[478] Am folgenden Morgen wurde er zu Johannen berufen. Sie machte ihm ihren Entschluß bekannt, das Verlangen der Herzogin erfüllen, und den einsamen Aufenthalt, welchen ihr[478] diese in ihrem Briefe bezeichnet hatte, annehmen zu wollen. Hermann wurde ersucht, dies dem Bruder und der Schwägerin zu melden. »Also werden Sie doch noch Ihren Auftrag ausrichten«, sagte Johanna schmerzlich lächelnd. »Sie vermitteln meine Rückkehr, nachdem jeder Gedanke daran Ihnen und mir verschwunden war. So geht es oft im Leben. Wir glauben uns von manchen Anfordrungen, von diesem und jenem Verhältnisse weit, weit entfernt zu haben, und unerwartet fühlen wir uns in längst abgeschüttelten Banden gefesselt.«
Hermann erlaubte sich, manches gegen diesen Plan einzuwenden, der ihm durchaus unheilsam zu sein schien. Er sprach den Wunsch der Meyer aus, und fügte hinzu, daß wenn sie auch diesem sich abgeneigt zeigen möchte, ein Leben und Wohnen unter gleichgültigen, fremden Menschen in ihrer Lage gewiß doch noch dem Drucke widerstrebender Umgebungen vorzuziehn sei.
Johanna versetzte: »Zu meiner Freundin kann ich mich nicht begeben. Bei manchen Schicksalen ist Entfernung, Verändrung von Luft und Boden unerlaßlich. Wie sollte ich es ertragen, da, wo ich unaussprechlich gelitten, noch einmal in der Erinnrung alle Qualen nachzuleben? Was mich bei dem Herzoge und seiner Gemahlin erwartet, weiß ich recht wohl. Waren wir doch schon in jenen früheren Tagen einander unverständlich! Er ist mehr ein Begriff, als ein Mensch, und sie hat, ungeachtet aller Güte, etwas unendlich Peinliches in ihrem Wesen. Ich mochte tun, was ich wollte, für mich sein, oder in Gesellschaft, lesen oder frische Luft schöpfen, so hatte ich beziehungsvolle Reden über weibliche Genialität, Gelehrsamkeit und dergleichen anzuhören. Daneben glaubte sie denn, und glaubt es noch in ihrem Briefe, mich zu lieben, während sie doch immer nur mit dem ganzen Dünkel solcher wohlwollenden Quälgeister eine anmaßliche Vormundschaft über mich hat ausüben wollen.«
»Und dennoch? ...«
»Und dennoch. – Ich sehe voraus, wie man mich beobachten, bemitleiden, und auf die beste Manier von der Welt nach und nach einzwängen wird, und dennoch wähle ich diesen Kerker. Soll uns das Bittre süß schmecken? Ist eine Eigenschaft[479] des Jochs nicht die Schwere? Ich habe gefehlt, nicht wie meine Verwandten meinen, aber ich irrte, indem ich wähnte, uns Frauen der neueren Zeit sei die Begeistrung erlaubt, sei es erlaubt, auf den Schwingen der Begeistrung dem Manne entgegenzuschweben, der unsrer wert ist. Wir sind Geschöpfe der Familie, auf sie sind wir gepflanzt, und so ist es nur ein gerechter Gang meines Lebens, wenn ich nun dem mich demütig ergebe, was mir die Familie bedeutet, wenn ich alles geruhig erdulde, was auf diesem Boden drückend und feindlich für mich emporsteigt.«
Da er sie fest bestimmt sah, so ließ er von weiterem Zureden ab und entwarf den Brief an die Herzogin. Johanna überlas ihn und strich daraus alles weg, was ein Lob ihrer Person enthielt. Nachdem die von ihr gebilligte Abfassung zustande gekommen war, wurde ein reitender Bote damit nach dem Schlosse des Herzogs gesendet, der die Antwort zurückbringen sollte. Diese wollte Johanna auf dem Landhause erwarten.
In diesem wurde es nun sehr lebendig. Johanna hatte ausdrücklich befohlen, daß um ihretwillen kein Zwang eintreten solle, indem sie sich schon zurückzuziehen wissen werde, wenn das Getöse ihr beschwerlich falle. Es waren daher auch die jungen Leute in Freiheit gesetzt worden, die es nun an Lärmen und Unruhe nicht fehlen ließen. Von den Beschäftigungen, womit sie ihren Tag hinbrachten, führen wir nur beispielsweise an, daß einer derselben auf nichts bedacht war, als vom Morgen bis zum Abend seinen Backenbart in Ordnung zu halten, und daß ein andrer in einem mitgebrachten blechernen Reisekomfort fort während Beefsteaks briet, welche er dann zum Fenster hinauswarf.
