Hugo von Hofmannsthal

Max Reinhardt

Ein produktiver Mensch ist solch eine erstaunliche Einheit! Nur darum ist es schwer, über ihn zu sprechen: weil man, um ein Phänomen zu interpretieren, das Einheitliche für den Moment auseinanderlegen muß, wie bei einem physikalischen Experiment. – Betrachtet man aber andererseits die Wirkungen eines solchen Menschen, der seit fünfzehn Jahren unstreitig dem europäischen Theaterleben den stärksten Impuls gibt, und immer wieder einen neuen, und sieht man zu, wie viele Federn und Zungen sein Handeln in Bewegung setzt, und auf wie vielerlei Weise, so ist es reizvoll, vom Äußerlichen auf das Geheimere und Gesetzmäßige einer solchen Wirksamkeit zurückzugehen, und die fruchtbare dichtgedrängte Einheitlichkeit des Kraftzentrums zu erkennen, von dem diese elektrischen Schläge ausgehen, deren Vibrationen bis an die Grenzen Europas und bis über den Ozean gefühlt werden.

Dieses Zentrum ist die Seele eines genialen Schauspielers, der seine schauspielerische Vision nicht durch seinen eigenen Körper, sondern durch die Körper anderer auszudrücken gezwungen ist. Der künstlerische Typus, von dem ich spreche, ist jenem anderen eigentümlich gemischten Genie, das wir den dramatischen Dichter nennen, nächstverwandt. Denn auch der dramatische Dichter ist beinahe ein Schauspieler, und je mehr er das eine ist, desto vollständiger ist er das andere; was er schafft, ist ein Gewebe aus Schicksalen und Gestalten, aber er bewirkt diese Schöpfung dadurch, daß er ineinandergreifende Rollen und Verkettungen fruchtbarer, d.h. wirksamer schauspielerischer Momente halluziniert; was das kreative Genie dann noch Göttliches hinzutut, das ist eben das Geheimnis des kreativen Genies. Ich weiß sehr wohl, daß ich mit obigen Worten nicht das kreative Genie von Shakespeare und Molière umschreibe, wohl aber ihre besondere Schicksalslage und die Form, unter der das Dichterische aus ihnen[310] hervortritt, in ihrer ungeheuren Unterschiedenheit von der Form, unter der aus einem Shelley oder Whitman der Strom ihrer flutenden hymnischen Gedanken oder aus einem Richardson oder Balzac das Gespinst ihrer epischen Erfindungen hervortritt. Zu dem geborenen dramatischen Dichter nun ist der geborene Schauspieldirektor, der geborene große producer, im Verhältnis der Zwillingsbrüderschaft; aber seine Situation ist noch sonderbarer, und die Behinderung des Schicksals, wodurch ihm das, was er sein soll, zu sein fürs erste verwehrt wird – wie damit die produktive Kraft sich aufstaue und einen Springbrunn bilde –, ist noch eigensinniger. Wenn die Situation des dramatischen Dichters die ist: daß seine Visionen des Weltinhaltes mimische sind, solche, wie sie der Schauspieler durch die Verwandlungen seines Körpers ausdrückt – daß ihm zugleich der Körper versagt ist, um die Fülle seiner Visionen auszudrücken – und daß ihm dafür in der sprachlichen Begabung das Mittel gegeben ist, ein hundertfacher Schauspieler zu sein und die begabten Körper anderer zur Realisierung seiner Visionen zu zwingen –, so ist die Situation des genialen producers noch um eine Stufe höher ins Bizarre hinaufgerückt. Denn ihm ist auch die Sprache als unmittelbares Material zur Kreation noch versagt, und wie der Dramatiker die lebenden – und auch die um Jahrhunderte nach ihm lebenden – Schauspieler zwingt, seine Visionen zu verkörpern, so realisiert der producer seine persönliche und eigenwillige Vision, indem er sich auch der dramatischen Dichter noch als eines Werkzeuges bedient – gleichsam als eines Leitungsnetzes von Intentionen, durch welche er seine noch stärkeren Intentionen hindurchschickt.

