[499] MELANIE sieht gebückt in einen Stoß beschriebener Blätter, in denen sie liest. Natürlich bin ich das. Es schwimmt mir vor den Augen. »M – M – M« das bin ich. – »Begegnung im Walde« – »Eine Jagdhütte« – »Ein Aprilwetter« – »Suchende im Walde mit Fackeln« – »Der Ehemann, der nachfährt«. – Er nennt ihn Gustav. Was nützt das, wenn sonst alle Details stimmen? Kommt jemand? Sie wirft ein Peignoir über das Paket, nachdem sie die Blätter schnell geordnet hat, läuft an den Spiegel, richtet sich. Ein Schatten an der Balkontür von außen. Jaromir, was fällt Ihnen ein, durchs Fenster zu kommen! Wie können Sie –
THEODOR durchs Fenster herein, indem er die angelehnte Glastür von außen nach innen öffnet.
MELANIE. Ah, Sie sinds, Franz?
THEODOR. Ich bitte untertänigst um Vergebung. Ich habe in Eile schnellsten Weg genommen, um zu melden wegen der Jungfer. Ich habe mit großer Mühe Verbindung bekommen –
MELANIE. Sie kommt also –
THEODOR. Leider – nein! – Es ist dort etwas dazwischengekommen.
MELANIE. Ja, was denn? Sie hätten nichts dazwischenkommen lassen dürfen! – Ich will nicht allein bleiben![499]
THEODOR. Wenn ich melden dürfte? Ich habe die Jungfer an Telephon rufen lassen, sie läßt Hände küssen und läßt melden, sie könnte nicht abkommen, weil unversehens die Damen Galattis oder so etwas – angekommen sind.
MELANIE. Meine Schwägerinnen in Waldsee?
THEODOR. Unversehens zurück aus Mähren – – und da hat die Jungfer heiklige Bedienung übernehmen müssen und da ist sie der Meinung, Euer Gnaden selbst, wenn das gewußt hätten, hätten demgemäß unbedingt befohlen dort zu bleiben – – und dem hab ich beigestimmt – weil ich doch weiß, was das für Spioninnen sind, diese beiden teilweise unverheirateten, teilweise verwitweten Frauenspersonen. Habe ich denn vergessen, was uns diese so vor vier Jahren dort an der Riviera für eine Hetze angezettelt haben!
MELANIE. Ah, diese fürchterliche Geschichte im Eden-Hotel in Nervi, die wissen Sie noch!
THEODOR. Vergesse ich denn so etwas – – bin ich denn ein solcher Hudri Wudri, ein oberflächlicher, daß ich solche Schreckenstage von meiner Seele abbeuteln könnte wie ein Hund die Flöhe? – Sehe ich denn Euer Gnaden nicht dastehen bereits wie eine verlorene Person – wo? In meinem geistigen Auge! Von damals rede ich, wie diese beiden Schwägerinnen uns nachgereist sind und unversehens dagestanden sind in Hotelhalle! – Und der Herr Gemahl, ist mit ihm zu spaßen? Ist das ein angenehmer Gegner? Täte der ein Erbarmen kennen, wenn noch diese beiden Furien ins Feuer blasen, heute wie damals?
MELANIE will etwas sagen. Er läßt sie nicht.
THEODOR. Und die sind zähe Rabenviecher, diese Intrigantinnen! Nicht einmal unsere Verehelichung hat ihnen ganz ihr Mißtrauen eingeschläfert! Und wenn die den kleinsten Anhaltspunkt wiederum bekämen – so ein Dokument – so irgendwelche Inflagrantisachen – so wie damals die Photographien, die der Haderlump, dieser Zimmerkellner, aufgenommen von Eurer Gnaden und meinem Herrn Baron in einem Mondschein sehr nahe beisammen.
MELANIE. Wieso erinnern Sie sich denn an das! Das ist doch gräßlich, daß Sie das noch wissen![500]
THEODOR sehr ernst. Ich erinnere mich an alles. Deswegen braucht man sich vor mir in keiner Weise zu schämen. Es gibt Individuen, die interessiert nichts, als die eigene Person. Zu dieser Sorte gehöre ich nicht. – Ich bin es – nebenbei – gewesen, der diesem Haderlumpen die Platte abgekauft hat, und damit ist Beweisstück aus den Händen geräumt gewesen und die Schwägerinnen sind abgezogen als unbeweisbare Verleumderinnen und haben gekocht vor Gift und Galle – Im Zimmer umher Ordnung machend. Ich werde dieser bedienenden Person einschärfen, öfter unter Tags aufzuräumen. Sie scheint nicht zu wissen, was Damenbedienung ist. Er hebt das Peignoir auf und entdeckt das Manuskript. Ah, das ist aber! Ja, wie kommt denn das daher! Ah da trifft mich der Schlag!
MELANIE. Sie kennen diese Schriften?
THEODOR. Ja, was ist denn das? Je, wie käme denn das daher! Ob ich das kenne? Das ist doch der neue Roman. Ich habe doch alles miterlebt! Es sind natürlich Ungenauigkeiten darin. Er hat ein schwaches Gedächtnis. Geringschätzig. Gelegentlich frägt er mich um etwas: und das ist dann demgemäß die einzelne Sache, auf die gerade alles ankommt. – Er blättert. Aber da bin ich demgemäß sehr überrascht. Hat also Aussprache darüber Er zeigt auf das Manuskript. stattgefunden und haben in schwacher Stunde Zustimmung gegeben?
MELANIE. Ich? Gott im Himmel!
Sie zerknüllt ihr Taschentuch zwischen den Händen.
THEODOR. Aber das ist, halten zu Gnaden, nicht ungefährlich. Käme das diesen Schwägerinnen in die Hände, die möchten schweres Geld geben – – die wären ja im Nachhinein rehabilitiert als rechtschaffene Angeberinnen. Die möchten ja das bereits wie ein Corpus delicti benützen! Aber ich[501] bitte um Vergebung! Euer Gnaden werden sich das alles besser überlegt haben. Ich bitte um Begnadigung, wenn ich mich durch alte Anhänglichkeit hinreißen lasse!
MELANIE. Franz, Sie sind ein alter treuer Begleiter und Diener, ein alter Vertrauter – Ich werde Ihnen alles sagen! – Es ist – ich habe – ich bin – ich weiß nicht. Dieses Paket ist da gelegen – ich bin außer mir.
THEODOR. Also dann nicht. Herr Baron hat es überreicht zur Kenntnisnahme.
MELANIE. Ich sag Ihnen ja! Ich hab keine Ahnung! Es ist da gelegen! Ich habe es aufgeschlagen und war wie vom Blitz getroffen.
THEODOR. Belieben zu setzen in einem Fauteuil.
MELANIE setzt sich. Ich habe – im Gegenteil, der Herr Baron hat mich bestimmt versichert – ich meine, ich habe ihn so verstanden, daß er niemals die Erinnerungen, die sich auf mich und unsere früheren Begegnungen beziehen, zu einer Aufzeichnung benützen wird.
THEODOR. Ich verstehe. – Ah, da geht mir aber ein Licht auf! Ah, da sehe ich ja deutlich!
MELANIE springt wieder auf. Was, Franz, wer? Lieber Franz! Was meinen Sie?
THEODOR. Jetzt versteh ich!
MELANIE. Was verstehen Sie?
THEODOR. Das Herumschleichen von der Milli und so fort. – Und diese Rosa steht heute noch in Verbindung mit denen Schwägerinnen: das ist mir bewußt.
MELANIE. Franz, so helfen Sie mir doch!
Sie greift nach ihrem Portemonnaie, das wo liegt.
THEODOR. Es waren sehr viele Geräusche am Telephon, sehr schlecht zu verstehen – aber das ist sicher: die Jungfer hat nicht herkommen wollen, hat sich Ausrede machen wollen, diese tückische Person! Die hat Respekt vor dem Herrn Gemahl. Die weiß, daß mit dem Herrn nicht gut Kirschen essen wär, wenn man als Gelegenheitsmacherin in seine starken Hände fallen täte! Euer Gnaden sehen nicht gut aus! Befehlen, daß ich Tee und Kognak heraufserviere?
MELANIE winkt nein.[502]
THEODOR. Sie hat auch etwas gemurmelt von schlechter Laune von Herrn Gemahl, das fällt mir jetzt erst ein!
MELANIE. Was soll ich tun, Franz?
Sie hat ihr Portemonnaie in der Hand.
THEODOR. Fragen mich – oder benützen nur so allgemeine Redeweise?
MELANIE. Ich frage Sie, lieber Franz! Natürlich frage ich Sie!
THEODOR in bezug auf das Manuskript. Das muß aus der Welt! Dann sind die heimtückischen Mitwisser ohne Beweisstück und können sich aufhängen!
MELANIE gibt ihm schnell viel Geld aus ihrem Portemonnaie, indem sie es ihm zusammengedrückt in die Hand schiebt. Tun Sie, was Sie für gut halten!
THEODOR nimmt das Geld, schiebt es in die Westentasche, tritt aber zurück. Wie meinen das, bitte?
MELANIE. Räumen Sie es weg, verbrennen Sie es!
THEODOR legt das Manuskript weg, auf den Tisch, als ob es ihn brennte. Ah, das getraue ich mich nicht! Ja, wer bin ich denn? Ich bin in einer dienen den Stellung. – Wo er das bei seinem schlechten Gedächtnis hütet wie seinen Augapfel – ja – da riskiere ich ja meine Existenz! Wenn das aufkäme!!!
MELANIE ringt die Hände. Mein Gott, so geben Sie mir doch einen Rat!
THEODOR. Befehlen Rat? Ratsam wäre eines: abreisen, diesen Abend, und mitnehmen die Sache als Eigentum.
MELANIE. Mitnehmen?
THEODOR. Man wickelt ein und legt in Koffer. Dann sind Euer Gnaden sicher wie in Abrahams Schoß.
MELANIE. Aber wie kann ich denn das?
THEODOR. Wieso können? Was kann er machen geltend? Moralisch? Ah, da möchte ich sehen. Soll er hinfahren und sich wieder holen. Soll er betteln darum, Euer Gnaden werden diktieren!
MELANIE. Ich kann doch nicht etwas stehlen!
THEODOR legts hin. Ah, bitte! Dann nicht! Da werde ich mich dementsprechend zurückziehen!
MELANIE. Franz, legen Sie es in meinen Koffer, schnell, ich reise ab!
Es klopft.
[503]
THEODOR lächelt befriedigt. Schlimmstenfalls sagt man, es ist aus Versehen eingepackt worden, und schiebt es aufs Aushilfspersonal. Er nimmt das Paket.
MELANIE. Herein! Zu Theodor. Packen Sie es in den Kleiderkoffer ganz unten. Nochmals gegen die Tür. Herein!
Theodor, das Paket unterm Arm, geht langsam gegen die kleine Tür rechts.
Ausgewählte Ausgaben von
Der Unbestechliche
|
Buchempfehlung
Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.
226 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro