XIX. Gesang.

[696] Odysseus trägt mit Telemachos die Waffen in die obere Kammer und bleibt im Saale allein. Sein Gespräch mit Penelopeia. Er wird beim Fußwaschen von der Pflegerin Eurykleia an der Narbe erkannt. Die Königin, nachdem sie durch einen Bogenkampf die Freiwerbung zu endigen beschlossen, entfernt sich.


Aber im Saale blieb der göttergleiche Odysseus

Und umdachte den Tod der Freier mit Pallas Athene.

Eilend wandt er sich jetzt mit geflügelten Worten zum Sohne:

Laß uns, Telemachos, gleich die Waffen im Hause verbergen!

Aber erkundigen sich die Freier, wo sie geblieben,

Dann besänftige sie mit guten Worten: ich trug sie

Aus dem Rauche hinweg; denn sie sehn den alten nicht ähnlich,

Wie sie Odysseus einst, gen Troja schiffend, zurückließ,

Sondern sind ganz entstellt von dem rußichten Dampfe des Feuers.

Und noch ein Größeres gab ein Himmlischer mir zu bedenken:

Daß ihr nicht etwa im Rausch euch zankt und einander verwundet

Und die Freuden des Mahls und die Liebe zu Penelopeia

Blutig entweiht; denn selbst das Eisen ziehet den Mann an.

Also sprach Odysseus. Der Sohn gehorchte dem Vater

Und rief Eurykleia, die Pflegerin, zu sich und sagte:

Mütterchen, halte die Weiber so lang in ihren Gemächern,

Bis ich hinauf in den Söller die schönen Waffen des Vaters

Bringe, die hier im Saale der Rauch so schändlich entstellet;

Denn mein Vater ist weg, und ich war ehmals ein Knabe.

Jetzo verwahr ich sie dort, wo der Dampf des Feuers nicht hinkommt.

Ihm antwortete drauf die Pflegerin Eurykleia:

Wenn du doch endlich, mein Sohn, zu reifem Verstande gelangtest,

Um dein Haus zu besorgen und deine Güter zu schützen!

Aber wohlan, wer begleitet dich denn mit leuchtender Fackel,

Wann die Mägde, die dir sonst leuchten, nicht dürfen herausgehn?

Und der verständige Jüngling Telemachos sagte da gegen:

Dieser Fremdling! Denn wer von meinem Tische sich nähret,

Darf mir nicht müßig stehn, und kam er auch fern aus der Fremde.

Also sprach er zu ihr und redete nicht in die Winde.

Schnell verschloß sie die Pforten der schöngebaueten Wohnung.

Nun erhub sich Odysseus mit seinem trefflichen Sohne,[697]

Und sie trugen die Helme hinein, die gewölbeten Schilde

Und scharfspitzigen Lanzen; voran ging Pallas Athene

Mit der goldenen Lamp und verbreitete leuchtenden Schimmer.

Und Telemachos sprach zu seinem Vater Odysseus:

Vater, ein großes Wunder erblick ich hier mit den Augen!

Alle Wände des Hauses und jegliche schöne Vertiefung,

Und die fichtenen Balken und hocherhabenen Säulen

Glänzen mir vor den Augen so hell als brennendes Feuer!

Wahrlich, ein Gott ist hier, des weiten Himmels Bewohner!

Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Schweig und forsche nicht nach und bewahre deine Gedanken!

Siehe, das ist die Weise der himmelbewohnenden Götter.

Aber lege dich schlafen; ich bleibe hier noch ein wenig,

Um die Mägde hieher und deine Mutter zu locken;

Diese wird mich weinend nach allen Dingen befragen.

Sprach's, und Telemachos ging mit angezündeten Fackeln

Aus dem Saale hinaus in seine Kammer zu Bette,

Wo er gewöhnlich ruhte, wann süßer Schlummer ihn einlud.

Allda schlief er auch jetzt und harrte der heiligen Frühe.

Aber im Saale blieb der göttergleiche Odysseus,

Und umdachte den Tod der Freier mit Pallas Athene.

Jetzo ging aus der Kammer die kluge Penelopeia,

Artemis gleich an Gestalt und der goldenen Aphrodite.

Neben das Feuer setzten sie ihren gewöhnlichen Sessel,

Welcher, mit Elfenbein und Silber umzogen, ein Kunstwerk

Von Ikmalios war; der Schemel unter den Füßen

Hing daran, und ein zottichtes Fell bedeckte den Sessel.

Allda setzte sich nun die kluge Penelopeia.

Und weißarmige Mägde, die aus der hinteren Wohnung

Kamen, trugen von dannen das viele Brot und die Tische

Und die Trinkgefäße der übermütigen Männer,

Schütteten aus den Geschirren die Glut zur Erden und häuften

Anderes Holz darauf, zum Leuchten und zur Erwärmung.

Aber Melantho schalt von neuem den edlen Odysseus:

Fremdling, willst du auch noch die Ruhe der Nacht uns verderben,

Um das Haus zu durchwandern und auf die Weiber zu lauern?

Elender, geh aus der Tür und sei vergnügt mit der Mahlzeit,[698]

Oder ich werfe dich gleich mit dem Brande, daß du hinausfliehst!

Zürnend schaute auf sie und sprach der weise Odysseus:

Unglückselige, sprich, was fährst du mich immer so hart an?

