Clärchen an Sylli

[531] Hainfeld, den 18. März.


Clerdon und Amalia sind seit gestern hier. Als wir ihnen entgegenflogen, und ich mich an Clerdons linken Arm hing, faßte er meine Hand und drückte sie leise an die Rocktasche. Leise rief ich: »Briefe von Sylli! Gute?« – »Gute, o ja; etwas schwermütig, aber laß, sie ist dennoch wohl dran.«

Tante war noch nicht angezogen. Sie sollte alle Zeit haben. Wir liefen ins hinterste Boskett. – »Nun, Clerdon, nun!« jauchzten und hüpften wir. – Er sah uns an mit dem vollen stillenden Blick seines Auges; lächelte: weg war die Hast. Wir schlüpften aneinander her und lagerten uns auf die Rasenbank. Clerdon stand noch einen Augenblick, dann ging auch er seinen Platz[531] nehmen. Nun kam die Brieftasche hervor, die er auf sein übergeschlagenes Knie legte, seine Hände gefalten darüber. Wir hingen an seinem Auge, das einen so wunderbar fassen und füllen kann. Eine eigene – schauerliche Freundlichkeit wandelte durch die Stille. Clerdon öffnete die Brieftasche, und schlug hernach sie wieder zu. – »Ein herrliches, liebes Weib!« sagte er: - »wenn sie sich erblickte, wie sie vor meiner Seele steht!« – und gleich darauf: »Gott, wem du ein tief fühlendes Herz schenkst, dem schenkst du doch alles damit, alle deine Gaben, und dich selbst.«

Die Briefe wurden gelesen. Zwo Stunden verstrichen darüber. Wie sie zugebracht wurden diese zwo Stunden – dies, liebste Sylli, erzähle Dir wer es weiß, kann und mag. Meine ...

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 531-532.
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