Vierzehntes Kapitel

[485] Flöten, Geigen und Bässe ertönten im Ballsaale, welchen Flämmchen so hell hatte beleuchten lassen, daß der Glanz den Augen fast empfindlich ward. Eine zahlreiche Gesellschaft war versammelt, deren Kommen die Vorhersagung des wilden Kindes bestätigte. Man war nur stark genug gewesen, früheren geschriebnen Einladungen zu widerstehn, sobald die mutwillige Festgeberin sich in Person zeigte, und einige schmeichelnde Worte verwendete, schwanden die Bedenken; alle Väter und Mütter sagten sich und ihre Töchter zu, vielleicht[485] zum Teil auch aus Neugier, die berühmte unglückliche Frau kennenzulernen, deren Anwesenheit auf dem Landhause schnell in der Nachbarschaft kund geworden war.

Johanna hatte von Hermann ausdrücklich verlangt, daß er am Feste teilnehmen solle. Auch sie erschien, geschmückt und strahlend, und versagte sich den ruhigeren Tänzen nicht. Als Hermann sie in der Polonaise führte, flüsterte sie ihm zu: »Alles in diesem Landhause ist zu ertragen, nur die empfindsame Zudringlichkeit des Kurators nicht. Er hat mich mit seinen Anträgen, mir helfen und beistehn zu wollen, diese Tage her sehr gepeinigt, wenn er mir nur heute fernbleibt!«

Wirklich hatte Hermann bemerkt, daß der Kurator Johannen, sobald sie sich öffentlich zeigte, nicht aus den Augen ließ, und allen ihren Schritten folgte. Flämmchen schien bei ihm außer Gunst gekommen zu sein.

Auch an diesem Abende zeigte sich die Beeifrung des Verehrers. Er nahm während einer Pause des Tanzes Hermann beiseite und sagte: »Welche Erscheinung! Wie wert, daß man sich der Frau annehme! O Freund, lassen Sie uns für die Herrliche sorgen, stehen wir nicht ab, bis wir sie vermögen, in ihre Verhältnisse zurückzukehren! Ganz gewiß beruht Medons Schicksal auf einem Irrtume, bald wird er seine Freiheit wiedererlangen, welche Schmach dann für die Gattin, den Gatten zur Zeit der Not verlassen zu haben! Nein, helfen Sie mir, eine gestörte Ehe herzustellen, leiten wir die verirrte Frau in die Arme des Mannes zurück!«

»Ich dächte, man überließe den Personen, gegen welche man Verehrung fühlt, selbst ihr Los zu bestimmen«, sagte Hermann mit Empfindlichkeit. Der Gedanke, Johannen und Medon wieder beisammen zu wissen, den der Kurator in ihm angeregt hatte, war ihm äußerst unangenehm. Dieser machte sich an Johannen, und es verdroß Hermann, daß sie ihm freundlicher, als er es wünschte, und wollte, zu begegnen schien. Er trank mehr Wein, als er sonst pflegte, und suchte seine Aufregung in raschen Walzern mit muntern, schönen Mädchen zu vergessen.

Mitternacht war vorüber. Er setzte sich in ein Nebenzimmer und sah in die Nacht hinaus. Das ganze Gefühl seiner ersten[486] Jugend, welches er immer gegen das Ende von Bällen gehabt, kam über ihn. Wie die Töne des Tanzes gegen die große stille Nacht draußen in buntem Gewimmel ankämpften, und doch ihren Tod schon in sich trugen, so erschien ihm das ganze Dasein im kurzen schönen Kriege gegen das Unendliche, Farben- und Formlose befangen.

Johanna hatte sich zurückgezogen. Er machte sich Vorwürfe, auch nur in Gedanken ihr gezürnt zu haben. Morgen mußte der Bote vom Schlosse des Herzogs zurückkehren, wie nahe stand die traurige Trennung bevor! Sehnsucht und tiefe unbezwingliche Liebe trieben ihn zur Türe ihres Zimmers.

