Fünfter Akt

[168] Die Dekoration (große Stube) des zweiten Aktes. Grauender Morgen. Anna aus ihrer Kammer, in Strümpfen, die Zöpfe herabhängend. Sie horcht nach oben, ringt die Hände.


ANNA.

Es trieb ihn auf und ab in seiner Kammer

Die ganze Nacht. Mir wars, er sprach vor sich.

Ich stand und lag und stand und horchte hin.

Das ist mein Hochzeitsmorgen. Weh, ich Arme!


Am Fenster rückwärts.


Ob er nun ruht? Knarrt da nicht seine Tür?

Er kommt herunter. Unter seinem Tritt

Stöhnt jede Stufe leise wie mein Herz.

Wie anders war es sonst, wenn ich ihn hörte.

Und doch, daß ich ihn doch noch hören kann!

Ich muß hinein. Käm er, wie säh ich aus!


Schlüpft in ihre Kammer, läßt die Tür angelehnt.

Elis macht die Eingangstür auf, tritt herein, wirft einen langen Blick, wie abschiednehmend, umher.


ANNA aus ihrer Tür.

Ich trags nicht! Elis, sprich zu mir!

ELIS einen fremden Glanz in den Augen.

Ich geh nun.

Ich muß nun gehen. Zeit ist da. Starr nicht

So voller Graun auf mich. Denn ich bin fröhlich.

Hast du die Nacht geachtet, wie da alles

So voller Geheimnis war? Der Wind kam her,

Rührte mich an und wich wieder zurück,

Verneigend sich vor mir, weil ich ein Wunder.

Die Sterne wußtens auch. Der Berg erbebte.

Da wußte ich: nun ist die Zeit erfüllt,

Und alle Zeichen zogen noch einmal

Durch meinen Sinn: Der Vater mußt hinab,

Die Mutter mußte fort sein, da ich kam,[168]

Damit auf meinen Lippen ein Geschmack

Vom Tode säße so bei Tag wie Nacht,

Und Seeluft mir zum Ekel würd und Landluft.

Dann mußt ich einsam sitzen an dem Strand

In meinem Elend: da glitt ich hinab

Und durfte sie anschaun zum erstenmal.

Doch mußt ich noch herauf für eine Frist.

Und Botschaft über Botschaft sandte mir

Die Liebste, zu der ich nun eingehn soll.

Der tote Mann stand auf zu meinem Dienst,

Hinflog der Stern und wies mir meinen Pfad,

Ich fand den Tisch bereitet und das Bette,

Ich fuhr in Berg, der Berg gehorchte mir,

Ich wuchs und wuchs und diente meine Frist,

Bis daß der Alte herkam seines Weges,

Der mächtige, und seinen letzten Atem

Auf mich hinhauchte, mich, den Unbelehrten,

Und ich begriff, wie eins das andre zwingt.

Und nun die Zeit erfüllt, die sie mir setzte,

Die Botschaft über Botschaft mir gesandt ...

ANNA.

Er spricht zu mir und weiß nicht, daß ichs bin.

ELIS.

Ich hab dich nicht vergessen: auch in dir

Ward mir ein Zeichen übern Weg gesandt.

Mein Herz war noch nicht leer von irdischer Sehnsucht,

Noch sog ein Etwas dumpf an dieser Welt:

Sie weiß dies alles wohl, ein wundertätiger Spiegel

Verrät ihr, was im Herzen heimlich ruht.

Da mußtest du hier stehn, als ich hereintrat,

Anfassen mußt ich dich und alle Sehnsucht

Und alle dumpfen unbewußten Wünsche

Ausschütten hier auf dich. Wir mußten spielen

Das süße, das verworrne Spiel. So tief

Mußt eins ins andre sich verstricken, atmend

Bald nicht mehr wissen, welches atmete,

Eins in des andern Duft und Hauch verfangen.

Wie arm war ich vorher: da ward ich reich![169]

Denn mein ward deine Lust und auch dein Schmerz

Und alle Höhn und Tiefen.


Anna sinkt in sich zusammen, vor seine Füße hin.


ELIS.

Sinkst du mir

An mir herab? So bist du auch ein Stern,

Der lieblichste, lebendigste, der letzte,

Der fallen mußte, meinem Pfad zu leuchten.

Denn eine Sehnsucht über alle Sehnsucht

Nach dir hat ausgeglüht aus meinem Innern

Jedwedes unbefangne dumpfe Trachten.

Das Aug, die Lippen wurden noch einmal

Verführt, sich an ein Etwas anzuklammern:

Der letzte Erdentraum nahm noch Gestalt,

Allein des Wunsches angespannte Sehne

Zerriß, sobald das Ziel getroffen war,

Und wie ein leerer finstrer Mantel sank

Die liebliche Gestalt im Dunkel hin:

Ich hatte dich, da warst du nicht mehr viel.

Wie dich, so schüttle ich die ganze Welt

Von meinem Fuß, und bin schon nicht mehr hier!

In meinem Ohr erklingt ein süßer Ton,

Der heißt: Komm bald! So komm ich denn, und bald!

Denn was ist ihr, vor der die Zeiten knien,

Die Frist, die ich mich unstet hier verweilte.


Er geht fort.

Es ist nun heller Tag.


Anna steht auf und schleppt sich in ihre Kammer. Gleich darauf kommen zwei Mägde und klopfen an Annas Tür.


ERSTE MAGD an der Tür.

Jungfer, seid Ihr schon auf?

ANNAS STIMME.

Komm nur herein.


Erste Magd geht hinein.

Zweite Magd wartet vor der Tür.


ERSTE tritt wieder heraus.

Sie will ihr Kleid. Sie sieht so seltsam aus,

Als hätt sie keinen Tropfen Blut. Komm jetzt.

Wir müssen zu der alten Frau, die hat

Den Schlüssel.[170]

ZWEITE.

Welchen Schlüssel?

ERSTE.

Den zum Schrank,

In dem das Kleid ist.

ZWEITE.

Trine, dann will ich

Auch mit hineingehn und ihr anziehn helfen.

Du!


Zeigt der andern die Großmutter, die, lautlos erschienen, in der kleinen Tür links steht.


ERSTE.

Frau, die Jungfer will ihr Hochzeitskleid!

GROSSMUTTER tritt an Annas Tür.

Anna, tritt her zu mir.


Horcht.


»Großmutter«, sagt sie,

»Großmutter, sprich jetzt nicht mit mir.«


Horcht abermals.


»Schick mir

Mein Kleid nur her, ich will mich jetzt anziehn.«


Richtet sich auf, gibt der Magd einen Schlüssel aus ihrem Schlüsselbund. Die Mägde gehen.


GROSSMUTTER steht vor Annas Tür.

Wär eines jünger, nun vermöcht es nicht

Zu schweigen. Ich vermags und steh und warte.

Und wie die Toten heut in mir sich rühren!

Mein erster Sohn hebt seinen Kinderkopf

Auf aus dem stillen Bach, drin er ertrank:

Den zog ein Wasser mit gelassner Unschuld

In seinen frühen Tod, er war verträumt,

Da winkte ihn sein eigner Traum hinab.

Und über die da drinnen kommt es nun:

Sie ging so unbefangen hin, es trieb sie

Von Busch zu Busch dem Vogelsingen nach:

Es war kein Wünschen, süßer wars als Sehnsucht,

Des unberührten Herzens dumpfes Trachten,

Sich früh und rein und maßlos hinzugeben.

Da sog sie sich aus wolkenloser Luft,

Sehnsüchtig schuldlos Zauberkreise atmend,

Ein blaues Feuer nieder, das sie schnell verzehrt.

Wird jedem das, worauf sein Trachten geht.

Mir graut nicht mehr: dazu bin ich zu alt,

Durchsichtig wird mir alles wie ein Glas.[171]

DAHLSJÖ kommt aus der kleinen Tür links.

Mutter, ich such dich schon, wo ist die Anna?

Sie schien mir gestern abend so verstört.

Ist doch nichts zwischen den beiden, Mutter?

KNECHT ruft durchs Fenster herein.

Herr, treten Gäst ins Haus und Anverwandte.

DAHLSJÖ.

Ich komm, ich komm. Sorg du um Pferd und Wagen.

ANNA tritt aus ihrer Tür, angetan mit dem fremdartigen Kleid.

Geh, Vater, nur. Geh nur die Leut empfangen.

Wir warten hier.

DAHLSJÖ zärtlich.

Nichts mehr zu sagen?

ANNA.

Nein.

DAHLSJÖ geht.

ANNA.

Großmutter, was siehst du so her auf mich?

Spürst du an mir was Fremdes? 's macht das Kleid.

Wie schön es ist! Was schön ist, hab ich immer

Recht liebgehabt. Den Wald! die Regenbogen!

Wie ich ein Kind war, einmal, war ein Jahr,

Da waren gar so viele und so nah,

Ich glaubte, daß sie aus dem Garten wüchsen.

Großmutter, acht nicht so auf meine Stimme,

Tu nicht die Lippen auf, jetzt ist nicht Zeit.

Fehlt noch etwas an mir? Ach ja, der Kranz.

Da muß ich vor den Spiegel, das gehört sich.


Geht in ihre Kammer.


DAHLSJÖ durch die Eingangstür.

Wo ist die Anna? Alle sind schon da.

Soll ich den Elis rufen?

GROSSMUTTER lehnt, wachsbleich, an der Tür links.

Ruf nicht, ruf nicht!

DAHLSJÖ.

Anna! die Gäste.

ANNA tritt heraus, einen schönen Kranz im Haar.

Ich bin fertig, Vater.


Durch die Eingangstür und durch die Tür links treten die Gäste ein: ernste Männer, stattliche Frauen, Mädchen, junge Männer,[172] Kinder, füllen die

ganze rechte Seite der Bühne mit steifer Feierlichkeit. Ganz vorne sind Rigitze und ein kleiner Knabe, ihr Bruder, beide mit Blumensträußen.

Dahlsjö gibt Anna die Hand. Sie verneigt sich.


DIE GÄSTE flüstern.

Die Braut! die schöne Braut!

ANNA zu Dahlsjö.

Ei ja, die Fraun mit ihren Männern alle.

Siehst du, die haben eins das andre immer

Bei Tag und Nacht, bis in den Tod. Nicht, Vater?

Sie tuen sich auch Leid an, aber doch:

Es ist gar nicht das Leid, es ist noch Leben,

Das fürchterliche Andre ist es nicht,

Das, was mit einemmal alles verzehrt.

DAHLSJÖ.

Willst du nicht hingehn und mit ihnen reden?

ANNA tritt vor, Dahlsjö dicht hinter ihr. Anna kniet bei den beiden Kindern nieder.

Ihr da? Rigitze und dein kleiner Bruder!

Ihr bringt mir Blumen! Habt ihr mich denn lieb?


Sie schiebt die Kinder heftig von sich weg und steht auf.


Ich mag die Kinder nicht. Ich mag die Blumen nicht.

Ich kann nichts mehr gernhaben in der Welt.

Er hat mich ganz vernichtet.


Tritt taumelnd nach links.


DIE BERGLEUTE draußen im Garten, fangen hier an zu singen und singen während des Folgenden.

Der Bergmann fährt in finstern Schacht,

Daraußen läßt er Weib und Kind.

Es rühren ihn an mit großer Macht

Die Kräfte, so im Dunklen sind.

Herr! nimm ihn Du in Deinen Schutz –

Sonst ist ihm schnell sein Sinn verwirrt –,

Daß er, ein Mensch, mit Ehr und Nutz

Dem Finstern wiederum entwird,

Daß er an seines Hauses Schwell

Sich nicht erst lang besinnen muß,

Mit unverstörter Seele schnell

Sich freu an Menschenblick und -kuß.[173]

ANNA sowie sie anfangen.

Nun singen sie. Das Singen ist für nichts.

Es zieht ihn nicht zurück!


In der Ferne Glockenläuten.


Nun läuten sie.

Das Läuten ist für nichts. Er kommt nicht wieder.

Der Vater hat die Augen voller Tränen.

Mir ist nicht leid um ihn. Ich fühl nichts mehr.


Sie steht eine Weile, hört dem Singen zu.


Nun werden sie den Mund auftuen alle

Und werden fragen.


Sie schwankt.


Vater, führ mich fort.


Dahlsjö will sie auffangen, sie hält sich noch einmal und bleibt stehen.


DIE GÄSTE flüstern.

Wo bleibt der Bräutigam? wo bleibt der Bräutigam?

ANNA wendet sich gegen die Leute.

Der Bräutigam, der hätt nicht werben sollen.

Allein er tats, er trat herein im Dämmer:

Da faßte er mich an, da wars um mich getan.

Er nahm mich bei der Hand, er küßte meinen Mund

Und wars nicht, den ich zu umfassen meinte.

Ein Fremder wars, die Scham trieb mir das Blut

Empor, da wurde mir das Herz ganz kalt,

Die Hände kalt wie Stein. Nun klopf ich an –


Sie kehrt sich gegen die steinerne Wand.


Die Tür ist auch von Stein und er steht drinnen

Im Finstern und er funkelt wie ein Licht:

Rührt er mich an, so werd ich wieder warm!


Sie sinkt um, ehe der Vater sie auffangen kann.

Die Gäste drängen hin.

Die Bergleute draußen singen die letzte Strophe zu Ende.

Vorhang.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 2, Frankfurt a.M. 1979, S. 168-174.
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