Weil ich nicht jung mehr bin und meine Kleider so schlecht sind?

Und weil die Not mich zwingt, als Bettler die Stadt zu durchwandern?

Dieses ist ja der Armen und irrenden Fremdlinge Schicksal!

Siehe, ich selber war einst ein glücklicher Mann und Bewohner

Eines reichen Palastes und gab dem irrenden Fremdling

Oftmals, wer er auch war und welche Not ihn auch drängte.

Und unzählige Knechte besaß ich und andere Güter,

Die man zum Überfluß und zur Pracht der Reichen erfordert.

Aber das nahm mir Zeus nach seinem heiligen Ratschluß.

Darum, Mädchen, bedenk: wenn auch du so gänzlich dein Ansehn

Einst verlörst, womit du vor deinen Gespielinnen prangest,

Oder wenn dich einmal der Zorn der Königin träfe

Oder Odysseus käme! Denn noch ist Hoffnung zur Heimkehr!

Aber er sei schon tot und kehre nimmer zur Heimat:

Dennoch lebt ja sein Sohn Telemachos, welchen Apollons

Gnade beschirmt; und er weiß, wieviel Unarten die Weiber

Hier im Hause beginnen; denn er ist wahrlich kein Kind mehr!

Also sprach er; ihn hörte die kluge Penelopeia.

Zürnend wandte sie sich zu der Magd mit scheltenden Worten:

Unverschämteste Hündin, ich kenne jegliche Schandtat,

Welche du tust, und du sollst mit deinem Haupte sie büßen!

Alles wußtest du ja, du hattest von mir es gehöret:

Daß ich in meiner Kammer den Fremdling wollte befragen

Wegen meines Gemahls, um den ich so herzlich betrübt bin!

Und zu der Schaffnerin Eurynome sagte sie also:

Auf, Eurynome, bringe mir einen Stuhl und ein Schafsfell,

Drauf zu legen, hieher, damit er sitzend erzähle

Und mich höre, der Fremdling; ich will ihn jetzo befragen.

Also sprach sie; da ging die Schaffnerin eilig und brachte

Einen zierlichen Stuhl und legte drüber ein Schafsfell.

Hierauf setzte sich nun der herrliche Dulder Odysseus.

Und es begann das Gespräch die kluge Penelopeia:

Hierum muß ich dich, Fremdling, vor allen Dingen befragen:

Wer, wes Volkes bist du und wo ist deine Geburtsstadt?[699]

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Keiner, o Königin, lebt auf der unermeßlichen Erde,

Der dich tadle; dein Ruhm erreicht die Feste des Himmels,

Gleich dem Ruhme des guten und gottesfürchtigen Königs,

Welcher ein großes Volk von starken Männern beherrschet

Und die Gerechtigkeit schützt. Die fetten Hügel und Täler

Wallen von Weizen und Gerste, die Bäume hangen voll Obstes,

Häufig gebiert das Vieh, und die Wasser wimmeln von Fischen

Unter dem weisen König, der seine Völker beseligt.

Aber frage mich hier im Hause nach anderen Dingen

Und erkunde dich nicht nach meinem Geschlecht und Geburtsland,

Daß du nicht mein Herz mit herberen Qualen erfüllest,

Wenn ich mich allen Jammers erinnere, den ich erduldet.

Denn mit Klagen und Weinen im fremden Hause zu sitzen,

Ziemet mir nicht, und langer Gram vermehrt nur das Leiden.

Auch möcht eine der Mägde mir zürnen, oder du selber,

Und, wenn ich weinte, sagen, mir tränten die Augen vom Weinrausch.

Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:

Fremdling, die Tugend des Geistes und meine Schönheit und Bildung

Raubten die Himmlischen mir am Tage, da die Argeier

Schifften gen Troja, mit ihnen mein trauter Gemahl Odysseus!

Kehrete jener von dannen und lebt' in meiner Gesellschaft,

Ja, dann möchte mein Ruhm wohl größer werden und schöner.

Aber jetzo traur ich; denn Leiden beschied mir ein Dämon!

Alle Fürsten, so viel in diesen Inseln gebieten,

Same, Dulichion und der waldbewachsnen Zakynthos,

Und so viele hier in der sonnigen Ithaka wohnen:

Alle werben um mich mit Gewalt und zehren das Gut auf.

Darum kümmern mich Fremdling' und Hilfeflehende wenig,

Selbst die Herolde nicht, des Volks geheiligte Diener,

Sondern ich härme mich ab um meinen trauten Odysseus.

Jene treiben die Hochzeit, und ich ersinne Verzögrung.

Erst gab diesen Gedanken ein Himmlischer mir in die Seele:

Trüglich zettelt ich mir in meiner Kammer ein feines,

Übergroßes Geweb und sprach zu der Freier Versammlung:

Jünglinge, die ihr mich liebt nach dem Tode des edlen Odysseus,

Dringt auf meine Vermählung nicht eher, bis ich den Mantel[700]

Fertig gewirkt (damit nicht umsonst das Garn mir verderbe!),

Welcher dem Helden Laertes zum Leichengewande bestimmt ist,

Wann ihn die finstere Stunde mit Todesschlummer umschattet:

Daß nicht irgend im Lande mich eine Achaierin tadle,

Lag er uneingekleidet, der einst so vieles beherrschte.

Also sprach ich mit List und bewegte die Herzen der Edlen.

Und nun webt ich des Tages an meinem großen Gewände,

Aber des Nachts dann trennt ich es auf, beim Scheine der Fackeln.

Also täuschte ich sie drei Jahr' und betrog die Achaier.

Als nun das vierte Jahr im Geleite der Horen herankam

Und mit dem wechselnden Mond viel Tage waren verschwunden,

Da verrieten mich Mägde, die Hündinnen sonder Empfindung,

Und mich trafen die Freier und schalten mit drohenden Worten.

Also mußt ich es nun, auch wider Willen, vollenden.

Aber ich kann nicht länger die Hochzeit meiden, noch weiß ich

Neuen Rat zu erfinden. Denn dringend ermahnen die Eltern

Mich zur Heirat, auch sieht es mein Sohn mit großem Verdruß an,

Wie man sein Gut verzehrt; denn er ist nun ein Mann, der sein Erbe

Selber zu schützen vermag und dem Zeus Ehre verleihet.

Aber sage mir doch, aus welchem Geschlechte du herstammst;

Denn du stammst nicht vom Felsen noch von der gefabelten Eiche.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,

Also hörst du nicht auf, nach meinem Stamme zu forschen?

Nun, so will ich's dir sagen, wiewohl du mein bitteres Leiden

Mir noch bitterer machst; denn Schmerz empfindet doch jeder,

Welcher so lang als ich von seiner Heimat entfernt ist

Und, mit Jammer umringt, so viele Städte durchwandert.

Aber ich will dir doch, was du mich fragest, verkünden.

Kreta ist ein Land im dunkelwogenden Meere,

Fruchtbar und anmutsvoll und rings umflossen. Es wohnen

Dort unzählige Menschen, und ihrer Städte sind neunzig:

Völker von mancherlei Stamm und mancherlei Sprachen. Es wohnen

Dort Achaier, Kydonen und eingeborene Kreter,

Dorier, welche sich dreifach verteilet, und edle Pelasger.

Ihrer Könige Stadt ist Knossos, wo Minos geherrscht hat,

Der neunjährig mit Zeus, dem großen Gotte, geredet.[701]

Dieser war des edelgesinnten Deukalion Vater,

Meines Vaters, der mich und den König Idomeneus zeugte.

Aber Idomeneus fuhr in schöngeschnäbelten Schiffen

Mit den Atreiden gen Troja, denn er ist älter und tapfrer:

Ich bin der jüngere Sohn, und mein rühmlicher Name ist Aithon.

Damals sah ich Odysseus und gab ihm Geschenke der Freundschaft.

Denn an Kretas Küste verschlug ihn die heftige Windsbraut,

Als er gen Ilion fuhr, und stürmt' ihn hinweg von Maleia.

In des Amnisos gefährlicher Bucht entrann er dem Sturme

Kaum und ankerte dort bei der Grotte der Eileithya,

Ging dann gleich in die Stadt, um Idomeneus selber zu sehen;

Denn er nannt ihn seinen geliebten und teuersten Gastfreund.

Aber schon zehnmal ging die Sonn auf oder schon elfmal,

Seit Idomeneus war mit den Schiffen gen Troja gesegelt.

Und ich führte den werten Gast in unsere Wohnung.

Freundlich bewirtet ich ihn von des Hauses reichlichem Vorrat

Und versorgte sein Schiff und seine Reisegefährten

Reichlich, auf Kosten des Volks, mit Mehl und funkelndem Weine

Und mit gemästeten Rindern, daß ihre Seele sich labte.

Und zwölf Tage blieben bei uns die edlen Achaier;

Denn der gewaltige Nord, den ein zürnender Dämon gesendet,

Wütete, daß man kaum auf dem Lande zu stehn vermochte.

Am dreizehnten ruhte der Sturm, und sie schifften von dannen.

Also täuscht' er die Gattin mit wahrheitgleicher Erdichtung.

Aber die horchende Gattin zerfloß in Tränen der Wehmut.

Wie der Schnee, den der West auf hohen Bergen gehäuft hat,

Vor dem schmelzenden Hauche des Morgenwindes herabfließt,

Daß von geschmolzenem Schnee die Ströme den Ufern entschwellen:

Also flossen ihr Tränen die schönen Wangen herunter,

Da sie den nahen Gemahl beweinete. Aber Odysseus

Fühlt' im innersten Herzen den Gram der weinenden Gattin;

Dennoch standen die Augen wie Horn ihm oder wie Eisen

Unbewegt in den Wimpern; denn klüglich hemmt' er die Träne.

Und nachdem sie ihr Herz mit vielen Tränen erleichtert,

Da begann sie von neuem und gab ihm dieses zur Antwort:

Nun, ich muß dich doch ein wenig prüfen, o Fremdling,

Ob du meinen Gemahl auch wirklich, wie du erzähltest,[702]

Samt den edlen Genossen in deinem Hause bewirtet.

Sage mir denn, mit welcherlei Kleidern war er bekleidet

Und wie sah er aus? Auch nenne mir seine Begleiter.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Schwer, o Königin, ist es, nach seiner langen Entfernung

Ihn so genau zu beschreiben; wir sind schon im zwanzigsten Jahre,

Seit er von dannen zog aus meiner heimischen Insel.

Dennoch will ich dir sagen, so viel mein Geist sich erinnert.

