[150] Die Zeitungen meldeten uns kürzlich von einem französischen Sonderling, der noch vor wenigen Jahren alle Vergnügungen von Paris genoß, und nun einsam in einem Bergschlosse am Atlas hauset. Er hat sich zum Moslem gemacht, hält sich eine bewaffnete Schar von Arabern, rächt empfangene Beleidigungen oder ihm widerfahrene Räubereien mit Flinte und Säbel, gibt den Nachbarhäuptlingen Feste, hegt öffentliche Gerichte in seiner Burg, jagt, den Haikh um das Haupt gebunden, im Burnus, den Jatagan an der Seite auf dem Wüstenrosse durch die Metidschah. So spielt er die doppelte Rolle des Scheichs und eines mittelalterlichen Raubgrafen. Die dritte kommt hinzu, wenn er der beiden ersten müde ward. Dann geht er auf ein paar Tage nach Algier, wird Franzose unter Franzosen, liest Journale, trinkt Gascognerwein und lacht in Gesellschaft seiner Landsleute über seine eigenen Phantastereien.
Der französische Sonderling ist selten. Er hat immer etwas Theatralisches, er wäre unglücklich, wenn niemand den Narren bemerkte.
Der englische Sonderling will durch seine Whims nur die Souveränitätsrechte persönlicher Freiheit ausüben; es liegt ihm nichts daran, ob man auf ihn achte. Lord Gordon wurde Jude mit allen Formalitäten, ging nur mit Juden und ließ sich nur von Juden bedienen, ohne dadurch Aufsehen erregen zu wollen. Gleich verborgen hielt sich der Gentleman in Sohosquare, der ein Serail von einer Frau und sechs Odalisken in vollkommener Ordnung und Einigkeit zu besitzen verstand. Auch der Mann, der jahraus, jahrein auf einem Boote in der Themse lebte, um den Taxen zu entgehen, der Squire, welcher seinen Wohnsitz in einem eisernen Wagen aufgeschlagen hatte, und der Lord, dessen einziges Vergnügen darin bestand, sich von Mädchen, die einander bei diesem[151] Geschäfte ablösen mußten, in den Haaren wühlen zu lassen, machten sonst nicht viel Wesens von sich. Der Klub der schmutzigen Hemden in London, der am Eingang des Versammlungszimmers das Gesetz publizierte, »daß kein besuchender Freund ohne Hemd zugelassen werde«, residierte unter der Erde in der Heimlichkeit. – Den Satz: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, praktisch zu machen, das und sonst nichts weiter ist des englischen Sonderlings Absicht. Beide, der französische und der englische treffen darin überein, daß sie für sich oder höchstens nur mit einigen Bundesbrüdern Originale sein wollen; größere Gesellschaft würde sie genieren.
Der deutsche Sonderlingsgeist nistet sich am liebsten unter den Gelehrten ein und zeigt sich meistens immer reformatorisch. Unsere Sonderlinge sind Apostel ihrer Launen und möchten alle Heiden zu ihnen bekehren. Weil nun aber das Leben an vielen Punkten ein gar harter und widerstehender Block ist, so werden die weichsten Stellen ausgesucht, an denen die Bearbeitung noch am ehesten gelingen mag. Diese sind Erziehung, Sprache, Schreibung, allenfalls Gebräuche. Basedow oder ein Basedowianer buk die Wissenschaften den Kindern in Semmelteig und ließ die Kenntnisse aufessen. Der andere schrieb fon statt: von. Ein dritter spricht und schreibt plötzlich, als sei die Sprache seine Magd, die sich alles von ihm gefallen lassen müsse. Ein vierter findet Titulaturen lästig und fordert jedermann auf, ihn und jeden beim Namen zu nennen; das andere sei vom Übel.