Diderot hat »Le paradoxe du comédien« geschrieben, bei weitem das größere Paradoxon ist aber diese Situation des poet producer. Denn der Platz, den er innerhalb des theatralischen Apparates einnehmen muß, um seine Wirkung zu entfalten, ist an einer Stelle, die, mit nüchternem Auge betrachtet, überhaupt keinen leeren Raum bietet. Die Stelle, welche der Kapellmeister einnimmt, zwischen dem Komponisten der Symphonie, dessen zarteste Absichten ja deutlich genug in den Noten niedergelegt sind, und den ausführenden Musikern,[311] ist eine ähnliche – hier wie dort handelt es sich um interpretierende Begabung, die in seltenen Fällen bis zur produktiven Genialität gesteigert werden kann, und tatsächlich ist es möglich, solche Menschen wie Reinhardt und Stanislawski mit Nikisch oder mit Toscanini zu vergleichen. Aber der Kapellmeister ist doch nur ein Schatten des producers. Wenn man ein Jahrfünft oder gar ein Jahrzehnt von Reinhardts künstlerischer Tätigkeit überblickt, so ergibt sich ein Reichtum des kreativen Handelns und eine Nicht-Behindertheit durch irgendeine Grenze des Stiles, die etwas Unheimliches hat. Innerhalb einer solchen Lebens- oder Arbeitsepoche war das Objekt seiner Interpretation die halbe dramatische Weltliteratur. Shakespeare in seinen finstersten Tragödien und Shakespeare in seinen zartesten Komödien, die »Orestie« des Äschylos und die »Lysistrata« des Aristophanes; Molière und Goldoni und Gozzi; Goethe und Schiller; aber nicht weniger Strindberg und Tolstoi; Tschechow neben Knut Hamsun und Gorki neben Tristan Bernard; eine Operette, ein Ballett neben einem finsteren, von Problematik starrenden Jugendwerk eines deutschen Zeitgenossen ... wie ist es möglich, alle diese Dinge nebeneinander auf die Bühne zu bringen, ihnen keine Gewalt anzutun, jedem sein eigenstes Leben zu lassen und doch jedem in einer höchst geheimen Bluttransfusion etwas unverkennbar Reinhardtsches mitzugeben? Dies streift an Hexerei. Aber jede kreative Begabung ist eben ein Phänomen, über das zu staunen man nicht aufhören würde, wenn nicht ein ungeheures Maß von Trägheit das Erstaunende, Schwingende in uns nach einer Weile wieder zur Ruhe brächte.