Einen zottichten schönen gefütterten Mantel von Purpur

Trug der edle Odysseus, mit einer zwiefachgeschlossnen

Goldenen Spange daran und vorn gezieret mit Stickwerk.

Zwischen den Vorderklauen des gierigblickenden Hundes

Zappelt' ein fleckichtes Rehchen; und alle sahn mit Bewundrung,

Wie, aus Golde gebildet, der Hund an der Gurgel das Rehkalb

Hielt und das ringende Reh zu entfliehn mit den Füßen sich sträubte.

Unter dem Mantel bemerkt' ich den wunderköstlichen Leibrock:

Zart und weich wie die Schale von einer getrockneten Zwiebel

War das feine Geweb und glänzendweiß wie die Sonne.

Wahrlich, viele Weiber betrachteten ihn mit Entzücken.

Eines sag ich dir noch, und du nimm solches zu Herzen!

Sicher weiß ich es nicht, ob Odysseus die Kleider daheim trug,

Oder ob sie ein Freund ihm mit zu Schiffe gegeben

Oder irgendein Fremdling, der ihn bewirtet. Denn viele

Waren Odysseus hold, ihm glichen wenig Achaier.

Ich auch schenkt' ihm ein ehernes Schwert, ein gefüttertes, schönes,

Purpurfarbnes Gewand und einen passenden Leibrock

Und entließ ihn mit Ehren zum schöngebordeten Schiffe.

Endlich folgte dem Helden ein etwas älterer Herold

Nach; auch dessen Gestalt will ich dir jetzo beschreiben.

Bucklicht war er und schwarz sein Gesicht und lockicht sein Haupthaar,

Und Eurybates hieß er; Odysseus schätzte vor allen

Übrigen Freunden ihn hoch, denn er suchte sein Bestes mit Klugheit.

Also sprach er; da hub sie noch heftiger an zu weinen,

Als sie die Zeichen erkannte, die ihr Odysseus beschrieben.

Und nachdem sie ihr Herz mit vielen Tränen erleichtert,

Da begann sie von neuem und gab ihm dieses zur Antwort:

Nun, du sollst mir, o Fremdling, so jammervoll du vorhin warst,[703]

Jetzo in meinem Haus auch Lieb und Ehre genießen!

Denn ich selber gab ihm die Kleider, wovon du erzähltest,

Wohlgefügt aus der Kammer, und setzte die goldene Spange

Ihm zur Zierde daran. Doch niemals werd ich ihn wieder

Hier im Hause begrüßen, wann er zur Heimat zurückkehrt!

Zur unseligen Stund entschiffte mein trauter Odysseus,

Troja zu sehn, die verwünschte, die keiner nennet ohn Abscheu!

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,

Schone der holden Gestalt und deines Lebens und jammre

Um den Gemahl nicht länger! Zwar tadeln kann ich den Schmerz nicht;

Denn es weint wohl jegliche Frau, die den Gatten verloren,

Ihrer Jugend Gemahl, mit dem sie Kinder gezeugt hat.

Und von Odysseus sagt man, er sei den Unsterblichen ähnlich.

Aber mäßige dich und höre, was ich dir sage.

Denn ich will dir die Wahrheit verkünden und nichts dir verhehlen,

Was ich von deines Gemahls Zurückkunft hörte, der jetzo

Nahe von hier im fetten Gebiet der thesprotischen Männer

Lebt. Er kehret mit großem und köstlichem Gute zur Heimat,

Das ihm die Völker geschenkt. Doch seine lieben Gefährten

Und sein rüstiges Schiff verlor er im stürmenden Meere,

Als er Thrinakiens Ufer verließ; denn es zürnten dem Helden

Zeus und der Sonnengott, des Rinder die Seinen geschlachtet.

Alle diese versanken im dunkelwogenden Meere.

Aber er rettete sich auf den Kiel und trieb mit den Wellen

An das glückliche Land der götternahen Phaiaken.

Diese verehrten ihn herzlich, wie einen der seligen Götter,

Schenkten ihm großes Gut und wollten ihn unbeschädigt

Heim gen Ithaka bringen. Dann wäre vermutlich Odysseus

Lange schon hier; allein ihm schien es ein besserer Anschlag,

Noch durch mehrere Länder zu reisen und Güter zu sammeln,

So wie immer Odysseus vor allen Menschen auf Erden

Wußte, was Vorteil schafft; kein Sterblicher gleicht ihm an Weisheit.

Also sagte mir Pheidon, der edle thesprotische König.

Dieser beschwur es mir selbst und beim Trankopfer im Hause,

Segelfertig wäre das Schiff und bereit die Gefährten,

Um ihn heimzusenden in seiner Väter Gefilde.[704]

Aber mich sandt er zuvor im Schiffe thesprotischer Männer,

Welches zum weizenreichen Gefilde Dulichions abfuhr.

Pheidon zeigte mir auch die gesammelten Güter Odysseus'.

Noch bis ins zehnte Glied sind seine Kinder versorget:

Solch ein unendlicher Schatz lag dort im Hause des Königs!

Jener war, wie es hieß, nach Dodona gegangen, aus Gottes

Hochgewipfelter Eiche Kronions Willen zu hören,

Wie er in Ithaka ihm, nach seiner langen Entfernung,

Heimzukehren beföhle, ob öffentlich oder verborgen.

