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[135] Berlin, Mai 1900.


Mehr als ein Monat ist verstrichen, ohne dass ich Ihnen geschrieben habe. Ich bin während dem über den Atlantischen Ozean gefahren, stehe auf demselben Festland wie Sie – aber doch welch unabsehbare Ferne zwischen uns – und Sie wissen noch nichts von dem, was sich in dieser Zeit ereignet hat. Warum habe ich Ihnen so lange nicht geschrieben? Ich könnte sagen, dass es mir an Zeit gefehlt. Das wäre aber nicht wahr. Ein dunkles Gefühl hat mich davon zurückgehalten, das ich mir selbst kaum zu erklären vermag. Eine Scheu. Eine letzte Loyalität, die Schweigen heisst. Ihnen konnte ich auch keine banalen Phrasen schreiben, wie ich deren so viele in diesen letzten Wochen gehört und selbst gebraucht. Denn es gibt Anlässe, wo man sich unwillkürlich ins Banale rettet, weil es eine Hülle ist, eine breite wohl ausgetretene Strasse, an deren Richtigkeit von andern nie gezweifelt wird. Man bleibt damit dicht an der gehärteten Oberfläche des eigenen Wesens, enthüllt nichts, was zum innern Ich gehört. Um aber zu den eigentlichen wahren Empfindungen zu gelangen, muss man in die Tiefen des Herzens greifen, und[135] davor graut uns, wissen wir doch nie, was wir in ihnen finden werden.

Es ist alles so plötzlich gekommen. Das Ende scheint uns ja immer plötzlich. Ich musste mich erst selbst zurechtfinden, ehe ich Ihnen schreiben konnte.

Er, von dem wir nie gesprochen, ist gestorben. – Wir erhielten in New York ein Telegramm, dass er, dessen Namen ich trage, schwer erkrankt sei. In der Anstalt, in der er sich seit Jahren befand, war eine Feuersbrunst ausgebrochen. Er war zwar gerettet worden, aber infolge der nervösen Erschütterung trat eine schwere akute Gehirnerkrankung ein. Mein Bruder erbat sich telegraphisch Urlaub von seinem Geschäftshause, und wir reisten mit dem nächsten Schiff von New York ab. Als wir eintrafen war alles vorüber. Wir fanden nur ein frisches Grab. Ich ängstigte mich so sehr vor diesem Augenblick, wusste nicht, was er mir innerlich an Unerwartetem bringen würde, denn für das alltägliche Leben und seine kleinen Vorkommnisse glauben wir uns zu kennen, aber bei plötzlichen Gelegenheiten sind wir uns selbst immer wieder Überraschungen. – Als wir zum Grabe gingen, hielt ich mich zuerst fest am Arm meines Bruders, wie um Schutz zu suchen vor Unbekanntem, und dann allmählich liess die Spannung der Nerven nachnichts[136] Unbekanntes, nichts Neues erschien – nichts war verändert. Ich ward mir plötzlich bewusst, dass ich ganz ruhig war.

Was habe ich eigentlich empfunden?

Sein Leben war seit Jahren so entsetzlich, dass sein Tod niemandem so erscheinen konnte. Ist doch vielleicht auch bei anderen Wesen, die nicht wie er die Grenze überschritten haben, die wir Vernunft nennen, das Leben der Jammer, nicht der Tod. Wir schätzen es nur so falsch weil wir durch Generationen hindurch dazu erzogen sind. Wie sollten auch Leute regiert, wie sollten Leute zu Gott geführt werden, qui feraient franchement fi de la vie? Gott? Auch dieses eine spezielle Leben soll er gegeben haben, und es war ihm vermutlich doch auch so viel wert wie die Spatzen, die er nicht vom Dache fallen lässt. Und doch ist dies Leben verkommen, der Geist hat sich hoffnungslos umnachtet. Einer Kette mit bleierner Kugel gleich, hat sich die eine Existenz hemmend und lähmend an eine andere gehängt. Diesem anderen Wesen war die Fähigkeit verliehen, den vollen Schmerz, die ganze Entwürdigung dieser Last bis in seine innersten Fasern zu fühlen; Hoffen, Streben, Sehnen waren ihm gegeben, und nichts hat sich erfüllt von all den Möglichkeiten, die ihm vorschwebten. Nachdem dann das eine Leben wie eine stumpfe, träge Masse[137] jahrelang hingebrütet und das andere sich mit dem entsetzlichen Bewusstsein eigener Vergeudetheit und Zwecklosigkeit Jahre um Jahre müde hingeschleppt hatte, da hat eine rohe Katastrophe das plumpe Ende gebracht. Nichts ist aufgeklärt, nichts versöhnt. Man steht vor den unvernünftigen Tatsachen. Wozu das Ganze? Vorsehung? Nein, der Begriff erklärt mir nichts. In der Vorstellung einer weltenschaffenden, weltenlenkenden Gewalt, die trotz ihrer Allmacht aus ein paar einfachen Menschengeschicken ein so hoffnungsloses Wirrsal werden lässt, in der Vorstellung liegt eine solche Grausamkeit und Willkür, dass man sie immer anrufen möchte: »So verantworte dich doch, verantworte dich!« – Während all der letzten Jahre habe ich immer gesucht, diese Gedanken niederzuhalten, habe gekämpft, die Bitterkeit zu überwinden – und wie schwer war es doch oft! Besonders wenn es Frühling wurde, Frühling für andere und sie es so selbstverständlich fanden, glücklich zu sein – und man selbst war so allein, wie eine Art Zufallserscheinung, für die sich kein Platz findet im weiten Weltenplane. Wir finden uns ja leicht ab mit der grossen Verschwendung, die in jeder Sekunde die Natur mit Millionen treibt, die alle des Daseins Möglichkeiten in sich trugen und doch ungelebt zurückschwinden müssen[138] in das Unbekannte, aus dem sie hoffend aufgestiegen. Denn nichts lernt unsere Weisheit leichter einsehen, als die Unabänderlichkeit der Leiden anderer. – Aber, wenn es uns selbst trifft, wenn die Unabänderlichkeit gerade uns fasst, alles das in uns knickt, was werden möchte, wenn jeder Tag mit neuem Hoffen und Warten beginnt und doch nie anderes bringt, als dieselbe Enttäuschung, denselben müden Abend – dann erst erkennen wir die Ungeheuerlichkeit des Weltenleids, weil es unser Leid ist. Ach, das gläubige Hoffen junger Jahre, das allmählich zu zweifelndem Warten wird! Wenn uns zuerst im Leben Unglück und Unrecht betreffen, denken wir, dass sie nur ein vorübergehender Irrtum sind – etwas wie ein Rechenfehler – der gleich korrigiert und richtig gestellt werden wird. Alles in uns selbst erscheint uns so wichtig, so sehr der Entfaltung wert, dass wir den Gedanken unerträglich finden, irgend etwas unserer kostbaren Gaben könne unentwickelt, ungenutzt verkümmern und zugrunde gehen. – Samenstäubchen? – ja, für die ist es unabänderliches Weltengesetz. Aber wir?

Doch es mehren sich täglich die Erfahrungen, sie wachsen zu langer Kette, und blicken wir zurück, so sehen wir, wie Vieles schon in uns gestorben, noch ehe es leben durfte, verkümmerte Talente, schaffensfreudiges Wollen, Sehnsucht zu[139] lieben, Anlagen und Interessen – alles umsonst in uns gelegt, es sollte sich ja nie entfalten dürfen – war schon im voraus verdammt. Denn viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählt. Mählich wächst dann die Erkenntnis, gegen die wir uns zuerst noch sträubten, von der wir im Innersten längst wissen, dass sie recht hat – auch wir gehören zu den Verschwendeten, zu den Millionen, deren Erscheinen ganz zwecklos war. Überproduktion. Schaum, der über den Rand des Bechers fliesst. Wer das vom eigenen Leben erkannt hat, den fröstelt es in Mark und Blut. Wozu überhaupt noch weiter? An Stelle all des Gewollten tritt ein einzig grosses Sehnen, wie die welken Blätter müde niederzusinken und unter weissschimmernder Winterdecke aufzugehen im feuchtbraunen Boden, Nahrung werden für die ewig verschwendende Erde – dazu vielleicht taugen auch wir.

Wie oft habe ich all das während der letzten Jahre gedacht und darum gekämpft, ruhig und still zu werden. Denn Bitterkeit und Empörung zu Wehmut und Mitleid wandeln – das ist des Lebens Aufgabe, die wir lösen müssen, wollen wir nicht in Verzweiflung enden.

Nun stand ich an einem Grab. Auch ein armer, verschwendeter Mensch, der da unten ruht.[140] Hat mir nichts Übles gewollt – liebte mich sogar einstmals auf seine Art – es kursiert ja so viel Verschiedenes unter diesem Namen. Hat mir nichts Übles gewollt – hat nur mein ganzes Leben vernichtet – hat dazu gerade lange genug leben müssen – in allem anderen auch nur ein armes, zweckloses Dasein. Niemand kann darauf Antwort geben: warum musste er sein und selbst so viel leiden und so viel Leiden verursachen? Sicher hat auch er einst die grosse Empörung und Bitterkeit; empfunden, als er zuerst des Unheils Nahen fühlte, nicht mehr denken konnte wie er wollte, seltsame Handlungen beging, deren Motive ihm nachher verschwunden waren. Sicherlich hat auch er sich aufgelehnt und gekämpft gegen das Unverständliche, Stärkere; hat sich doch schliesslich auch in sein Schicksal fügen müssen, denn das Schicksal ist immer stärker als unser kleiner Verstand und Wille – auch wenn Schicksal Wahnsinn heisst. »Die entsetzlichen Tobsuchtanfälle,« erzählte uns sein Wärter, »hatten vor der Feuersbrunst, während seiner letzten Lebenszeiten, mehr und mehr abgenommen; es war, als sinke er allmählich in völlige Stumpfheit; wir erleben das an vielen Kranken; es ist dann schliesslich ganz leicht, mit ihnen fertig zu werden.«

Und ich dachte, ja, zuerst Auflehnung, dann[141] stumpf und mürbe werden, das ist so Menschenlos. Der eine findet es hier in einer engen Irrenzelle, der andere draussen in der weiten Narrenwelt.

»Gottlob, nun hat er ausgelitten, nun ruht der arme Herr,« sagte der Wärter.

Ich schaute ihn erstaunt an. Der Mann sieht Jahr aus Jahr ein solche Schicksale vor sich und kann noch Gott loben!

Vielleicht aber hatte er recht. Leiden ist das Übel, Tod nur Ende und Erlösung.

Immer stiller ward es in mir. Ich war so völlig ruhig, dass es mich selbst erstaunte. Und konnte doch eigentlich nicht anders sein. Die Verzweiflung meines Lebens, die Anklagen gegen das Schicksal liegen weit zurück in vergangenen Jahren. Als es niemand noch wusste, als ich für eine glückliche Frau galt – das war meine härteste Zeit. Damals lehnte ich mich innerlich auf. Unerträglich war das Gefühl eigener Zwecklosigkeit, unerträglich der Jammer um mein junges Leben, das mir noch so unabsehbar lang vorkam. Jetzt scheint mir das alles überwunden. In mir ist schon lange eine grosse Stille – ich gleiche einem jener ausgestorbenen Häuser, wie die Resignation sie gern bewohnt. Dies Grab ändert nichts mehr. Ohne neue Trauer stand ich daran. Dem Schicksal sei's gedankt, dass von dem Grab keine Anklage sich gegen[142] mich erheben kann, dem Schicksal sei es auch gedankt, dass in mir selbst die Bitterkeit längst schweigt.

Wehmut und Mitleid allein sind geblieben.

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 135-143.
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