Der Schlüssel, dieses Phänomen zu verstehen, liegt hierin: der dramatische Text ist etwas Inkomplettes und zwar um so inkompletter, je größer der dramatische Dichter ist. Schiller, auf der Höhe seines Lebens, schreibt einmal hin: er sehe ein, daß der wahre Dramatiker sehr viel arbeiten, aber immer nur Skizzen verfertigen sollte, – aber er traue sich nicht genug Talent zu, um in dieser Weise zu arbeiten. Nichts ist wunderbarer als, mit etwas gereiftem Blick, bei den größten Dramatikern der neueren Welt, bei Shakespeare und bei Calderon, zu[312] erkennen, wie sehr alles, was sie gearbeitet haben, bei aller magischen Komplettheit doch den Charakter der Skizze beibehält, wie sehr sie es verstanden haben, frei zu lassen, das Letzte, ja auch das Vorletzte nicht zu geben. Hierin liegt der entschiedenste Unterschied zwischen dem dramatischen und dem epischen Schaffen. Ein Stück wie der »Macbeth« hat etwa zwanzigtausend Worte; ein Roman wie »Clarissa Harlowe« oder »David Copperfield« vielleicht eine Million. Trotzdem ist die Vision der Welt und des Geschickes, die der »Macbeth« übermittelt, keine weniger reiche noch weniger vollständige. Wer würde zu behaupten wagen, »Hamlet« habe weniger Inhalt als der »Don Quixote« oder die »Odyssee«, der »Misanthrope« weniger als die »Princesse de Clèves«? – Aber der Romanschreiber geht darauf aus, mit seinen Worten das Ganze zu geben, und die Phantasie seiner Leser, wie schon die Phantasie der Zuhörer des antiken Rhapsoden, bleibt rein aufnehmend und passiv. Aber der Dramatiker hätte sein Spiel schon verloren, wenn es ihm nicht gelänge, die Zuschauer ebenso wie die Schauspieler zu seinem mittätigen Werkzeug zu machen; nicht umsonst sind die Zuschauer eines Schauspieles Nachkommen des ursprünglichsten Chores, einer tanzenden und singenden Schar, die den Protagonisten, den geopferten Heros, umgab, mit ihm litt und jubelte; ja die Zuschauer sind niemals etwas anderes als dieser erweiterte Chor, also Mitspieler und Halluzinierte. Darum sollte im Drama alles im Zustande der Andeutung bleiben, denn die vibrierende Phantasie des Mitspielers darf man nicht binden, wie man die Phantasie des ruhigen Zuhörers nicht freilassen darf. Das Letzte noch muß im Roman mit Worten gegeben sein. Daher die Ausmalung der Gemütsvorgänge sowie des äußeren Schauplatzes, die Fülle und Genauigkeit aller äußeren und inneren Angaben. Im Drama wird das Letzte halluziniert – von der Phantasie des mitverflochtenen Zuschauers (dies, in Parenthese, ist jene aristotelische Reinigung der Seele durch Furcht und Mitleid) –, und alles, was der Dichter und seine Gehilfen, der Regisseur, der Maler, der Beleuchter und der Schauspieler, darbieten, ist nur eine Kette von Andeutungen, Reizen, jene Halluzination hervorzurufen und die Qualität[313] genau zu bestimmen. Die Mittel aber, vermöge welcher dieses ganze System von Andeutungen und Reizen hergestellt wird, sind, weit mehr als beim Romanschreiber, dem nur das Wort zur Verfügung steht, der Wirklichkeit angehörig. Der sich bewegende ausdrucksvolle Leib des Tänzer-Schauspielers oder Sängers, aus dessen Mund – in völliger Einheit mit seiner Gebärde – das mimische Wort hervorgeht; die gebaute, bemalte, von wechselndem Licht erleuchtete Bühne mit ihrem Praktikabeln, ein wirklicher Raum, so wirklich als der, in dem wir uns bewegen – diese Wirklichkeiten, die hier alle zusammen einer höchsten Unwirklichkeit dienen sollen, bedürfen immer einer sehr starken Hand, um sie zusammenzuhalten. Dies ist die eigentliche Funktion des producers; in allen diesen Elementen den Willen zur Ganzheit, zum dienenden Beieinander innerhalb eines Organismus, zu erhalten. Denn wie alle Elemente – auch gleich den Elementen des menschlichen Körpers, die ja nur auf unsern Tod warten, um nach allen Richtungen auseinanderzulaufen – wollen diese Elemente des Theaters sich immer wieder voneinander emanzipieren. Die Emanzipation des Schauspielers, das ist das leere, für einen Virtuosen geschriebene Rollenstück, oder endlich die commedia dell' arte: der Weg, den das volkstümliche Theater des siebzehnten Jahrhunderts gegangen ist. Die Emanzipation des Malers, das ist Gordon Craig: the dumb show, die Pantomime, der festliche Aufzug an Stelle des dramatischen Ganzen. Der Clown, der körperliche Komiker, hat sich schon längst von seiner Zwillingshälfte, dem komischen Schauspieler, emanzipiert: zu Shakespeares Zeit waren noch beide beisammen. – Reinhardt liebt alle diese sinnlichen Elemente des Theaters unsäglich. Er will ihrer keines entbehren, und er hat eine eiserne Hand, um sie zusammenzuhalten. Er braucht sie alle, um sich ihrer im entscheidenden Moment zu bedienen: den verzauberten Leib des großen Schauspielers ebenso wie die Grimasse des Clowns und die Zaubereien des Malers. Aber er unterordnet sie unerbittlich dem Höheren, dem Ganzen.

Ihm ist das Schauspielerische der Schlüssel der Welt; und wenn man genau zusieht, wird man erkennen, daß er, in der[314] richtigen genialen Hand, wirklich ein Schlüssel ist, der alle Dinge aufsperrt und der gegenüber den größten und den kleinsten Phänomenen nicht versagt: eine junge Katze, die spielt, eine Seelandschaft mit hängenden Weiden, die ihre Zweige sehnsüchtig gegen die unruhigen Wellen sinken lassen, oder die Vorgänge der Französischen Revolution ... alle drei sind durch die mimische Intuition zu erfassen. Man könnte versucht sein zu sagen, daß dieser Schlüssel nur die leibliche Seite, die Erscheinung aufschließt, und nicht die geistige Seite oder die Essenz; aber ich glaube, wir haben diese Unterscheidung zwischen Außen und Innen, zwischen Kern und Schale, von uns abgetan, und sie mit anderen Dualismen bei den hinter uns liegenden Jahrhunderten liegenlassen. Es schwebt in der Tat über jedem Ding, über jedem Ereignis ein Etwas, das sich sozusagen darstellen will und sich von dem Ding löst, um, über dem Ding schwebend, dessen Existenz erst zu krönen und zu vollenden. Die deutsche Sprache hat für dieses Schwebende ein schwebendes und vieldeutiges Wort: Stimmung. Man kann von der »Stimmung« einer Beethovenschen Sonate sprechen, und von der Stimmung eines Gebäudes; von der Stimmung, die über einer historischen Epoche, über einem gewissen Abschnitt unseres Lebens, über einer Jahreszeit, über einer Stunde des Tages, einer gewissen Witterung, oder über einer gewissen Szene eines Trauerspieles liegt. Je sensibler der betrachtende Mensch ist, desto deutlicher und vielfältiger wird für ihn der durchsichtige Schatten dieser Stimmung, in welcher die eigentliche Essenz der einzelnen Dinge über ihnen selber zu schweben scheint, auf allen Dingen und Menschen, auf den Momenten und Begegnungen, den Orten und den Augenblicken liegen. Die tausendfach nuancierte Stimmung ist eigentlich das, wodurch, wenn sie ins Leben gerufen wird, die Andeutung des Dramatikers sich zur wahren Lebensatmosphäre verdichtet. In dieser Kunst: von Drama zu Drama und innerhalb des Dramas von Szene zu Szene die ganze Gewalt der Stimmung zu fühlen und sie ans Licht zu ziehen, durch einen wunderbar wechselnden Rhythmus das wechselnde Spiel der Stimmungen in die Zuschauer zu schicken wie mit unzähligen[315] befiederten Pfeilen, deren jeder das Mark ritzt und seinen Zaubersaft in die geheimsten Adern flößt, ist Reinhardt groß, und – so groß auch Stanislawski ist – eigentlich unvergleichlich durch den Umfang seiner Intuition, durch die fast schrankenlose Möglichkeit, die seine Phantasie besitzt, von dramatischen Gebilden jeder Art zu produktiver Wirksamkeit bewegt zu werden. Auch dort, wo der Raum für den Regisseur sehr schmal erscheint durch die Strenge und Geschlossenheit des dramatischen Textes, oder dort, wo kaum überhaupt ein würdiger Raum für ihn frei zu sein scheint, wie bei einer Operette, versteht sein elastischer Geist sich in diesen Raum zusammenzuziehen und aus ihm hervortretend sich auszudehnen und das theatralische Ganze zu einer Lebendigkeit und Vollständigkeit zu heben, von der man in dem einen wie dem anderen Fall überrascht ist. Er kennt, wenn er an eine Arbeit herantritt, keinen Unterschied des Ranges zwischen der einen und der anderen; er wird einer Operette und einer Pantomime nicht sparsamer vom Seinigen zuteilen als einem Shakespeare oder Schiller. Er wird immer mit Verschwendung geben, und sein einziger Zügel wird das Axiom sein, das ich ihn einmal habe aussprechen hören: Damit ein Theaterstück zu seiner letzten, vollständigsten Wirkung komme, muß der Dichter dem Regisseur freien Raum lassen, der Regisseur dem Schauspieler, der Schauspieler aber dem Zuschauer: in dessen Gemüt erst darf sich das Wechselspiel der Wirkungen vollenden.[316]

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Reden und Aufsätze 1–3. Band 2, Frankfurt a.M. 1979.
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