Also lebt er noch frisch und gesund und kehret gewiß nun

Bald zurück; er irrt nicht lange mehr in der Fremde,

Von den Seinigen fern; und das beschwör ich dir heilig!

Zeus bezeuge mir das, der höchste und beste der Götter,

Und Odysseus' heiliger Herd, zu welchem ich fliehe:

Daß dies alles gewiß geschehn wird, wie ich verkünde!

Selbst noch in diesem Jahre wird wiederkehren Odysseus,

Wann der jetzige Mond abnimmt und der folgende zunimmt!

Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:

Fremdling, erfülleten doch die Götter, was du geweissagt!

Dann erkenntest du bald an vielen und großen Geschenken

Deine Freundin, und jeder Begegnende priese dich selig!

Aber es ahndet mir schon im Geiste, wie es geschehn wird.

Weder Odysseus kehrt zur Heimat wieder, noch wirst du

Jemals weiter gebracht; denn hier sind keine Gebieter,

Welche, wie einst der Held Odysseus, da er noch lebte,

Edle Gäste mit Ehren bewirteten oder entließen.

Aber ihr Mägde, wascht ihm die Füß' und bereitet sein Lager;

Bringet ein Bett und bedeckt es mit Mänteln und prächtigen Polstern,

Daß er in warmer Ruhe den goldenen Morgen erwarte.

Aber morgen sollt ihr ihn frühe baden und salben,

Daß er also geschmückt an Telemachos' Seite das Frühmahl

Hier im Saale genieße. Doch reuen soll es den Freier,

Der ihn wieder so frech mißhandelt: nicht das geringste

Hab er hier ferner zu schaffen, und zürnt' er noch so gewaltig!

Denn wie erkenntest du doch, o Fremdling, ob ich an Klugheit

Und verständigem Herzen vor andern Frauen geschmückt sei,

Ließ ich dich ungewaschen und schlechtbekleidet im Hause[705]

Speisen? Es sind ja den Menschen nur wenige Tage beschieden.

Wer nun grausam denkt und grausame Handlungen ausübt,

Diesem wünschen alle, solang er lebet, nur Unglück,

Und noch selbst im Tode wird sein Gedächtnis verabscheut;

Aber wer edel denkt und edle Handlungen ausübt,

Dessen würdigen Ruhm verbreiten die Fremdlinge weithin

Unter die Menschen auf Erden, und jeder segnet den Guten.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,

Ach, mir wurden Mäntel und weiche prächtige Polster

Ganz verhaßt, seitdem ich von Kretas schneeichten Bergen

Über die Wogen fuhr im langberuderten Schiffe!

Laß mich denn diese Nacht so ruhn, wie ich es gewohnt bin.

Viele schlaflose Nächte hab ich auf elendem Lager

Hingebracht und sehnlich den schönen Morgen erwartet.

Auch gebeut nicht diesen, mir meine Füße zu waschen;

Denn ich möchte nicht gern verstatten, daß eine der Mägde,

Die im Hause dir dienen, mir meine Füße berühre.

Wo du nicht etwa sonst eine alte verständige Frau hast,

Welche so vielen Kummer als ich im Leben erduldet;

Dieser wehr ich es nicht, mir meine Füße zu waschen.

Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:

Lieber Gast! denn nie ist solch ein verständiger Fremdling,

Nie ein werterer Gast in meine Wohnung gekommen:

So verständig und klug ist alles, was du auch sagest!

Ja, ich hab eine alte und sehr vernünftige Frau hier,

Welche die Pflegerin war des unglückseligen Mannes

Und in die Arme ihn nahm, sobald ihn die Mutter geboren:

Diese wird, so schwach sie auch ist, die Füße dir waschen.

Auf denn, und wasche den Greis, du redliche Eurykleia!

Er ist gleichen Alters mit deinem Herrn. Vielleicht sind

Jetzt Odysseus' Händ' und Füße schon ebenso kraftlos.

Denn im Unglück altern die armen Sterblichen frühe.

Also sprach sie. Die Alte verbarg mit den Händen ihr Antlitz,

Heiße Tränen vergießend, und sprach mit jammernder Stimme:

Wehe mir, wehe, mein Sohn! Ich Verlassene! Also verwarf dich

Zeus vor allen Menschen, so gottesfürchtig dein Herz ist?[706]

Denn kein Sterblicher hat dem Gotte des Donners so viele

Fette Lenden verbrannt und erlesene Hekatomben,

Als du jenem geweiht, im Vertrauen, ein ruhiges Alter

Einst zu erreichen und selber den edlen Sohn zu erziehen!

Und nun raubt er dir gänzlich den Tag der fröhlichen Heimkehr!

Ach, es höhnten vielleicht auch ihn in der Fremde die Weiber,

Wann er hilfeflehend der Mächtigen Häuser besuchte,

Eben wie dich, o Fremdling, die Hündinnen alle verhöhnen,

Deren Schimpf und Spott zu vermeiden du jetzo dich weigerst,

Daß sie die Füße dir waschen. Doch mich, die willig gehorchet,

Heißt es Ikarios' Tochter, die kluge Penelopeia.

