II

[809] Du fragst mich nicht nach den komischen Leuten, obgleich Du, lustig wie ein Knabe, an ihnen Dein Ergötzen hattest und Dich selbst nicht scheutest, über »den gemeinsten aller gemeinnen Bedienten« wie Du ihn nanntest, zu lachen. Du fragst mich nach Oswald und Lisbeth. Ihre Geschichte sei ja noch nicht aus, sagst du.

Nein, ihre Geschichte ist auch nicht aus, sie hat erst begonnen. Ich hätte nicht solchen Anteil beiden gewidmet, wenn sie zu denen gehörten, deren Blüte das Läuten der Hochzeitglocken zu Grabe läutet. Die Geschichte ihres Herzens und innersten Geistes nahm von dem Segen des Priesters den Ausgang.

Ein zu frühes Beieinandersein der Liebenden hat etwas Ungeschicktes. Das Leben ist nun einmal roh, es trennt mehr, als daß es verbinde. Der Tag wirft viel Schaum und trübe Flut zwischen zwei Herzen, die noch nicht gelernt hatten und auch unter solchen Umständen nicht lernen können, miteinander vertraut zu sein – denn auch das echte Vertrauen will gelernt werden. Daher kommt es denn, daß die meisten einander zu fremd und doch zu nahe in den Ehestand treten. Und so entsteht die trübe und unreine Gestalt vieler Ehen. In manchem Zufälligen hatten die Verbundenen das Wesenhafte zu finden gewähnt, das nimmt Abschied, und nun klagen sie über bittere Enttäuschungen, wo sie im Gegenteil sich vielleicht der Entfaltung eines Wesenhaftesten zu erfreuen hätten.

Unser Paar wurde durch anscheinendes Mißgeschick über diese gefährliche Sandbank des Lebens hinübergespült. Draußen, in Wald und Feld, außer dem Pferch der Zivilisation hatten sie einander gefunden, hatten einander vor aller Bekanntschaft geliebt, der Blitz der Ahnung hatte dem einen des andern ewiges Sein und Werden erleuchtet. Aber nun galt es, den kostbaren Gewinn für die Erde zu festigen. An dem Tage ihres Bundes wurden sie getrennt! Trauriges Los, glückseliges[809] Los! In Sehnsucht und Wehmut, in zartem Harren und Darben lernte nun eines des andern Tiefstes aus; das Feinste und Wahrste der Seelen, der Blütenstaub des inneren Menschen wehte hinüber und herüber. Die Leidenschaft konnte nicht aufkommen, denn die Hoffnung, festgeankert auf dem Grunde des Sakraments, hielt sie mit sanfter Hand nieder, die Ferne zeigte jedem die zweite teure Gestalt in verklärten Umrissen.

Daher kannten sie einander, als er ihr bei Rotterdam aus dem Boote half, aber sie kannten einander in der edelsten und köstlichsten Weise. Den ewigen Menschen hatte eines in dem andern erschauen gelernt, nicht den zufälligen. Die Begeisterung des ersten Liebesrausches hatte die süßeste und zugleich die ernsteste hohe Schule durchgemacht. In allen Tiefen des Bewußtseins hatte sich das Aufjauchzen des Gefühls als hohe Vernunft wiedergefunden.

Und nun haben sie einen Glauben, den nichts erschüttern kann. Wenn der Tag seinen Schaum heranspült und das Bild des Liebsten verunreinigt; wenn die Laune kommt und das Sonderbare, Dumpfe, so sprechen sie: Das ist nicht Oswald, das ist nicht Lisbeth, das ist der Zufall. Eines ist für das andere nur da in der schönen Figur jener akademischen Zeit ihrer Liebe.

Nach allen Seiten hin erbaut sie die Ehe, die den Namen einer heiligen verdient. Denn sie haben einander einen Doppelschwur geleistet ohne Worte. Eins wollen sie sein und bleiben, aber eins im Leben und in der Welt, nicht sich versteckend vor Leben und Welt. Mit Liebe wollen sie den stumpfen Widerstand der Materie überwinden. Der ist groß. Denn ihr Schritt hat freilich in alle Verhältnisse den tiefsten Riß gemacht. Man läßt Lisbeths Liebenswürdigkeit zwar gelten, aber das Findelkind bleibt ihnen doch ein Findelkind. Die Bekannten haben gestutzt, die Freunde getrauert, die Familie ist außer sich gewesen, habsüchtige Vettern schielten froh nach der Zukunft. Zwischen diesen dürren Klippen, in solcher Wildnis ist ihnen die Aufgabe gesetzt, den Garten eines schönen, fruchttragenden Lebens auszusäen. Daher hat denn ihre Geschichte nur erst begonnen. Überallhin müssen sie sich aufstellen, jeden Schatz aus sich zutage fördern, sie müssen sich vollenden für[810] die Welt und für die Zwecke der Welt, um das Recht des Herzens darzulegen.