Hermann konnte daher Flämmchen eigentlich nicht unrecht geben, als sie auf seine wiederholte Ermahnung, sich dieser Umgebung zu entäußern, versetzte: »Warum schiltst du mich? Andre halten sich zur Gesellschaft Hündchen und Äffchen, wogegen ich einen Widerwillen habe; ich halte mir diese, die aus guter Familie und nicht so unreinlich sind, wie jene Geschöpfe.«
Zu den possenhaften Bewohnern paßte die Örtlichkeit vollkommen. Die Villa war der treue Abdruck des Sinns, wodurch[480] der Domherr sein Leben zersplittert hatte. Daß nichts an seiner Stelle stand, die Stühle fast überall in ungerader Zahl vorhanden waren, Schränke und Sofas häufig schief gerichtet mitten in den Zimmern angetroffen wurden, konnte auf Flämmchens Rechnung kommen, welche behauptete, das Geräte sei da, sich umherstoßen zu lassen. Allein so manches andre bezeichnete das Gehäuse, welches der verstorbne Besitzer selbst um sich geschaffen hatte. So war die Bibliothek, wenn man einen Haufen willkürlich zusammengeraffter Bücher mit diesem Namen belegen will, unmittelbar an der Küche, ja fast in derselben angebracht, weil der Domherr sich eine Zeitlang eingebildet hatte, der Dampf der Speise stärke, als eine Art leichter olympischer Nahrung den Geist beim Studieren. Rosenkreuzerische Symbole fanden sich neben schlüpfrigen Bade- und Toilettenszenen, ein astronomisches Kabinett wies bei näherer Untersuchung nur pappene Fernröhre und Quadranten auf. Der Verstorbne war nämlich, gerade als Maler und Schnitzler die entsprechende Verzierung des Raums vollendet hatten, seiner schnell entstandnen Liebhaberei zu den Sternen wieder überdrüssig geworden, und hatte sich nun begnügt, die Instrumente und Vorrichtungen selbst nur als theatralische Requisiten hinzuzufügen.
Einmal besah Hermann, der hier viel müßige Stunden hatte, um die Zeit hinzubringen, die Naturalien, welche in einem kleinen Kämmerchen aufbewahrt wurden. Ausgestopfte Tiere, neuseeländische Waffen, Walfischrippen, Erze, Konchylien waren über-, unter-, nebeneinander gestopft; man konnte sich zwischen dem Gerülle kaum durchwinden. Große chinesische Figuren standen in den Ecken, und wiegten wie Denker, bedächtig die Porzellanhäupter. Hermann öffnete eine Türe, und betrat ein angrenzendes dunkles Gemach, in dem seine Fußtritte widerhallten. Hier die eigentlichen Schätze vermutend, ließ er sich Licht bringen, und erstaunte nicht wenig, als er sich in einem ganz leeren, blau angestrichnen, großen, saalartigen Zimmer sah, in welches kein Tagesstrahl dringen konnte, weil demselben die Fenster fehlten. Er erkundigte sich bei dem Bedienten, wozu dieser leere Raum diene, und weshalb man nicht hier, wo Platz genug vorhanden sei, die Sammlung[481] aufgestellt habe? Der Bediente versetzte, daß die beiden Gemächer eine Allegorie darstellen sollten, das kleine mit seinem Inhalte bedeute die Mannigfaltigkeit der Natur, und das große, leere, blaue, die Ewigkeit, zu welcher die Natur hinführe; so habe es der selige Herr erfunden und ausgedacht. Ein Vorhang an der Hinterwand reizte Hermanns Neugier. »Dahinter«, sagte der Bediente auf seine Frage, »sollte der liebe Gott angebracht werden, aber der selige Herr ist darüber gestorben, und nun haben wir ihn selbst dort als Mumie vorderhand beigesetzt, weil kein andres Gelaß dafür übrig war.« – Er zog an einer Schnur, der Vorhang flog zurück, und Hermann erblickte auf einem Stufengerüste in der Nische einen Sarkophag in ägyptischem Geschmack. Ohne sich durch seinen Ruf, daß er nach dem Anblicke nicht verlange, irremachen zu lassen, hob der Bediente in seinem Eifer, dem Fremden die größte Seltenheit des Hauses zu zeigen, den Deckel ab, und Hermann mußte mit Widerwillen eine eingetrocknete menschliche Gestalt, von weißem Faltengewande bekleidet, wahrnehmen, welcher die Kunst diesen kümmerlichen Scheinbestand gesichert hatte. Er wandte sich nach kurzem Hinblick ab, zur Verwundrung des Bedienten, welcher diesen Abscheu nicht begreifen konnte, und seinerseits die größte Zufriedenheit über den so wohl erhaltnen seligen Herrn aussprach.
Der Gedanke, mit einem Leichname unter Dach zu sein, war nicht angenehm. Die albernen Einrichtungen und Zusammenstellungen des Hauses verwundeten Sinn und Auge. Das Getöse, welches die jungen Leute machten, war oft unleidlich. Eine große Menge hinterlaßner Kanarienvögel, für welche Tierart der Domherr eine besondre Vorliebe gehabt hatte, warf in dieses Wirrsal die schmetternden, ohrzerreißenden Töne. Wollte er dem Schwindel draußen entgehn, so schreckte ihn der vernachlässigte Garten, in welchem allerorten wilde Ranken und Sprossen überwucherten, wieder in das Haus zurück.
Flämmchen sah er wenig. Sie fuhr in der Nachbarschaft umher, eine große Ballgesellschaft zusammenzubitten. »Gebt acht«, hatte sie beim Einsteigen gesagt, »wenn ich nur selbst komme und ihnen das Wort gönne, so fliegen alle alten und jungen Gänse in meinen Stall.«[482]
Die braune Zigeunerin umschlich ihn mit sonderbaren Blicken. Noch immer sah er sie Kräuter sammeln, welche sie aber jetzt zu eignen Heilzwecken verwendete. Sie machte nun selbst den Arzt, täglich kamen Leute aus der Gegend zu ihr; man hielt sie für eine Wundertäterin, und ihr Ruf stieg um so höher, als sie nie Bezahlung nahm. Sie schien unsrem Freunde etwas vertrauen zu wollen, denn sie machte sich oft ein Gewerbe bei ihm, und sah ihn dann so eigen an, daß ihm in ihrer Nähe wunderbar zumute ward. Er wünschte sehnlich die Rückkehr des Boten herbei, denn er wollte nur Johannen zum Wagen führen, um dann sogleich in die selbstgewählten Beschränkungen einzutreten, da er doch wohl einsah, daß er keinen Einfluß auf Flämmchen habe.
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