Und nicht Penelopeiens, auch deinethalben, o Fremdling,

Wasch ich dich gern; denn tief im innersten Herzen empfind ich

Mitleid! Aber wohlan, vernimm jetzt, was ich dir sage:

Unser Haus besuchte schon mancher bekümmerte Fremdling;

Aber ich habe noch nimmer so etwas Ähnlichs gesehen,

Als du, an Stimme, Gestalt und Füßen, Odysseus gleichest.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Mutter, so sagen alle, die uns mit Augen gesehen,

Daß wir beide, Odysseus und ich, einander besonders

Ähnlich sind; wie auch du mit Scharfsinn jetzo bemerkest.

Also sprach er. Da trug die Alte die schimmernde Wanne

Zum Fußwaschen herbei; sie goß in die Wanne des Brunnen

Kaltes Wasser und mischt' es mit kochendem. Aber Odysseus

Setzte sich neben den Herd und wandte sich schnell in das Dunkel,

Denn es fiel ihm mit einmal aufs Herz, sie möchte beim Waschen

Seine Narben bemerken und sein Geheimnis verraten.

Jene kam, wusch ihren Herrn und erkannte die Narbe

Gleich, die ein Eber ihm einst mit weißem Zahne gehauen,

Als er an dem Parnaß Autolykos, seiner Mutter

Edlen Vater, besucht' und Autolykos' Söhne, des Klügsten

An Verstellung und Schwur! Hermeias selber gewährt' ihm

Diese Kunst; denn ihm verbrannt er der Lämmer und Zicklein

Lenden zum süßen Geruch, und huldreich schirmte der Gott ihn.

Dieser Autolykos kam in Ithakas fruchtbares Eiland,

Eben da seine Tochter ihm einen Enkel geboren.

Eurykleia setzte das neugeborene Knäblein[707]

Nach dem fröhlichen Mahl auf die Kniee des Königs und sagte:

Finde nun selbst den Namen, Autolykos, deinen geliebten

Tochtersohn zu benennen, den du so herzlich erwünscht hast.

Und Autolykos sprach zu seinem Eidam und Tochter:

Liebe Kinder, gebt ihm den Namen, den ich euch sage.

Vielen Männern und Weibern auf lebenschenkender Erde

Zürnend, komm ich zu euch in Ithakas fruchtbares Eiland.

Darum soll das Knäblein Odysseus, der Zürnende, heißen.

Wann er mich einst als Jüngling im mütterlichen Palaste

Am Parnassos besucht, wo ich meine Güter beherrsche,

Will ich ihn reichlich beschenkt und fröhlich wieder entlassen.

Jetzo besucht' ihn Odysseus, die reichen Geschenke zu holen.

Aber Autolykos selbst und Autolykos' treffliche Söhne

Reichten Odysseus die Hand und hießen ihn freundlich willkommen;

Auch Amphithea lief dem Enkel entgegen, umarmt' ihn,

Küßte sein Angesicht und beide glänzenden Augen.

Und Autolykos rief und ermahnte die rühmlichen Söhne,

Daß sie Odysseus ein Mahl bereiteten. Diese gehorchten,

Eilten hinaus und führten ein stark fünfjähriges Rind her,

Schlachteten, zogen es ab und hauten es ganz voneinander,

Und zerstückten behende das Fleisch und steckten's an Spieße,

Brieten's mit Vorsicht über der Glut und verteilten's den Gästen.

Also saßen sie dort den Tag, bis die Sonne sich neigte,

Und erfreuten ihr Herz am gleichgeteileten Mahle.

Als die Sonne nun sank und Dunkel die Erde bedeckte,

Legten sie sich zur Ruh und nahmen die Gabe des Schlafes.

Als die dämmernde Frühe mit Rosenfingern erwachte,

Gingen sie auf die Jagd, Autolykos' treffliche Söhne

Und die spürenden Hunde, mit ihnen der edle Odysseus,

Und sie erstiegen die Höhe des waldbewachsnen Parnassos

Und durchwandelten bald des Berges luftige Krümmen.

Aus dem stillen Gewässer des Ozeanes erhub sich

Jetzo die Sonn und erhellte mit jungen Strahlen die Gegend.

Aber die Jäger durchsuchten das waldbewachsene Bergtal:

Vornan liefen die spürenden Hund', und hinter den Hunden

Gingen Autolykos' Söhne; doch eilte der edle Odysseus

Immer voraus und schwang den weithinschattenden Jagdspieß.[708]

Allda lag im dichten Gesträuch ein gewaltiger Eber.

Nie durchstürmte den Ort die Wut naßhauchender Winde,

Ihn erleuchtete nimmer mit warmen Strahlen die Sonne,

Selbst der gießende Regen durchdrang ihn nimmer; so dicht war

Dieses Gesträuch, und hoch bedeckten die Blätter den Boden.

Jener vernahm das Getös von den Füßen der Männer und Hunde,

Welche dem Lager sich nahten, und stürzte hervor aus dem Dickicht,

Hoch die Borsten gesträubt, mit feuerflammenden Augen,

Grad auf die Jäger, und stand. Odysseus, welcher voranging,

Flog, in der nervichten Faust den langen erhobenen Jagdspieß,

Ihn zu verwunden, hinzu; doch er kam ihm zuvor und hieb ihm

Über dem Knie in die Lende; der seitwärts mähende Hauer

Riß viel Fleisch ihm hinweg, doch drang er nicht auf den Knochen.

Aber Odysseus traf die rechte Schulter des Ebers,

Und bis vorn durchdrang ihn die Spitze der schimmernden Lanze:

Schreiend stürzt' er dahin in den Staub und das Leben verließ ihn.

