3.

[191] Schläfst du? Es ist schon Tag. – Ist's wirklich Tag?

Mich dünkt, die Nacht ist eben angebrochen.

Mein Ohr ist taub dem frühen Stundenschlag.

Es lauscht, wie es getan seit so viel Wochen,

Ob noch das Stimmchen uns nicht rufen will,

Das Fingerchen an unsre Türe pochen.

Rief es nicht da? Nein; alles totenstill,

Und nur der Gram, der über Nacht geruht,

Schreit plötzlich auf mit Stöhnen, bang und schrill.

Ist's möglich? Nie mehr wird es uns so gut,

Durch unsres Kindes Weckruf zu erwachen?

O wie das wehe, wie das wehe tut!

Nie mehr zu hören, wie mit leisem Lachen

Im Zwielicht etwas tappt an unser Bette

Bis uns gefällt, die Augen aufzumachen,

Und dann, nie rastend an derselben Stätte,

Sich in die Decke wickelt und versteckt,

Als ob die Schnecke nun ihr Häuschen hätte;

Bald neben uns sich wie zum Schlafen streckt,

Und wenn es eben mäuschenstille lag,

Mit neuer Schelmerei uns jauchzend neckt.

Das soll nie wiederkommen, und den Tag,

Den sonnenlosen, soll man überleben,

Wo man erwacht ist ohne Lerchenschlag?

Wohl! ins Notwend'ge gilt's sich zu ergeben;

Wir werden's, du und ich. Doch keine Hand

Wird je von unserm Tag den Schleier heben,

Bis aus des Lebens Grund emporgesandt

Ein neues Glück uns anlacht, als ein Bote

Der Hoffnung, die so frühe schon entschwand,

Ein kurzer Traum im Lebensmorgenrote.

Quelle:
Paul Heyse: Gesammelte Werke, 3 Reihen in 15 Bänden, Reihe 1, Band 5, Stuttgart 1924, S. 191.
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