebüchern. Ich habe durch jahrelange Erfahrung freilich meine Zweifel bekommen, ob die Verehrung an sich wirklich eine so sehr grosse ist; aber jeder Chinese wird den Schein wahren wollen, als sei er ein vortrefflicher Sohn, und wird dafür sogar grosse Opfer bringen. Ta geht offenbar sehr ungern[122] von Ihnen fort, er sagt, wenn er keine Mutter hätte, schnitte er sich den Zopf ab und bliebe immer bei Ihnen, und mehr kann kein Chinese sagen; aber er ist fest entschlossen, zurückzukehren. Sie hängen nun einmal alle so merkwürdig an gewissen Dingen, die ihnen zum Anstand als notwendig erscheinen. Ich habe chinesische Diener gekannt, die ungerechte, harte Herren durch Blattern- oder Typhuserkrankungen aufs treueste gepflegt haben – nicht etwa Gefühls und Mitleids halber, sondern des äussern Anstandes wegen – sie hätten nicht für treulose Diener gelten wollen. Dies selbe Gefühl zeigt sich uns ja täglich, wenn wir in China Gäste haben; da wird in unseren Häusern immer alles musterhaft gehen – darauf halten unsere chinesischen Diener um ihrer selbst willen, wo sie in Stellung sind, soll es nach aussen gut aussehen. Tas Wunsch, nach Hause zurückzukehren: ist meiner Ansicht nach viel mehr eine Frage des Scheins als der persönlichen Neigung. Ich wette, dem Gefühl nach bliebe er lieber bei Ihnen – obschon ich es nach dreissigjährigem Aufenthalt in China längst aufgegeben habe, Vermutungen anzustellen über die Gefühle der Chinesen. Sie sind eben die ewig Rätselhaften.«

Wir sprachen dann über Tas Rückreise und kamen überein, dass es zu grosse Schwierigkeiten[123] verursachen würde, ihn ganz allein über San Francisco nach Hause reisen zu lassen. Ich fühle mich doch auch verantwortlich für dies gelbe Menschenkind, das ich aus seiner Welt herausgerissen habe. Schliesslich bot uns der Provikar Hofer an, Ta mit sich zu nehmen nach Europa und von da zurück nach China. In wenigen Tagen reist er. Ta selbst ist offenbar traurig darüber, scheint aber andererseits befriedigt, einen hohen geistlichen Herrn zu begleiten, der ihm als Geschäftsreisender der Kirche doch noch viel mehr imponiert, als mein Bruder, der im Dienst einer simplen irdischen Firma steht! – Aber mir ist seitdem ganz weh ums Herz.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 120-124.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Briefe, die ihn nicht erreichten
Briefe, Die Ihn Nicht Erreichten
Der Tag anderer. Von der Verfasserin der, Briefe, die ihn nicht erreichten