Zwölfte Szene

[466] BARONIN. Sie betrachten sich also hier nicht mehr im Dienst befindlich?

THEODOR. Allerdings, seit heute mittag zwölf Uhr.

BARONIN. Ja, was soll denn da werden? Sie wissen doch, daß ich zu allem noch Gäste erwarte!

THEODOR mit bedauernder Gebärde. Es ist mir selber sehr peinlich, aber sehr gewichtige Umstände haben mich in die Zwangslage versetzt –

BARONIN. Theodor, haben diese Umstände etwas mit meiner Person zu tun?

THEODOR. Euer Gnaden bitte ich nur in untertänigster Dankbarkeit die Hände küssen zu dürfen.

BARONIN. Hat jemand vom Personal sich gegen Sie etwas zuschulden kommen lassen?

THEODOR. Ich möchte in diesem Augenblick das Personal keiner Erwähnung wert halten!

BARONIN. Sie haben sich nicht entschließen können, dem Herrn General irgendeine Andeutung zu machen – aber der Kleine hat etwas dahergeplauscht –[466]

THEODOR. Das Kind in seiner Unschuld versteht besser als durchtriebene Menschen ein Gemüt wie das meinige.

BARONIN. Der Kleine hat ausgerichtet: das Ganze paßt dem Theodor nicht mehr. Was soll das heißen?

THEODOR. Diese Worte sind sehr schicklich, um in einer allgemeinen Art das auszudrücken, was im besonderen vielleicht peinlich sein würde.

BARONIN. Ja, wie soll man da –

THEODOR. Es wurde auf solche für beide Teile peinliche Aussprachen im Falle meines mir nötig erscheinenden Rücktrittes im vornhinein gnädigst verzichtet, meine Gründe im vornhinein bewilligt.


Er will in die Tasche greifen.


BARONIN. Lassen Sie das stecken. Ich weiß, was ich geschrieben habe.


Schweigt und bohrt mit dem Stock auf dem Boden.


THEODOR. Dieses gnädige Handschreiben wurde an mich erlassen zu meinem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum in diesem herrschaftlichen Hause, als ein Zeichen besonderen ungewöhnlichen Vertrauens.

BARONIN. Das war meine Absicht.

THEODOR. Es sollten damit die Jahre, welche ich noch in dienender Stellung zu bleiben mich entschließen würde, herausgestrichen werden als Ehrenjahre. Mit erhobener Stimme. Wer solche Ehrenjahre abdient, müßte demgemäß vor einer Mißachtung seiner Person geschützt sein.

BARONIN. Ja, wer bezeigt Ihnen denn Mißachtung? Wer untersteht sich das? Setzen Sie sich nieder, Theodor, und sprechen Sie sich aus.

THEODOR setzt sich auf den Rand des Stuhles. Es sind an mir in diesem Leben viele Ungeheuerlichkeiten begangen worden! Ich hätte bekanntlichst eine geistliche Person werden sollen, aber als eine vaterlose Waise bin ich durch Gemeinheit gemeiner Menschen in den dienenden Stand gestoßen worden.

BARONIN. Ich kenne Ihre Biographie, Theodor. Sie ist sehr achtenswert! Ihr Vater war ein Lump –, aber Ihre Mutter –[467] Gott hab sie selig – eine der gescheitesten Frauen auf der Welt, und Sie haben ihren Verstand geerbt.

THEODOR. Seine Freiherrliche Gnaden Herr Oberst ist demgemäß in meinen Armen abgestorben.

BARONIN. Ja, Sie haben meinen Mann treu gepflegt.

THEODOR. Der Herr Oberst hat mir in seiner letzten Lebensstunde gesagt, daß ich ihm meine Jugend aufgeopfert habe, und hat mich mit Tränen in seinen sterbenden Armen beschworen, seinen Jaromir nicht im Stich zu lassen, und mir den heiligen Eid abverlangt, daß ich dem jungen Herrn mein Mannesalter aufopfern werde. Denn er hat die vielen und großen Schwächen dieses Jünglings erkannt.

BARONIN. Und dann haben Sie siebzehn Jahre im Dienst meines Sohnes verbracht und sich tadellos geführt. Aber endlich haben gewisse Verschiedenheiten in Ihren beiden Charakteren es wünschenswert erscheinen lassen, daß Sie aus seinem Dienst wieder in meinen traten, was mir natürlich sehr lieb war.

THEODOR. Das könnte man gesellschaftlich so sagen, aber es wäre weiter nichts als eine vertuschende Redeweise. Sehr stark, aber nicht laut. Die Wahrheit ist diese: das ganze Leben, das er geführt hat, war eine fortgesetzte Beleidigung meiner Person.

BARONIN. Pst, pst, Sie sprechen von meinem Sohn!

THEODOR stehend. Ich bitte nichts anderes, als die Hände küssen und mich stillschweigend untertänigst zurückziehen zu dürfen, auf immer. Als wollte er gehen.

BARONIN. Ich wünsche aber, daß Sie bleiben, Theodor.

THEODOR. Jawohl, meine Eltern haben mir in der heiligen Taufe den lieben Namen Theodor zugeeignet. Er hat den Namen nicht beliebt. Ich bin bei ihm die Jahre hindurch Franz gerufen worden, Franz, wo ich, bitte, Theodor zu heißen die Ehre habe! Darin bitte zu erkennen, wie er die Menschenwürde in mir geachtet hat! Das Ganze war eine siebzehnjährige automatische Mißachtung.

BARONIN. Aber das sind doch schließlich nur Kleinigkeiten.

THEODOR. Kleinigkeiten? Für die menschliche Seele gibt es[468] keine Kleinigkeiten, das müssen Euer Gnaden als hochgeborene und gebildete Dame wissen. Er hat vor meinen sehenden Augen ein Junggesellenleben geführt von einer beispiellosen Frivolität und eiskalten Selbstsucht.

BARONIN stößt mit dem Stock.

THEODOR. Sehr richtig! Sie klopfen, Sie haben recht! Ich habe es ertragen. Ich habe Krawatte hergerichtet, den Jackett oder Smoking, wenn ich gewußt habe, er geht darauf aus, ein weibliches Wesen in einer nächtlichen Abendstunde mit kaltherziger Niederträchtigkeit um die Seele zu betrügen.

BARONIN. Aber Theodor, Sie sind mir doch auch kein Heiliger!

THEODOR. Ich bin kein Heiliger! Aber wenn ich eine liebende Handlung begehe, so begehe ich sie mit meinem ganzen Herzen und stehe dafür ein mit meiner ganzen Seele. Bei ihm aber ist das Gegenteil der Fall, und das kann ich nicht mehr vertragen mit meinem Auge zu sehen! Und jetzt ist der Tropfen gekommen, der den Becher bringt zum Überfluß!

BARONIN. Jetzt, wieso denn?

THEODOR. Jetzt, wieso denn? Wenn er sich jetzt seine Maitressen paarweise herbestellt ins Haus, jetzt wo er verheiratet ist, jetzt wo er eine Aufgabe hätte im Leben – wo sie ihm zwei Kinder gespendet hat, dieser gesegnete Engel – und da ladet er sich die Betreffenden hier aufs Schloß ein, nachdem er selbst in einem Büchel, in einem sogenannten Schlüsselroman ohne einen literarischen Wert, diese ganze Geschichte mit der Marie auf den Pranger hingestellt hat.

BARONIN. Ich verstehe absolut nicht, wovon Sie reden, Theodor.

THEODOR. Demgemäß bitte ich Hände zu küssen und mich stillschweigend zu entfernen –


Als wollte er gehen.


BARONIN. Jedenfalls gehören diese Dinge, möge selbst etwas daran gewesen sein, längst der Vergangenheit an!

THEODOR. Bei ihm gibt es keine Vergangenheit, so ist er[469] nicht! Bei ihm ist nichts vorüber. Um etwas aufzugeben, dazu gehört eine innerliche Reinlichkeit.

BARONIN stößt den Stock auf den Boden.

THEODOR leise. Dieses unglückliche Fräulein Marie, das ist ja eine Blume, die er geknickt und zertreten hat. Er ist wie eine Boa constrictor: ausgesogen hat er ihr die Seele viereinhalb Jahre lang! Aber jetzt, jetzt haben wir in Erfahrung gebracht, hat sich diesem Mädchen ein anderer genähert, der, scheint es, einer wirklichen Liebe, einer Hingebung fähig ist. Das reizt ihn aufs neue, da zieht er sie wieder herbei, damit sie seiner Herrschaft nicht entgeht und mag darüber ihre Jugend verwelken wie ein abgemähtes Gras! Wie wagt er das – vor meinen sehenden Augen? Wie darf er sich so über meine siebzehnjährige Mitwisserschaft hinwegsetzen? Bin ich sein Hehler? Sein Spießgefährte, der ihm die Mauer macht? Da tritt er ja meine Menschenwürde in den Kot hinein. Wie wagt er es vor meinen sehenden Augen, diese andere Person, dieses berüchtigte Frauenzimmer, diese Melanie hierher zu bestellen? Wie wagt er dann solche Manöver, daß er selber das Schlafzimmer verläßt, wo dieser gütige Engel mit ihm ehelich wohnt, und hinaufquartiert sich in die Mansarde, und bei hellichtem Tag den Schlosser daherkommen läßt, den Verbindungsgang herzustellen für eine nächtliche ehebrecherische Promenade, damit nur nichts klappert. Das spricht ja Hohn allen göttlichen und menschlichen Gesetzlichkeiten!

BARONIN. Aber Theodor! Theodor!


Geht auf und nieder.


THEODOR folgt ihr nach. Wo in mir in meiner nichtvergessenden Herzkammer alle diese seine Weibergeschichten und Schlechtigkeiten abphotographiert sind bis in die kleinsten und niederträchtigsten Zärtlichkeiten und Meineide!

BARONIN. Aber mäßigen Sie sich doch etwas!

THEODOR tritt zurück. Ich bin müd, demgemäß eher gemäßigt. Aber meine gekränkte Person benötigt demgemäß eine große Heilung, damit ich die männliche Erbärmlichkeit vergessen kann. Ich muß in meine einsame Heimat, auf meine abgelegene Scholle, und alte, liebe Eichbäume müssen[470] immerfort zu mir flüstern: Theodor, du bist ein Heiliger gegen diesen! Er ist nicht wert, die Riemen deiner staubigen Schuhe aufzulösen! Du hast ihn geschont aus Gnade, weil du eine große Seele hast vor deinem Herrgott!

GENERAL erscheint auf der Terrasse. Baronin, Sie müssen empfangen. Ich höre den ersten Wagen anrollen.

BARONIN. Das auch noch! Gleich. Gehen Sie unterdessen – ich komme.

GENERAL ab über die Terrasse.

BARONIN. Aber Theodor, es wird doch einen andern Weg geben, irgendeine andere Form, Ihnen eine innere Genugtuung zu schaffen. Ich werde Sie doch deswegen nicht verlieren müssen?!

THEODOR. Frau Baronin, Gnaden, ich bin keine käufliche Seele. Eine Genugtuung, die mir in dieser Lebensstunde noch genügen sollte, die könnte sich nicht, wie in früheren Fällen, in der Dienstbotenatmosphäre abspielen – die dürfte nicht aus Äußerlichkeiten bestehen, die müßte auf das Große und Ganze gehen! Die müßte zeigen, wo Gott eigentlich Wohnung hat!

BARONIN. Eine solche kann ich doch unmöglich verschaffen.

THEODOR. Nein. Die könnte mir allerdings nur ein Stärkerer schaffen als Euer Gnaden!


Lächelt.


BARONIN. An was denken Sie denn? So reden Sie doch! Ich bitte Sie mit aufgehobenen Händen – so reden Sie doch!

GENERAL erscheint. Baronin, das Fräulein von Am Rain fährt vor. Ab.

BARONIN. Wenn es von mir abhinge, daß die Damen nicht erscheinen oder gleich wieder abreisen – würde ichs machen, aber ich kanns nicht.

THEODOR. Euer Gnaden können es nicht. Schön. Ich könnte es sehr leicht! Sehr leicht vielleicht nicht, aber mit einer gewissen Mühe. Die würde ich mir nehmen.

BARONIN. Sie?

THEODOR. Mit einem Atemzug würde ich diese zweischneidigen Techtelmechtel vor mich hinjagen wie Stäubchen.[471]

BARONIN. Ja, wie denn, um Gottes willen? Sie werden doch nicht in offener Opposition meinem Sohn entgegentreten wollen?

THEODOR. Im Gegenteil. Ich würde sorgen, daß die Damen selbst in zartfühlender Weise dem Herrn Baron über die Gründe ihres Verschwindens anliegen werden.

BARONIN. Und eine solche Lösung, wenn sie denkbar wäre, – würde Sie – Sie würden dann Ihre Kündigung zurücknehmen?

THEODOR. Die Entscheidung darüber müßte ich vorbehalten, abhängig zu machen von dem Ausgang des Ganzen, ob derselbe mir in meinem Innern eine wahre und ausreichende Genugtuung bietet.

GENERAL erscheint. Baronin, es ist die höchste Zeit. Man ist schon da!

BARONIN im Abgehen. Bleiben Sie hier!


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 466-472.
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