Neuntes Kapitel

[464] Was er in den folgenden Tagen von der Lebensweise Flämmchens hörte, war das Ausschweifendste von der Welt. Sie hatte wirklich in ihrem einsamen Landhause eine Art von Hof oder Menagerie, wie man es nennen will, versammelt, bestehend aus den wildesten jungen Leuten der Residenz, die, durch den Ruf ihrer Schönheit angelockt, dorthin geströmt waren. Mit ihnen wurden die tollsten Streiche verübt, zuweilen toste dieses wütende Heer bei Nacht auf schnellen Pferden unter entsetzlichem Geschrei durch die Gegend, so daß die Landleute in ihren stillen Hütten sich vor dem Unwesen segneten, oder man sprengte falsche Nachrichten von Räuberbanden und Unglücksfällen aus, welche Scharwachen und Beamte aufregten, so daß sich auch schon die Polizei hier in das Mittel hatte legen wollen, jedoch höheren Ortes bedeutet worden war, solches zu unterlassen, da sich denn doch alles außer dem Bereiche eigentlicher Vergehungen hielt.

Am brausendsten aber schäumte Flämmchens üppige Lebenskraft im Tanze aus. Täglich war Ball bei ihr, wozu man freilich die Damen unter den Hausmädchen und den Bauerdirnen der Nachbarschaft suchen mußte, denn anständige Familien wollten ihre Töchter zu diesen Vergnügungen nicht abordnen. Wer Flämmchen tanzen gesehen, sprach darüber, wie der Prinz; einstimmig erklärte man, daß keine Beschreibung den Zauber dieser Anschauung wiedergeben könne.[464]

Die Seitenverwandten des Domherrn, lüstern nach dem Besitze der beträchtlichen Erbschaft, und erschreckt durch die Angabe von Flämmchens Zustande, welcher, wenn er gegründet war, ihnen ihre Aussicht entzog, hatten in dieses Gewirre jenen ältlichen Mann als Aufseher gesendet.

War Flämmchens Angabe über ihn richtig, so konnte freilich sein Amt nicht wohl schlechter versehen sein.

Zum Teil hörte Hermann diese Dinge aus Flämmchens Munde selbst, welcher er eine Zusammenkunft in ihrem Gasthofe nicht hatte abschlagen können. Dort, den Kopf an seine Brust gelehnt, ihn mit beiden Armen umklammernd, tat sie ihm Entdeckungen, welche man von einem so leichtfertig erscheinenden Wesen nicht hätte erwarten sollen. Es waren abgebrochne Schmerzenstöne, nur der Ahnung verständlich, in geordneten Worten kaum auszusprechen, am wenigsten auf dem Papiere. Der Naturgeist zuckte hier gleichsam in seiner ganzen neckischen Ungebundenheit unter seiner menschlichen Hülle, All und Individuum lagen miteinander im Streite, und aus ihrem Ringen entsprangen die Zuckungen, welche äußerlich wie Possen aussahn.

Merkwürdig waren ihm besonders ihre Geständnisse, wie sich die unbesiegliche Lust zum Tanze in ihr entwickelt habe.

»Als du mich in die grüne Einöde zu der Alten gebracht hattest, wurde ich von einer unsäglichen Angst befallen«, sagte sie. »Die Berge und Felsen wuchsen mir in der Brust, die Zweige der Bäume wanden sich durch meinen Kopf und peitschten, vom Sturme geschüttelt, mir das arme Hirn wund, ich fühlte in mir die Kräuter und Moose stechend sprießen, und mir war, als flösse ich auseinander, dahin nach weiten kahlen Eisfeldern und dorthin nach blutroten Granatenbüschen. Ich wollte mir Luft machen in Worten, aber die Zunge versagte mir den Dienst, ich wollte es abzeichnen, mein Elend, an hoher Steinwand, aber die Hand sank lahm herunter, da merkte ich, daß meine Füße sich zu regen begannen, daß meine Arme folgten, der Leib in sanften Drehungen sich schwang, Erlösung zu finden von dem Inneren, Großen, Entsetzlichen; ach wie süß schlummerte ich nach dieser Anstrengung ein, Fels, Berg, Baum und Kraut standen wieder außer mir, der[465] Mond wurde mein bester Freund! Das ist nun der Tanz, den ich nicht lassen kann, der mich mir selbst wiedergibt, wenn der Weltgraus mich überwinden und in mir einziehen will. Könntest du mich lieben, und immer bei mir sein, so wäre alles gut, dann hätte ich eine Stütze und würde auch aufhören zu tanzen; leider wird es nicht so gut werden.«

Sie nahm ihm noch einmal das Versprechen ab, sie recht bald zu besuchen, was er ihr nun um so lieber gab, als er einsah, daß sie in ihrem wilden Treiben dem Verderben zueile, und hoffen durfte, durch seine Anwesenheit auf der Villa vielleicht manches ordnen und schlichten zu können. Dies sollte den Abschluß der Verwicklungen bilden, welche sein Leben, wie er sich überzeugte, seit einigen Jahren unnütz aufgesponnen hatten. Er hatte die Freiheit von bürgerlichen Verhältnissen gesucht, und nicht bedacht, daß eine solche eigentlich ganz in das Leere führe. Er hatte überall auf die gutmütigste Weise geholfen, und die Welt war indessen unbekümmert um ihn ihren selbstischen Gang weitergeschritten. Sein Vermögen erschöpfte der unüberlegte Ankauf im Badischen; er konnte in Not geraten.

Alles drängte ihn zu einer vernünftigen Entsagung, zu einer bescheidnen Rückkehr. Nach mancher Träne bittern Unmuts, die er verweinte, beschloß er, die Verhältnisse wieder aufzunehmen, auf welche er so stolz herabgesehen hatte, und die Vorbereitung zu einem Staatsamte aufs neue zu beginnen, die ihm früher so unleidlich geworden war. Wilhelmi, dem er seinen Vorsatz mitteilte, lobte ihn sehr, und bestärkte ihn darin. Durch dessen eifrige Bemühung wurde er des fernen Grundeigentums entledigt, freilich mit großer Einbuße, indessen zog er so viel aus diesem Handel noch heraus, daß er sich eine Zeitlang allenfalls damit hinhalten konnte.

Wilhelmi tröstete ihn, wenn er ihn schwermütig sah, und seine Klagen über die verlornen Jahre hörte. »Was ist es weiter?« rief er. »Du hast eine Weile vagabundiert, das wird dir doch zugute kommen. Viel besser ist es so, als wenn du dich, wie ich, zu früh gefesselt hättest. Die Jugend soll verschwärmt werden, manches ist gewiß an dir hangen und kleben geblieben, wovon du jetzt selbst nichts ahnest.«[466]

»Ich will es wünschen«, versetzte Hermann, »wenn ich es gleich nicht zu hoffen wage. Der Reichtum eines sogenannten bewegten Lebens ist wohl nur täuschend. Von einem Punkte aus soll der Mensch erwerben. Wer, zerstreut, von der Mannigfaltigkeit Resultate begehrt, kommt mir wie einer vor, der mit verdecktem Teller in einer gemischten Gesellschaft sammeln geht; die Summe pflegt nicht groß zu sein, wenn der Teller abgehoben wird.«

Er mietete ein stilles Quartier in der entlegensten Gegend der Stadt, schaffte sich juristische Bücher an und tat die nötigen Schritte, seine bürgerliche Laufbahn wieder zu betreten. So gewann es den Anschein, als solle der Strom seines Daseins, wie der so vieler, nach kurzem mutigem Laufe im Sande der Gewöhnlichkeit auslöschen.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 464-467.
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