»Eine Liebesgeschichte und nichts weiter!« werden manche sagen. Wenn es nichts weiter wurde, so ist daran meine geringe Fähigkeit, nicht mein Sinn schuld. Mein Sinn stand darauf, eine Geschichte der Liebe nachzuerzählen, der Liebe zu folgen bis zu dem Punkte, wo sie den Menschen für Haus und Land, für Zeit und Mitwelt reif, mündig, wirksam zu machen beginnt.

Deine Seele hat manchen Gedanken von mir in sich empfangen, Du hast ihn gepflegt und mir schöner zurückgegeben. Von Dir vernahm ich zuweilen erst, was ich eigentlich gedacht hatte. Höre denn auch jetzt, was meine rauhe und ungestüme Lippe Dir zustammelt; pflege es in einem feinen, guten Gemüte.

Unsere Zeit ist groß, der Wunder voll, fruchtbar und guter Hoffnung. Aber irr und wirr taumelt sie noch oft hin und her, weiß die Stege nicht und plaudert wie im Traume. Das rührt daher, weil das Herz der Menschheit noch nicht wieder recht aufgewacht ist. Denn nicht abhanden kam der Menschheit das Herz, es ward nur müde und schlief etwas ein. Im Herzen müssen sich die Menschen erst wieder fühlen lernen, um den neuen Weg zu erkennen, den die Geschlechter der Erde wandeln sollen, denn vom Herzen ist alles Größte auf Erden ausgeschritten. Moses sah an das Elend seines Volkes und führete es hinweg; Christus wollte sein göttliches Licht nicht für sich behalten, sondern in überströmender Liebe gab er es seinen Brüdern; nach dem heiligen Grabe lechzete die durstige Brust der Kreuzfahrer, Luther tat mit seinem Herzen die tiefe Frage nach der ewigen Seligkeit, vor welche sich schmauchende Kirchenkerzen gestellt hatten, die von Meßgewändern und Weihrauchwolken verhüllt war.

Wenn ich aber das viel gemißbrauchte und deshalb übel berufene Wort brauche, so weißt Du, daß ich damit nicht den schlaffen, von der Empfindelei getauften Muskel meine, der in einer Flut matter Tränen schwimmt. Das volle, starke Herz meine ich, vom Atem Gottes und göttlicher Notwendigkeiten durchweht und begeistet. Ich meine das Herz, welches das schöne Weib des Kopfes ist. Von ihm wird es befruchtet und[811] gibt die Kraft seines Mannes und Herrn wieder als göttliches Kind mit tiefen welterlösenden Augen. Dieses Herz erscheint den Schwachen nicht selten kalt und roh, und doch ist es das Wärmste, was es gibt, denn es entzündet mit seinem Brande die Völker. Und das Zärteste ist es auch, denn nicht irdische Stümper rühren es, sondern die Himmlischen spielen darauf, wie auf einer Äolsharfe, und es tönet seine ewigen Akkorde unter den Fingern der Elohim.

Unsere Zeit ist ein Kolumbus. Sie sieht wie der Genueser mit den Blicken des Geistes das ferne Land hinter der Wüste des Ozeans. Desselbengleichen erlebt sie die Geschicke des Kolumbus. Auch ihr laufen die Kinder nach, halten sie für wahnwitzig und zeigen an den Kopf. Auch sie steht vor manchem Rate von Salamanca und soll sich aus Kirchenvätern widerlegen lassen. Auch heuer gibt es diesen und jenen heuchlerischen Johann von Portugal, der ihr das Geheimnis abgekauft zu haben wähnt und die Karavelle aussendet von den Inseln des Grünen Vorgebirges, aber nach vierzehn Tagen den schlechten Bootsmann entmutigt wiederkehren sieht. – Sie hat die Anker gelichtet und steuert und steuert.

Aber der Genueser hatte die Bussole am Bord und nach der richtete er sein Schiff und ließ sich nicht irremachen, als die Nadel unter entlegenen Graden abzuweichen begann. Die Nadel zeigte ihm den Pfad.

In das Schiff der Zeit muß die Bussole getan werden, das Herz. Und keine Abweichung muß den Seefahrer irren, wenn die Reise immer weiter und weiter vordringt. Dann wird nach verzweiflungsvollem Hoffen und Harren plötzlich in einer Nacht vom Schiffe: »Land!« gerufen werden, und die Insel San Salvador wird nächsten Morgens entdeckt daliegen, wild, üppig, mit großen und schönen Wäldern, mit unbekannten Blumen und Früchten, von reinen, lieblichen Lüften überhaucht und umspült von einem kristallklaren Meere. – Und es kann sein, daß auch die Zeit nach Ophir und nach des Tartarkhanes Gebiete entsteuert zu sein wähnet, und in diesem Wahne, ein erhaben phantasierender Kolumbus, abstirbt, und daß erst spätere Jahre erfahren, Amerika sei an jenem Morgen entdeckt worden.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 809-812.
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