Auch das Geschlecht der Sonderlinge ist im Absterben, wie das der komischen Figuren. Einer unserer größten war Jahn. Er hatte sich nicht bloß auf Erziehung und Sprache versessen, sondern wollte die Welt überhaupt in die Gestalt bringen, wie sie etwa ein gescheiter altmärkischer Bauer, der zugleich zufällig zehn Jahre lang studiert hat, erblicken mag. Ich habe gesagt, er war. Man muß von ihm in der vergangenen Zeit reden. Er verscholl. Ohne die Nachricht, daß bei der Einweihung des Schwedensteines unweit Lützen plötzlich auf dem Weißenfelser Markte ein Alter in weißem Bart erschienen sei, wäre wohl kaum noch von ihm einmal die[152] Rede gewesen. Jahn war der reformatorische Sonderling par excellence; er wollte alles umkehren. Berlin lag ihm nicht an der rechten Stelle, an der Elbe sollte ein Preußenheim erstehen. Eine Volkstracht empfahl er an, worin jeder bei allen öffentlichen Gelegenheiten zu erscheinen habe, der Frack war ihm eine Todsünde, Volksfeste begehrte er mit dreiabendlichen Feuern, an Tagen, deren Gedächtnis erst durch die Gelehrten im Volke hätte wieder erschaffen werden müssen. Handarbeiten müsse jeder lernen, der Sinn für das Schöne sei zu wecken, nur solle nichts Nackt-Griechisches öffentlich aufgestellt werden. Selbst den Mädchen legte er Leibesübungen auf, und sogar schießen sollten sie lernen, »um nicht kunstgerecht wehrlos zu sein, und beim Knall des Gewehres zusammenzufahren, wie Gänse beim Donner«. – Über den Staat müsse jeder unterrichtet sein. Niemand solle Staatsbürger werden, der nicht vorher ein Examen über Pflichten und Rechte des Staatsbürgers bestanden habe. Die eigentlichen volkstümlichen Bücher müßten noch erst geschrieben werden, provisorisch mögen einige Stücke von Schiller dafür gelten. Insbesondere verlangt er nach einer »Alruna«, einem »Faust« und »Eulenspiegel«, nach einem »Denkbuch für Deutsche«, er verlangt das alles wie der Bauer, der in dem bekannten Liede bei dem Maler das Bild bestellt. Goethes »Faust« läßt er zwar Gerechtigkeit widerfahren, indessen genügt er ihm doch nicht, denn er will einen zweiten haben. »Für diesen zweiten«, sagt er, »wünsche ich eine Geistervereinigung: Knigges Alle-Schulen-mit-durchgemacht-Haben; Lichtenbergs Niefehlen; Richters Unerschöpflichkeit; Wielands Honigbereitungskunst; Meyerns hohen Volkssinn und Kaiserbergs und Luthers lebendige Rede.«
Zwischen solchen Grillen, welche die deutsche Gelehrtenstubenluft nicht verleugnen können, obgleich ihr Fänger viel im Freien verweilte und rüstig wanderte, finden sich im »Volksthum« helle Blicke über Regierungseinrichtungen, allgemeine Bewaffnung, Assoziationen.
Jahns Stärke ist altmärkischer derber Bauerverstand. Mit diesem Bauerverstand trifft er, soweit ein solcher reicht, nicht selten den Nagel auf den Kopf. Die Anschauung eines Nächsten,[153] eines Details ist sehr klar; auch zwei nahe Punkte weiß er mit rascher Vergleichung und hausbacknem Witz in Einigung zu setzen; Sprichwörter sind nach Volksmanier seine Beweisstellen. Charakteristisch ist auch der Ortssinn, mit dem er in weiten Landgebieten sich so orientiert zeigt, wie ein tüchtiger Bauer in der Feldmark seines Dorfes. Das Streichen der Berge, die Wendung der Wälder, das Stromnetz, die Lage der Städte – alles dieses lebt vor ihm in handgreiflichen Bildern. Aber darüber hinaus geht es auch nicht bei ihm. Die schadhaften Verhältnisse sieht er sehr richtig ein. Aber will er sie besser gestalten, so läuft es immer auf eine Verbauerung hinaus. In den »Merken zum Volksthum« wirft er an einer Stelle einen Seitenblick auf Preußens wehrlose Lage zwischen Frankreich und Rußland. Sie ist unstreitig, so wie die Sache jetzt steht, bis dem Staate die Geschicke bescheren, eine wahrhaft nationale Hegemonie über Nord- und Mitteldeutschland zu gewinnen, dessen größtes Unglück; sie erhält ihn in einer beständigen nervösen Spannung, die ihn nicht zu Atem kommen läßt und treibt ihn oft ohne Schuld eines einzelnen zu antigermanischen Sympathien hin. Aber nur ein Weltverhängnis kann den Fehler bessern. Würde man ihn bessern dadurch, daß man, wie Jahn andeutet, Hammen – Grenz- und Schirmwälder – in Rheinpreußen und Litauen anlegte und dies mit Grenzern besetzte? Wie soll man in Westen die Pflänzlinge zu dem halbwilden Geschlechte unter den Fabrikarbeitern finden, und würde im Osten der Wald eher, als der Feind im Lande stehen?
Von diesen und mehreren dergleichen Vorschlägen muß es heißen, wie in dem Vaudeville: Es ginge wohl, aber es geht nicht. – Etwas ist für Jahn nie vorhanden gewesen: das Gefühl von der Kultur der Gegenwart und dem Kontakte, in dem die europäischen Völker stehen und immer stehen werden.
Wie ist es nun gekommen, daß ein gar nicht gewöhnlich begabter Mensch ein so abschmeckendes Original hat werden können? denn so nenne ich ihn mit vollem Rechte, weil seine Ideen nichts Organisches haben, weil seine Tugend eine geistlose ist und nur die Erzeugung einer unsterblichen Langeweile[154] ihr Endziel sein würde. – Zuvörderst war es sein Unglück, daß er neben dem Mutterwitze auch Gedächtnis von weiter Kapazität und bleierne Zähigkeit erhalten hatte, dadurch aber die Anlage zum Wissen und zur Gelehrsamkeit. Die feine Aura seminalis, welche im echten Gelehrten erst die Kraft hervorbringt, lebendige Früchte der Intelligenz zu zeugen, fehlte jedoch, oder wurde von dem plumpen Bestandteil seines Wesens überwuchert, es kam daher nur zu Windeiern und Mißgeburten, weil er zu praktisch war, es bei kahlen Notizen bewenden zu lassen. Er hat unendlich viel zusammengelesen, aber alles wird roh in die dürftigste Gesichtsweite geschoben. Fichte bricht auch, wie wir gesehen haben, Geschichte und die Phänomene des Geistes nach seinen Zwecken um, aber es geschieht mit großem Sinn und mannigfaltiger Bildung. Jahn trägt eigentlich nichts im Kopfe als sein Ideal eichelfressender Germanen, versetzt mit etwas starrem Protestantismus, und dann eine Theorie des Drauf- und Dreinhauens, und auf diese Leisten schlägt er Kaiser und Könige, Schulen und Universitäten, Sitte, Gesetz, Jesuiten und Hussiten. Über die höheren Regionen des Menschenlebens: Kirche und Literatur, bringt er daher immer nur das Trivialste bei. Eine Ausnahme macht jedoch seine Betrachtung des Dreißigjährigen Krieges, in welcher er für diesen merkwürdigen Kampf die verschiedenartigsten und freiesten Augenpunkte genommen hat. Mit jener Periode hatte er sich am nachhaltigsten beschäftigt; es ist daher zu beklagen, wenn ihm das letzte Unglück, das er erlitten, die Mittel geraubt hätte, ihre Geschichte zu schreiben.
Die Zeit war schlaff geworden, die Bildung krankte. Eine Erscheinung war daher indiziert, ähnlich dem, was die Franzosen fünfzig Jahre früher in Rousseau empfangen hatten. Wir waren kaum noch ein Volk, wollten wieder eines werden, nicht ein theoretisch konstruiertes, sondern ein historisches auf unseren Wurzeln; dieser Punkt wurde so tief von allen gefühlt, wie die Zeitgenossen Rousseaus den Haß gegen das abgelebte Feudalwesen, die Anmaßungen eines heuchlerischen Klerus, die Schwätzereien der Sophisten und die spanischen Stiefeln einer zur Zeremonie gewordenen Sitte fühlten.[155] Jahn traf den Punkt des Gemeingefühls, wie Rousseau ihn getroffen hatte. Wie kam es, daß Rousseau im »Contrat social« den Kodex der Revolution zustande brachte, und in der »Neuen Héloise«, in der Schrift über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, im »Emile«, in der Abhandlung über den verderblichen Einfluß der Bildung die Zerstörung aller geltenden Begriffe vorbereiten konnte, während Jahn nur eine Handvoll junger Menschen eine Zeitlang beherrschte, dann vom Schauplatze abtrat gleich einem Kapuziner, von dessen Rede nichts nachbleibt, als das Gellen im Ohr? – Wenn man antworten wollte: Eben weil dieser nicht jener war, so täte man unserem Landsmann unrecht. Denn auch Rousseau hat keine Tiefe der Ideen, keinen umfassenden Geist, er weiß auch nur zu deklamieren, gewagte Sätze durcheinanderzuwerfen, es fehlt auch ihm jede gründliche Spekulation oder geschichtliche Anschauung, seine Prospekte sind ebenfalls nichts weiter als brillant beleuchtete Theaterdekorationen. Die Begabung beider möchte daher nicht so verschieden sein. Und die Sache, die der Deutsche verficht, war besser, denn er hatte etwas Reelles im Sinne, während der Genfer nur auf Zerstörung und nihilistische Träume ausging.
Der Grund liegt darin, weil bei den Franzosen selbst das Falsche in einem allverbreiteten Fluidum schwebt, wodurch es eine Zeitlang Gemeingut werden kann. Dieses Fluidum, mag man es Geist der Nation, öffentliche Meinung, gesellschaftliche Bildung oder wie sonst nennen, umspült jeden Franzosen oder Französierten. Auch Rousseau wurde davon in seiner Einsamkeit, unter seinen Kräutern und Notenblättern angeweht. Mochte er sich in seine Dachstube, nach Savoyen oder Motiers Travers zurückziehen, die Luft folgte ihm, in der alles, was er sagte, so klingen mußte, als habe er nur Millionen aus ihrem Herzen gesprochen. Die Zeiten der heuschrecken- und honigessenden Prediger sind längst vorüber; in der modernen Welt muß selbst der Hypochondrist, der Reformator in einer gewissen wilden Eleganz auftreten, die ihn den eleganten Geistern annähert. Es ist damit wie mit dem Naturzustande in den alten Schäferspielen,[156] der auch nur der verkleidete Zustand der Ducs und Duchessen war. Jene wilde Eleganz besaß Rousseau, er mochte sich noch so sehr anstellen, als sei das Gehen auf allen vieren nach seiner Meinung das Normalziel der Menschheit.
Dagegen ist in Deutschland selbst die Wahrheit einsiedlerisch. Es fehlt die Luft für rasch sich fortleitende Schallstrahlen. Die Deutschen sind maulfaul, oder es herrscht unter ihnen eine Nachgiebigkeit gegen das gesprochene Wort, welche die freie Verhandlung selten zuläßt. Daher treten die Meinungen, wenn sie nicht aus dem Schachte des tiefsten Geistes entspringen, ohne Schliff hervor, bekommen leicht den Rost barocker Geschmacklosigkeit. Jahn brachte es mit allem guten Willen für eine gute Sache nur bis zu Sätzen und Vorschlägen, welche den gebildeten Teil des Volks nicht affizieren konnten, weil das Gepräge der Bildung ihnen fehlte, jenen Teil wohl gar anwiderten, obgleich dessen Interessen mit denen des Redners sympathisierten.
Das Gefühl des Mißstandes, welches aus solcher Entfernung entsteht, bleibt aber dem, der sich vor der übrigen Welt in den altdeutschen Rock einhüllt, und dieses sucht er sich zu verbergen dadurch, daß er sich immer mehr in seiner Manier versteift. Jahn pflegte zu sagen, daß um auf die Menschen zu wirken, man nicht aufhören dürfe zu reden. In seinen Schriften wiederholt er wenigstens unaufhörlich dieselben Gedanken. Und, als sei er auch in dieser Verschanzung noch nicht sicher, so schafft er sich eine Sprache ähnlich dem Gürtelpanzer des Armadills, in welcher Alliterationen, der Numerus gleichklingender Worte, Parallelismen und neualte Schallungeheuer die einzelnen Schilder und Schuppen darstellen. Man begreift sonst nicht, wie, wer die Menschen überreden wollte, nicht die Töne wählte, an die ihr Ohr gewöhnt war.
Fichte hatte in einer seiner Reden auf einen geschlossenen Jugendstaat hingewiesen, als auf eines der Mittel, wodurch die Erziehung des zukünftigen Geschlechts möglich werden könne. Jahn, der sich häufig wie der unbewußte Affe Fichtes[157] gebärdet, machte diesen phantastischen Staat eine Zeitlang wirklich. In demselben herrschte eine Aristokratie des Ringens, Schwingens, Rennens und Reckens.
Die Turnkunst ist ein Musterbeispiel, wie man eine ganz einfache Sache verderben und konfus machen kann. Jahn sagt, er sei 1809 nach Berlin gekommen, schon 1810 haben die Anfänge der Turnkunst sich gezeigt, aus einfachen Jugendspielen habe sich die Sache entwickelt, 1811 sei der erste Turnplatz eingerichtet gewesen. Gemeinsam entstanden nennt er den Komplex der Übungen durch Lehren und Lernen der Lernenden und Lehrenden. – Sieht man das einzelne durch, so erblickt man eine zweckmäßige Steigerung vom Leichten zum Schweren, vom Einfachen zum Zusammengesetzten.
Was konnte planer sein? Was lag näher, als den Körper des Menschen auch einmal ins Auge zu fassen, nachdem so viele an Leib und Seele dadurch vermüfft worden waren, daß sie nie erfahren hatten, sie besäßen Arme, Füße, Schenkel, Muskeln, Sehnen? Hatten die Alten nicht recht gehabt mit ihrer Gymnastik, und war das nicht längst von allen Gescheiten eingesehen worden? Wieder also lag vor Jahn eine Aufgabe, vorbereitet, überschaulich, greifbar, schon hin und her von Basedow, Guthsmuths, Salzmann und andern gewendet. Sein guter Stern wollte, daß der Stoff ihm appretiert genug und doch auch noch roh genug unter die derb zugreifende Faust geriet. Er hätte daraus viel machen können.
Er aber verdarb auch diesen Stoff, wie den des Volkstums. Daß er das Ganze zu einem System abzurunden suchte, war gut, daß er Kampfspiele anreihte, ging aus dem Drange der Zeit hervor, welche in den Knaben ihre Kämpfer vorzuüben hatte. Auch das mag hingehen, daß er seine Turner Lieder singen ließ, Feste unter ihnen stiftete, daß er ihnen vorsprach von dem hohen Werte des Lebens unter ihresgleichen, und davon, daß die Turnkunst die verlorene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherstellen solle; wenn es gleich besser gewesen wäre, solche Gedanken nicht als stolze Reflexion in der Jugend wachsen zu machen, sondern abzuwarten, daß dergleichen sich als unausgesprochenes[158] Gefühl zeitigte und an dem nachherigen Leben der Zöglinge zum Blühen kam.
Warum nun aber den unverständlichen Jargon der Schule stiften, durch den seine Schar gewöhnt wurde, sich in ihren leinenen Jacken schon für etwas Apartes anzusehen? Warum dem jungen Stolze Dinge sagen, aus denen unreife Menschen abnehmen mußten, sie würden zwischen Kletterbaum und Springpferd Kerle von ganz besonderem Korn und Schrot, aus denen sie die Einbildung schöpften, nur an Ger und Reck werde die echte Selbstständigkeit herangepflegt? Wie läßt sich endlich das siebente Turngesetz entschuldigen, welches den Fanatismus zum Verteidiger des Instituts aufrief?
Die Sache konnte nicht anspruchslos genug angefaßt werden, wenn sie heilsame Dauer erlangen sollte. Aber zu einer so anspruchslosen Behandlung war Jahn der Mann nicht. Er mußte immer rumoren; der Exzeß, die Verwirrung war recht eigentlich sein Element, darin waltete er auch, wie Augenzeugen versichert haben, später während des Krieges. Er machte aus einem harmlosen Tummeln in der Hasenheide, dem nachher schon von selbst Mut, Zuversicht, Gesundheit der Seele im Leben gefolgt wären, eine Propaganda, einen Staat im Staate.
In etwas müssen ihn freilich die damaligen Umstände entschuldigen. Die Lage war so kritisch, daß das verzweifelnde Gefühl nach jedem Strohhalme griff. Die Alten waren mannigfach verwickelt und geplagt, sie konnten allzumal Sünder heißen und hatten in einem Atem zu zweien Götzen gebetet. Auf der unbeschriebenen Tafel der Jugend war eher noch Platz für ein starkes Wort zu finden. Dennoch würde sich ein reiner und klarer Geist anders zu fassen gewußt haben.
Dem guten Jahn spielte seine Eitelkeit und Herrschsucht einen Streich. Er gehörte zu den liberalen Despoten, die immer das Wort der Freiheit im Munde führen und wenn sie das Heft in die Hand bekommen, ebenso sind, wie die anderen. Es genügte ihm nicht am Werke, das Werk sollte auch schillern und glänzen. Im großen zu herrschen war ihm versagt, so wollte er sich denn ein kleines Reich gründen,[159] dessen Patriarch oder Alter vom Berge er hätte werden mögen.
Nicht, daß er dergleichen sich absichtlich vorgesetzt hätte. Er war überhaupt kein Held der Absicht, er war, wenn er wirken wollte, ein von dunkeln Anstößen Getriebener. Eine innere Geschichte der Turnkunst würde interessant sein, besonders in der Beziehung, um zu erkennen, wann sie ihre Naivität verlor, in der sie gut war, und zum bewußten Eifermute überging, der sie zu etwas Bedenklichem machte und ihren Untergang herbeiführte.
Dieser hat abermals eine Lücke im Dasein der Jugend gerissen. Manche hohle Einbildung, manche leere Aufspannung wäre gewiß unterblieben, welche nun während der Unruhe des Friedens jene Lücke hat ausfüllen sollen.
Ausgewählte Ausgaben von
Memorabilien
|
Buchempfehlung
»Wenn die Regeln des Umgangs nicht bloß Vorschriften einer konventionellen Höflichkeit oder gar einer gefährlichen Politik sein sollen, so müssen sie auf die Lehren von den Pflichten gegründet sein, die wir allen Arten von Menschen schuldig sind, und wiederum von ihnen fordern können. – Das heißt: Ein System, dessen Grundpfeiler Moral und Weltklugheit sind, muss dabei zum Grunde liegen.« Adolph Freiherr von Knigge
276 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro