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[20] Vancouver, August 1899.


Meine grosse Freude hier in Vancouver ist es, endlich einmal wieder lange Spaziergänge im Schatten schöner Bäume machen zu können. Wer, wie ich, in einem Waldland aufgewachsen, sehnt sich immer danach zurück. Bäume sind mir wie lebende Wesen und jeder hat seine eigene Physiognomie, seinen Ausdruck, den er, wie wir Menschen auch, durch besondere Erfahrungen und Erlebnisse allmählich gewonnen hat. Ich begreife so gut, dass die alten Germanen sich die Bäume als Sitz besonderer Gottheiten dachten, und schon als Kind hatte ich einen wahren Abscheu vor Sankt Bonifatius, der den heiligen Baum fällte.

Sie erinnern sich gewiss noch, wie oft ich Ihnen von meiner Sehnsucht nach schattigen[20] Waldespfaden sprach, wenn wir zusammen nach der Hitze des Tages auf die Pekinger Stadtmauer stiegen und auf diesem einzigen reinlichen Weg der chinesischen Kaiserstadt auf und ab gingen. Die Stadt lag tief unter uns, all die einstöckigen Häuser eintönig grau mit aufwärts geschweiften Dächern, auf deren Kanten Reihen kleiner Steinhunde sitzen. In die Höfe der nächstgelegenen Häuser konnten wir von oben hinein schauen und was wir sahen, waren immer dieselben uns unverständlichen Wesen, die dasselbe Dasein führten, das seit Jahrtausenden ihnen ähnliche Wesen genau ebenso geführt haben. In den Strassen war immer dasselbe Gewühl zahlloser Menschen, die unseren Augen so rätselhaft in ihrer Gleichheit und Einförmigkeit erschienen, deren elfenbeinerne Stirnen wie geschlossene Tore waren, von Welten, in die wir nie eindringen werden. Jahr aus, Jahr ein zog dies Gewühl von Menschen durch die Strassen, die monatelang voll dicken, schwarzen, klebrigen Schlamms lagen, und die übrige Zeit des Jahres in dichten, grauen Staubwolken verschwanden. Und niemand rührte die Hand, etwas zu ändern, etwas zu verschönern. Denn es war ja von jeher so gewesen; niemand hatte es je anders und besser gekannt; niemanden störte es – vor allem niemanden von denen, die hinter den roten Mauern, unter den[21] goldig schimmernden Dächern der Kaiserpaläste ein noch geheimnisvolleres, noch rätselhafteres Dasein als all die anderen führten.

Erinnern Sie sich, wie oft wir dort oben auf der Mauer standen und hinüberschauten auf die verbotene Stadt mit ihren verfallenden Mauern? Stets hatte ich das Gefühl, als läge ein Alp auf der Stadt, wie der Schatten kommenden Unheils! Mit welcher Sehnsucht habe ich von dort oben weit hinaus geschaut, über die unendliche Ebene und dabei anderer Länder gedacht, wo uns nicht alles unverständlich ist, wo die Menschen sich grüssen, freuen und küssen, sprechen, lachen und trauern wie wir. Am Vorabend meiner Abreise haben wir noch einmal dort oben zusammen gestanden, und Sie wiederholten die Worte, die Sie in den letzten Wochen so oft gesagt hatten: »Ja, Sie müssen fort von hier – es ist besser so.«

Als wir dann nach Hause gingen über die Kanalbrücke und an dem kleinen Tempel vorbeikamen, in dessen Hof ein Kuriositätenhändler seinen kleinen Laden alter Vasen und seltsamen Gerümpels eröffnet hatte, da sagten Sie mir: »Ihr nächster Spaziergang wird Sie unter alte schattige Bäume führen, wie Sie es sich hier so oft gewünscht haben.«

Sie schienen so traurig, als Sie das sagten,[22] lieber Freund, und doch haben Sie uns selbst zur Abreise gedrängt und sie beeilt – warum?

Und jetzt bin ich in einem Lande schattiger, grüner Bäume und täglich seit wir hier sind, gehe ich stundenlang tief in den Wald hinein. Das Schönste hier ist der Viktoria-Park, mit seinen uralten Bäumen und den herrlichen Blicken auf die See, vor allem mit seiner Ruhe, seinem Schweigen und Frieden. Wie würde ein Böcklin diesen Wald geniessen, der dem unberührten Naturzustand noch so nahe scheint, dass man sich gar nicht wundern würde, über das dicke, weiche Moos Faune und Einhorne schreiten zu sehen.

Gestern bin ich besonders lange im Park gewesen. Ich ging träumend immer weiter, bis ich an sein äusserstes Ende kam, wo er zur schmalsten Stelle einer Meerenge führt. Das felsige Ufer fällt dort steil ab, und tief unten strömt das Wasser reissend vorbei. Ich setzte mich nieder zwischen Farnen und allerhand Ranken und schaute in die Tiefe auf die Meeresstrasse, durch die alle Schiffe fahren, die vom fernen Osten nach Vancouver kommen. Und ich träumte, wie hübsch es sein müsste, hier irgendwo ein waldverborgenes Häuschen zu besitzen; dann würde ich alle Tage bis zu dieser äussersten Spitze gehen, setzte mich dort unter die alten Bäume und schaute aus, ob Schiffe[23] aus Far-away Cathay kommen. Und an einem Tage würde endlich ein Schiff kommen, auf dem ständen Sie, und ich würde Ihnen von meinem Felsen aus einen grossen Strauss frischer Waldblumen herabwerfen.

Denn nicht wahr, Sie bleiben doch nur gerade so lange in China, als es durchaus nötig ist? Ich mache ja schon so viel schöne Pläne für die Zeit, wo wir uns wiedersehen werden. Wann, wo wird das sein?

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Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 20-24.
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