Um ihn waren sogleich Autolykos' Söhne beschäftigt.

Diese verbanden dem edlen, dem göttergleichen Odysseus

Sorgsam die Wund und stillten das schwarze Blut mit Beschwörung,

Und dann kehrten sie schnell zu ihres Vaters Palaste.

Als ihn Autolykos dort und Autolykos' Söhne mit Sorgfalt

Hatten geheilt, da beschenkten sie ihn sehr reichlich und ließen,

Froh des Jünglings, ihn froh nach seiner heimischen Insel

Ithaka ziehn. Sein Vater und seine treffliche Mutter

Freuten sich herzlich, ihn wiederzusehen, und fragten nach allem,

Wo er die Narbe bekommen; da sagt' er die ganze Geschichte,

Wie ein Eber sie ihm mit weißem Zahne gehauen,

Als er auf dem Parnaß mit Autolykos' Söhnen gejaget.

Diese betastete jetzo mit flachen Händen die Alte

Und erkannte sie gleich und ließ den Fuß aus den Händen

Sinken; er fiel in die Wanne. Da klang die eherne Wanne,

Stürzt' auf die Seite herum, und das Wasser floß auf den Boden.

Freud und Angst ergriffen das Herz der Alten; die Augen

Wurden mit Tränen erfüllt, und atmend stockte die Stimme.

Endlich erholte sie sich und faßt' ihn ans Kinn und sagte:

Wahrlich, du bist Odysseus, mein Kind! Und ich habe nicht eher

Meinen Herren erkannt, bevor ich dich ringsum betastet![709]

Also sprach sie und wandte die Augen nach Penelopeia,

Willens, ihr zu verkünden, ihr lieber Gemahl sei zu Hause.

Aber die Königin konnte so wenig hören als sehen;

Denn Athene lenkte ihr Herz ab. Aber Odysseus

Faßte schnell mit der rechten Hand die Kehle der Alten,

Und mit der andern zog er sie näher heran und sagte:

Mütterchen, mache mich nicht unglücklich! Du hast mich an deiner

Brust gesäugt, und jetzo, nach vielen Todesgefahren,

Bin ich im zwanzigsten Jahre zur Heimat wiedergekehret.

Aber da du mich nun durch Gottes Fügung erkannt hast,

Halt es geheim, damit es im Hause keiner erfahre!

Denn ich sage dir sonst, und das wird wahrlich erfüllet:

Wenn mir Gott die Vertilgung der stolzen Freier gewähret,

Siehe, dann werd ich auch deiner, die mich gesäuget, nicht schonen,

Sondern ich töte dich selbst mit den übrigen Weibern im Hause!

Ihm antwortete drauf die verständige Eurykleia:

Welche Rede, mein Kind, ist deinen Lippen entflohen?

Weißt du nicht selbst, wie stark und unerschüttert mein Herz ist?

Fest wie Eisen und Stein will ich das Geheimnis bewahren!

Eins verkünd ich dir noch, und du nimm solches zu Herzen:

Wann dir Gott die Vertilgung der stolzen Freier gewähret,

Siehe, dann will ich selbst die Weiber im Hause dir nennen.

Alle, die dich verraten und die unsträflich geblieben.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Mütterchen, warum willst du sie nennen? Es ist ja nicht nötig.

Kann ich nicht selbst aufmerken und ihre Gesinnungen prüfen?

Aber verschweig die Sache und überlaß sie den Göttern.

Also sprach er. Da eilte die Pflegerin aus dem Gemache,

Anderes Wasser zu holen; das erste war alles verschüttet.

Als sie ihn jetzo gewaschen und drauf mit Öle gesalbet,

Nahm Odysseus den Stuhl und zog ihn näher ans Feuer,

Sich zu wärmen, und bedeckte mit seinen Lumpen die Narbe.

Drauf begann das Gespräch die verständige Penelopeia:

Fremdling, ich will dich jetzo nur noch ein weniges fragen;

Denn es nahet bereits die Stunde der lieblichen Ruhe,

Wem sein Leiden vergönnt, in süßem Schlummer zu ruhen.

Aber mich Arme belastet ein unermeßlicher Jammer![710]

Meine Freude des Tags ist, unter Tränen und Seufzern

In dem Saale zu wirken und auf die Mägde zu sehen.

Aber kommt nun die Nacht, da alle Sterblichen ausruhn,

Lieg ich schlaflos im Bett, und tausend nagende Sorgen

Wühlen mit neuer Wut um meine zerrissene Seele.

Wie wenn die Nachtigall, Pandareos' liebliche Tochter,

Ihren schönen Gesang im beginnenden Frühling erneuert

(Sitzend unter dem Laube der dichtumschattenden Bäume,

Rollt sie von Tönen zu Tönen die schnelle melodische Stimme,

Ihren geliebten Sohn, den sie selber ermordet, die Törin,

Ihren Itylos klagend, den Sohn des Königes Zethos):

Also wendet sich auch mein Geist bald hiehin bald dorthin:

Ob ich auch weile beim Sohn und alle Güter bewahre,

Meine Hab und die Mägd' und die hohe prächtige Wohnung,

Scheuend das Lager des Ehegemahls und die Stimme des Volkes,

Oder jetzt von den Freiern im Hause den tapfersten Jüngling,

Welcher das meiste geschenkt, zu meinem Bräutigam wähle.