»Kann ich Sie noch sprechen, Johanna?« flüsterte er. Sie öffnete und sagte: »Welch ein später Besuch! Was führt Sie zu mir?«

»Schmerz, Wehmut, Johanna. Wir gehen morgen auseinander, und wann sehn wir uns wieder? Tief verbergen Sie Ihre Leiden, und gönnen dem Freunde nicht den Trost, sie mit Ihnen teilen zu dürfen.«

Sie reichte ihm die Hand und sagte: »Keiner soll mir helfen, wenn ich der Hülfe bedarf, als Sie. In aller Not und Trauer will ich ewig nach Ihnen schauen. Wir sind verbunden; was kann uns scheiden? Rollt die Liebe auf den Rädern des Wagens davon?«

Er hielt ihre Hand fest und fragte leise: »Lieben Sie mich, Johanna?«

»Von Herzen«, versetzte sie. »Soll denn nur das Blut, und immer nur das Blut Geschwister schaffen? Darf nie das Gemüt in freier schöner Wahl das reinste Band knüpfen? Nein, ich werde den Glauben nicht aufgeben, daß solche Neigungen möglich sind. Vom ersten Augenblicke, da ich Sie sah, sind Sie mir wie ein Bruder erschienen; lassen Sie mich Ihre Schwester bedeuten! Und zum Angedenken dieser Stunde und meines Bekenntnisses empfangen Sie das beste, was eine Frau darbieten kann.«

Sie schlang ihren Arm um seinen Nacken und die schönen unentweihten Lippen berührten die seinigen. Sanft sich emporrichtend, sagte sie: »Wer würde, das sehend, nicht rufen, es sei Leidenschaft, Frevel! Und doch, wie fern bin ich von allem[487] ungestümen Wesen! Wie ruhig könnte ich Sie in den Armen einer andern sehn! So wenig reichen unsre Begriffe an die Geheimnisse des Herzens.«

Zitternd, sprachlos, ging er durch die erleuchteten Gänge. Noch klang die Musik in rauschenden Weisen. Wie hätte er zu schlummern vermocht! Über alles Hoffen hinaus war ihm sein Leben erhöht! An seiner Brust hatte die Königliche geruht; er erlag fast unter der Bürde eines fremden, unbegreiflichen Glücks.

Ohne Absicht klinkte er an einer Türe. Sie tat sich auf, und da er in dem dunkeln Raume an eine Tapete rührte, so sah er sich, da dieselbe gewichen war, unverhofft in dem großen, blauen Zimmer, welches er schon kannte, und zu dem dieser zweite, verborgne Eingang führte.

Die Alte saß auf einem bunten Teppich am Fußboden und hatte zwei Flaschen neben sich stehn. Aus einer füllte sie sich ein großes Kelchglas bei Hermanns Eintreten, und leerte es auf einen Zug aus. »Das ist schön«, rief sie, »daß Ihr mich besucht! Ich liebe den Lärmen nicht, und habe mich hieher in die blaue Ewigkeit zurückgezogen, um meinen Genuß in der Stille zu finden, aber die Gesellschaft eines Mannes, wir Ihr seid, soll mir ein köstliches Zugemüse zum Weine sein.«

In seiner Stimmung widerlich durch ihren Anblick gestört, wollte er das Zimmer verlassen. Sie trat ihm aber rasch in den Weg, und sagte: »Nein, mein Herr, so kommt Ihr nicht fort. Ist es recht, undankbar gegen gute Gesinnungen zu sein? Nicht wahr, Ihr habt Euch heute so hoch erhoben im Fluge mit dem Paradiesvogel, daß Ihr das, was unter Euch zappelt, gar nicht mehr wahrnehmt? Nun, nur Geduld, auch wir sinnen auf Euer Vergnügen, wir wissen nur noch nicht, wie es auszuführen.«

Ihre Augen funkelten, ihre Lippen lallten, sie glich einer Hexe. Hermann, welcher den Zustand sah, in den sie der Genuß des Weins versetzt hatte, tat sich, um einen verdrießlichen Auftritt zu meiden, Zwang an, und sagte: »Ich kann recht gern bei dir verweilen, wenn dir das einen Gefallen erzeigt.«

»So sprecht Ihr vernünftig«, erwiderte die Alte, trug den Teppich zur Schwelle der Türe, und setzte sich dort nieder, ihm den Ausgang versperrend.[488]

»Es gibt gar kein größeres Unglück«, sagte sie, indem sie fortfuhr, zu trinken, »als eine Wissenschaft mit sich umherzuschleppen, die dann im Grabe mit einem verfault. Dem Arzte sagte ich sie, der wollte sie nicht glauben und lachte mich aus, darnach verlor ich das Zutraun, und erst Ihr habt es wieder in mir erweckt. Warum? weiß ich selbst nicht; Ihr scheltet mich aus, und macht Euch aus dem Flämmchen nichts, eigentlich müßte ich Euch hassen, aber ich tue es nicht, der Teufel muß mir die Freundschaft für Euch angetan haben.«

»Was soll das? Was hast du mir zu entdecken?« fragte Hermann verwirrt.

»Die Heimlichkeiten der Bahre!« kreischte die Alte, und leerte das Kelchglas. »Genieße das Leben, junges Blut, stampfe die Erde im Tanze, schlürfe das Öl und Feuer der Traube, bette dich auf den Hüften des Mädchens, denn wenn du im Sarge dich streckst, so wird es anders, greulich und fürchterlich. Die einen sagen, es sei aus mit dem letzten Hauche, das ist nicht wahr, die andern glauben, frei und ledig fliege die Seele auf vom Kote zum Himmel, das ist auch nicht wahr, die einen lügen, wie die andern, ich weiß es besser; Leben und Tod sind nicht geschieden, wie Schwarz und Weiß; ein entsetzliches Grau steht dazwischen, die Verwesung. Da fühlt sich das modernde Fleisch noch als Fleisch, da möchte das Blut, das in Klumpen und Wasser auseinanderrannte, noch beisammenbleiben und vermag es nicht, da brennt in schaudervollem Schmerze das Auge, dem die Säfte vertrocknen. O welches Wort nennte diese Pein! Welcher Jammer reichte an solche Verwüstung! Warum soll ich allein diese Furcht tragen, an welcher das Menschengeschlecht umkäme, wenn sie die Wahrheit erführen? Einer wenigstens muß mit mir zittern und beben, und der eine sei du!«

»Wahnwitzige, schweige!« rief Hermann, dem bei diesen Reden das Zimmer sich umdrehte.

»Wahnwitzig? – Ich bin die Prophetin, du höre mir zu! Ich weiß es, denn ich habe es erfahren. Schon hatten sie mich ins Leichentuch gelegt, die Kerzen brannten zu meinem Haupte, die schwarzen Männer wurden bestellt, und ich konnte mich nicht regen und rühren. Alles begann in meinem Leibe vorzugehn,[489] buchstäblich, wie ich es Euch gemeldet, und die Würmer rüsteten ihre Zähne zum Nagen. Ich war nicht lebendig und ich war nicht tot, ich war zwischen beiden. So wäre es dann fortgegangen, Schritt vor Schritt, bis dahin, wo die arme in eins gefügte Kreatur, zerrissen, zersplissen, in der Luft stürmet und weht, als Erde friert, klebt und starrt, auf den feurigen Zungen der Flammen hüpft und lodert, und immer noch von sich weiß, und wieder zu sich kommen möchte, aber nicht kann. Hast du das klägliche Ächzen nicht gehört in der Natur? Es ist der Hülferuf der verwesten Seelen, die so umherflattern. Und mit andern Worten haben das die Priester schon gesagt, wenn sie vom Fegfeuer sprachen. Mich aber gelüstete nicht nach diesem; in der letzten Angst rief ich den Starken zum Beistande, und der erhörte mich. Er fachte das Lebenslicht in mir an, daß es Herr wurde über das Elend und die faulen Düfte; da konnte ich die Finger regen und bald darauf die Hand. Die Leute sahen es, sprengten mir flüssige Geister in das Antlitz, und sagten darnach: ›Diese ist von den Toten erstanden.»‹

Sie strich ihre schwarzen Haare und hing sie sich wie Schlangen um das Haupt. »Sage mir, wer bist du. Unheimliche, und woher stammst du?« fragte Hermann, dem die wilden Reden durch Mark und Bein dröhnten.

»Ich bin eine Nonne aus Spanien«, versetzte die Alte, gierig trinkend. »Ich betete öfter als die andern alle zur Jungfrau Maria und den Heiligen, war über die Maßen fromm. Keine Übung konnte mir streng genug sein, die erste war ich auf und die letzte von dem Chore. Sie nannten mich die Begnadigte, und ich stand in hohen Ehren weit und breit umher. Da brach der Krieg herein, unser Kloster wurde von den fremden Scharen erstürmt. Durch Rauch und Flammen, bei dem Zetergeschrei der Schwestern, welche mit zerrißnem Schleier die Gänge hinabirrten, drang der schöne Pole zu mir, ergriff mich und schleppte mich in die Kirche. Dort auf dem Altare, unter dem Bilde derer, welche wir die Mutter Gottes hießen, bezwang er mich, ungerührt von meinem Weinen und Flehen. Ich schickte die jammervollsten Bitten in den Schmerzen der Wollust empor zu dem Bilde, mir zu helfen, und meinen himmlischen[490] Brautkranz zu schützen; aber es war umsonst, und ich lag da, vernichtet und mir selbst ein Ekel. Da erkannte ich, daß die Heiligen von Holz seien, und der Himmel ein Rauch und verfluchte Gott noch an der nämlichen Stätte. Folgte nach diesem dem Polen, und lebte mit ihm in verschiednen Landen in großer brünstiger Herrlichkeit. Das Kind aber, so ich von ihm empfangen, trug ich aus in der Verachtung Gottes, immer in mich hineinsprechend: ›Wachse du Frucht meines Schoßes ohne ihn, der da ist das uralte Nichts.‹ Und da es zur Welt kam, hatte es sich nicht, wie die andern Kinder, welche weinen, wenn sie geboren werden, nein, es hat gelacht und der Wehmutter ein Gesicht geschnitten, als sie es in ihren Händen auffing.

Aber ich war unselig ohne Gott, denn der Mensch muß einen Herrn haben. Wie ich diesen gefunden in den Ketten der Zerstörung, sagte ich schon; Er, der Starke, Dunkle, ist mein König und Gebieter worden, der mich in alle Wege leitet. Ihr seht mich zweifelnd an, und schüttelt das Haupt, weil ich im Walde vom Kreuz zu Euch gesprochen, und von Himmel und Hölle, weil ich mich nach wie vor eine gute Christin nenne. Das ist eben seine Güte und Großmut; er erlaubt es uns, damit uns die Menschen nicht steinigen, er rät uns selbst, die Larve zu tragen, und ist zufrieden mit unsres Herzens stillem verschwiegnem Dienste. Und ich sage Euch, es gibt mehrere dieser Art außer mir. Aber horch, ich höre das Flämmchen, sie soll uns den Tod und die Auferstehung tanzen.«

Die Alte richtete sich auf, wankte in eine Ecke, kniete dort nieder, stemmte die Arme in die Seite, und hob an, ein Lied zu singen, welches Hermann, der, sobald die Türe frei geworden war, hatte entfliehn wollen, mit magischer Gewalt zurückhielt. Bei seinen Tönen trat Flämmchen ein, im vollen, üppigen Putze, schritt, ohne selbst Hermanns zu achten, wie gefesselt und bezwungen auf die Alte zu, senkte vor ihr das Haupt, und bewegte sich dann nach dem Takte der Melodie rund im Kreise um ihn.

Die Worte des Liedes waren wieder aus der fremden Sprache, welche Hermann nicht verstand, aber Melodie und Ausdruck gaben den klaren Sinn. Tief und wehmutsvoll klangen[491] die ersten Strophen, ein Schmerz, der keine Grenzen und keinen Namen hat, zitterte in ihnen, aber gehalten und bewußt. Auf einmal fielen in einem ganz wunderbaren, raschen Tempo wirbelnde, schneidende Töne ein, und zuletzt sprudelte daraus ein Gewimmel von Lauten hervor, als wollten Rhythmus, Worte, Musik einander aufheben und vernichten, ohne daß gleichwohl die dämonische Harmonie in diesem Aufruhre aller Takt – und Tongesetze unterging.

Angemessen dem Liede waren die Tanzbewegungen Flämmchens. Das Haupt gesenkt, die Arme schlaff am Leibe niederhangend, den Leib matt in den Hüften wiegend, setzte sie die kleinen, wie durch Starrsucht gefesselten Schritte, lieblich immer, aber träge in die Runde. Es war mehr ein Schleichen, als ein Gehn, die Augen hielt sie halbgeschlossen, die Lippen waren wie von Erschöpfung geöffnet. So gab sie das Bild einer sterbenden Magdalena, an deren süßen Fleische schon der grimmige Freudenhasser nagt. Bald ging dieses Schleichen in ein völliges Stocken über, kaum merklich waren noch die Bewegungen, sie erstarrte endlich, sich auf die Knie niederlassend, zu einer Gestalt von Stein, durch deren Adern und Fibern es nur noch wie ein unseliges Rieseln und Wirbeln lief. Der Anblick dieses schönen Mädchenkörpers, seiner leisen, zuckenden Regungen war unbeschreiblich rührend, die Augen tat sie auf, und warf auf Hermann einen erloschnen Blick, vor dem er gleichwohl die seinigen senken mußte. Denn es rief aus demselben wie mit schluchzendem Munde: »Erlöse mich, o du mein Geliebter, aus den Krallen der zerwühlenden Elemente!« So blieb sie einige Sekunden haften, dann aber warfen die raschen schneidenden Strophen der Alten den Aufruhr auch in ihre Glieder. Sie erhob die Arme, sie richtete sich auf ihre Füße, vorwärts und rückwärts flog der Leib, von den geschwungnen Schenkeln bewegt; immer wilder, zerbrochner wurde dieser rasende Tanz, die Glieder schienen sich voneinander zu lösen und dahin und dorthin zu zerflattern, endlich schwebte das lemurische Gebilde hauchartig in den Lüften, denn kaum den Fußboden noch berührten die Spitzen der Zehen. Die Kreise hatte das tanzende Schattenähnliche aufgegeben, in einer geraden Linie schwebte es gegen den Sarkophag[492] in der Nische, von welcher die Alte den Vorhang hinweggezogen hatte, und zitterte dann mit ängstlichem Wenden von seinem Mumieninhalte zurück. Nachdem dieses Hinan – und Zurückschweben einige Male stattgefunden hatte, verklang das Lied der Alten.

Welches Ende das geisterhafte Schauspiel genommen, hat Hermann nie erzählen können. Er hatte, als er das gespenstische Schweben eine Zeitlang angeschaut, vor dem verwirrenden Anblicke die Augen geschlossen, und sich mit abgekehrtem Gesichte wider die Wand gelehnt. Da er sich umwendete, war er allein.

Noch immer rauschten die Weisen des Balls fort, noch immer hüpften unfern fröhliche Menschen, und hier waren ihm Offenbarungen des Grabes geworden! Die Menschen, welche Zauberstätten betreten, deren Augen und Ohren in das Wesen und Weben solcher Orte verstrickt werden, büßen Sinn und Willen ein, die überwältigte Seele lebt Jahre in Augenblicken, das Fernste, Unglaublichste tritt ihr als Wahrheit nahe, die Wirklichkeit hat keine Macht mehr auf sie. In solcher Verfassung war Hermann. Seinen durch Tanz und Wein aufgeregten Geist hatten im Verlauf einer Stunde die fremdesten Gegensätze berührt. Das edelste Menschliche hatte ihm in tiefster Brust mit Liebesarmen geschmeichelt, höllischer Spuk war dieser Seligkeit in aller Pracht des Abgrunds gefolgt. In den Haushalt der Engel und in den der Teufel hatte sein erblindendes Auge schauen müssen, leider fehlte ihm die Festigkeit des Dante, welcher einst die Last solcher Gesichte unverzagt zu ertragen wußte.

Ohne zu wissen, was er tat, hob er jetzt selbst den Deckel des Sarkophages ab, und starrte gedankenlos die trocknen Züge der Mumie an. Eine Weile hatte er so gestanden, als durch die Türe, die nach dem Naturalienkabinette führte, der Kurator eintrat. »Ich bringe eine gute Neuigkeit«, sagte dieser. »Johanna verlangt noch nach Ihnen, zu so später, oder so früher Stunde, denn es geht auf zwei Uhr, kann diese Bestellung nur das Beste bedeuten. Gewiß ist in ihr der einzige richtige Entschluß, den sie fassen konnte, aufgekeimt, und Sie sollen ihr denselben ausführen helfen. Gehen Sie schnell zu ihr.«[493]

Hermann ging. Draußen auf dem Gange verließ ihn jener. Der Ball hatte aufgehört, unten fuhren die Wagen ab. Die Alte sah er umhertaumeln und auf den Vorsälen die Lichter und Lampen auslöschen. Als er bei ihr vorbeiging, lachte sie ihn an, und rief: »Ihr schleicht noch zu Eurem hohen Lieb? Nun, eine glückselige Nacht!«

Er öffnete sacht Johannas Zimmer. Es war dunkel, der Duft süßen Räucherwerks floß ihm entgegen. Er meinte, sich geirrt zu haben, trat einen Augenblick auf den Gang zurück, und sah die Türe an. Aber das war seine, das war Johannas Türe! Er tastete im Zimmer nach einem Stuhle, setzt sich auf denselben, und wollte erwarten, daß seine Freundin mit Licht komme.

Da hörte er leise die Vorhänge des Betts rauschen. Was er noch von Besinnung gehabt hatte, schwand. Er wankte der Gegend zu, von welcher das Rauschen vernommen worden war. »Johanna?« fragte er glühend, bebend. »Ja«, antwortete es kaum hörbar unter innigem Weinen. Ein Busen und Leib, dessen Berührung die Glut des Fiebers in ihm entzündete, drängte sich aus den Kissen ihm entgegen. Weiche Arme umschlangen ihn, er sank auf das Lager, welches ihn erwartete, und die Wogen des höchsten Genusses schlugen über ihm zusammen.


Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 485-494.
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