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[251] Bay View, 13. August 1900.


Heute Nacht, liebster Freund, wachte ich auf und bildete mir ein, wieder in Peking zu sein. Ich muss im Schlaf ein Geräusch gehört haben, das sich in meinen Träumen zu dem Aufeinanderschlagen zweier Bambusstäbchen verwandelte, womit die[251] chinesischen Nachtwächter ihre nächtlichen Runden begleiten. Wie oft habe ich diesem leisen, dann lauter werdenden, dann wieder verhallenden tak, tak, tak, gelauscht. In heissen Mitsommernächten, wenn die Moskitos gegen die Netze schwirrten und die ganze Erde die Hitze auszuströmen schien, die sie tags über eingesogen hatte, da hörte ich, wie eine dumpfe monotone Begleitung all meiner nächtlich wirren Gedanken diesen gleichmässigen Klang. Und in kalten Winternächten in Peking, wenn der Schnee die grosse, graue Stadt, die hohen Mauern und die weite Ebene draussen bedeckte, und die ganze lebende Welt in tiefer Stille untergegangen schien – da tönte es in der grossen Ruhe wie letztes, alles überdauerndes Leitmotiv: tak, tak, tak – Freud, Leid, Tod – Freud, Leid, Tod!

Besonders erinnere ich mich einiger Frühlingsnächte, da ich in Peking schwer krank lag und des Lebens Funken wie ein schwaches Irrlicht unstet zwischen mir und dem grossen grauen Nichts da draussen hin und her sprang, nicht wissend, ob es gehen oder bleiben solle. Die Fenster standen weit offen; aus dem Hof drang der Duft des weissen Flieders herein; von meinem Bette aus sah ich in den sternbesäeten Himmel. Ein grosses Gefühl unendlicher Schwäche überkam mich und doch seliger Befreiung – es war mir als schwebe ich gerade[252] hinein in das tiefe Nachtblau, wo die Sterne winkten – und dazu klang es von der fern unter mir verschwindenden Erde wie leise Schicksalsworte: Freud, Leid, Tod – Freud, Leid, Tod!

Heute Nacht hier in anderem fremden Lande habe ich im Traum wieder den altgewohnten Ton vernommen. Er zittert mir im Herzen weiter, aber ich höre nur immerwährend das eine Wort: tot, tot, tot! Und eine namenlose, unbeschreibliche Angst hat mich erfasst, ein brennender Wunsch dorthin zu eilen, eine wahre Verzweiflung, hier still sitzen zu müssen. Ich möchte helfen und retten, und dann klingt es immer wieder: tot, tot, tot!

Es ist wie eine quälende, verzehrende Sehnsucht, Sehnsucht nach Ihnen, liebster Freund, Sehnen, Sorgen um Sie. Mir ist, als müsste ich Ihnen grad heute noch tausend und abertausend Liebes sagen, Sie schützen und nicht von mir lassen. Warum nur heute gerade dies Bangen und Zittern, dies Grauen, das mir keine Sekunde Ruhe lässt, das mich vom Haus an den Strand, vom Strand wieder ins Haus treibt, das nicht weichen will, wie sonst nächtliche Spukgestalten, die aus den Träumen ins Wachen übergehen, sondern ein Grauen, das wächst und wächst, auch jetzt während ich Ihnen schreibe. Warum das heute, wo die[253] Retter Ihnen doch schon ganz nahe sein müssen? – Und dazu immer der leise Klang, wie ich ihn schon nachts im Traum vernahm: tak, tak, tak. Er verfolgt mich förmlich. Ich will nicht und muss ihn doch beständig hören. Ich halte mir die Ohren zu, da vernehm ich das Pulsieren des eigenen Blutes, tak, tak, tak. Wie Glockenläuten dröhnt es, wie beständiges, regelmässiges Schiessen klingt es tak, tak, tak. – Was will es mir nur sagen? Ich lausche und lausche. Jetzt ist es ganz leise geworden ... Wie aus weiter Ferne, wie letztes versagendes Herzklopfen dringt es zu mir .. tot, tot, tot ...

Was soll das? Was soll es?

O die Angst! Das Grauen!

Quelle:
Elisabeth von Heyking: Briefe, die ihn nicht erreichten, Berlin 521903, S. 251-254.
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