Als mein Sohn noch ein Kind war und schwachen Verstandes, da durft ich

Ihm zuliebe nicht wählen, noch diese Wohnung verlassen;

Nun, da er größer ist und des Jünglings Alter erreicht hat,

Wünscht er selber, ich möge nur bald aus dem Hause hinweggehn,

Zürnend wegen der Habe, so ihm die Achaier verschwelgen.

Aber höre den Traum und sage mir seine Bedeutung.

Zwanzig Gänse hab ich in meinem Hause, die fressen

Weizen mit Wasser gemischt, und ich freue mich, wenn ich sie anseh.

Aber es kam ein großer und krummgeschnabelter Adler

Von dem Gebirg und brach den Gänsen die Hälse; getötet

Lagen sie all im Haus, und er flog in die heilige Luft auf.

Und ich begann zu weinen und schluchzt im Traume. Da kamen

Ringsumher, mich zu trösten, der Stadt schönlockige Frauen;

Aber ich jammerte laut, daß der Adler die Gänse getötet.

Plötzlich flog er zurück und saß auf dem Simse des Rauchfangs,

Wandte sich tröstend zu mir und sprach mit menschlicher Stimme:

Tochter des fernberühmten Ikarios, fröhlichen Mutes!

Nicht ein Traum ist dieses, ein Göttergesicht, das dir Heil bringt.

Jene Gänse sind Freier, und ich war eben ein Adler;

Aber jetzo bin ich, dein Gatte, wiedergekommen,[711]

Daß ich den Freiern allen ein schreckliches Ende bereite.

Also sprach der Adler. Der süße Schlummer verließ mich;

Eilend sah ich im Hause nach meinen Gänsen, und alle

Fraßen aus ihrem Troge den Weizen, so wie gewöhnlich.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Fürstin, es wäre vergebens, nach einer anderen Deutung

Deines Traumes zu forschen. Dir sagte ja selber Odysseus,

Wie er ihn denkt zu erfüllen. Verderben drohet den Freiern

Allzumal, und keiner entrinnt dem Todesverhängnis.

Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:

Fremdling, es gibt doch dunkle und unerklärbare Träume,

Und nicht alle verkünden der Menschen künftiges Schicksal.

Denn es sind, wie man sagt, zwo Pforten der nichtigen Träume:

Eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet.

Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn,

Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung;

Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn,

Deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen.

Aber ich zweifle, ob dorther ein vorbedeutendes Traumbild

Zu mir kam. O wie herzlich erwünscht wär es mir und dem Sohne!

Eins verkünd ich dir noch, und du nimm solches zu Herzen.

Morgen erscheinet der Tag, der entsetzliche! der von Odysseus'

Hause mich trennen wird; denn morgen gebiet ich den Wettkampf,

Durch zwölf Äxte zu schießen, die jener in seinem Palaste

Pflegte wie Hölzer des Kiels in grader Reihe zu stellen;

Ferne stand er alsdann und schnellte den Pfeil durch die Äxte.

Diesen Wettkampf will ich den Freiern jetzo gebieten.

Wessen Hand von ihnen den Bogen am leichtesten spannet

Und mit der Senne den Pfeil durch alle zwölf Äxte hindurchschnellt:

Siehe, dem folg ich als Weib aus diesem werten Palaste

Meines ersten Gemahls, dem prächtigen reichen Palaste,

Dessen mein Herz sich vielleicht noch künftig in Träumen erinnert.

Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,

Zögere nicht und gebeut in deinem Hause den Wettkampf.

Wahrlich, noch eher kommt der erfindungsreiche Odysseus,

Ehe von allen, die mühsam den glatten Bogen versuchen,[712]

Einer die Senne spannt und den Pfeil durch die Eisen hindurchschnellt.

Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:

Fremdling, wolltest du mich, im Saale sitzend, noch länger

Unterhalten, mir würde kein Schlaf die Augen bedecken.

Aber es können ja doch die sterblichen Menschen nicht immer

Schlaflos sein; die Götter bestimmten jeglichen Dinges

Maß und Ziel den Menschen auf lebenschenkender Erde.

Darum will ich jetzo in meine Kammer hinaufgehn,

Auf dem Lager zu ruhn, dem jammervollen, das immer

Meine Tränen benetzen, seitdem Odysseus hinwegfuhr,

Troja zu sehn, die verwünschte, die keiner nennet ohn Abscheu!

Dorthin geh ich zu ruhn; du aber bereite dein Lager

Hier im Haus auf der Erd oder laß ein Bette dir bringen.

Also sprach sie und stieg empor zu den schönen Gemächern,

Nicht allein; es gingen mit ihr die übrigen Jungfraun.

Als sie nun oben kam mit den Jungfraun, weinte sie wieder

Ihren trauten Gemahl Odysseus, bis ihr Athene

Sanft mit süßem Schlummer die Augenlider bedeckte.

Quelle:
Homer: Ilias / Odyssee. München 1976, S. 696-713.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Odyssee
Universal-Bibliothek Nr. 280: Odyssee
Odyssee
Ilias · Odyssee
Die Odyssee
Odyssee

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Blumen und andere Erzählungen

Blumen und andere Erzählungen

Vier Erzählungen aus den frühen 1890er Jahren. - Blumen - Die kleine Komödie - Komödiantinnen - Der Witwer

60 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon