Dreizehntes Kapitel.

[276] Ungefähr ein Jahr lang hatte Niels Lyhne auf Lönborggaard gewohnt und sein Gut, nach besten Kräften und soweit sein Verwalter ihm freie Hand ließ, verwaltet. Er hatte sein Schild herabgenommen, die Devise ausgelöscht und verzichtet. Die Menschheit mußte sich ohne ihn behelfen; er hatte das Glück kennen gelernt, das die rein körperliche Arbeit gewährt, das Glück, ein Vorhaben unter den Händen wachsen zu sehen, wirklich fertig zu werden, so daß man fertig ist, und, wenn man ermüdet von dannen geht, zu wissen, daß die Kräfte, die man zugesetzt hat, in einer Arbeit hinter einem liegen, daß die Arbeit Bestand haben wird, daß kein Zweifel der Nacht sie verzehren, keine Kritik einer nüchternen Morgenstunde sie vernichten kann. Bei der Landwirtschaft gab es keinen Sisyphusstein zu wälzen.

Und dann das Gefühl, den Körper müde gearbeitet zu[276] haben, der Genuß, sich zur Ruhe zu legen und im Schlafe neue Kräfte zu sammeln, um sie wieder bei der Arbeit zuzusetzen, regelmäßig wie Tag und Nacht aufeinander folgen, ohne daß die Launen des Gehirns störend dazwischen treten können, ohne mit sich selber so vorsichtig umgehen zu müssen wie mit einer gestimmten Gitarre, deren Schrauben abgenutzt sind.

Er war still glücklich, und oft konnte man ihn auf einem Zaune oder einem Grenzstein sitzen sehen, wie sein Vater einst gesessen hatte, und über den goldenen Weizen oder den schweren Hafer hinstarren.

Noch hatte er keinen weiteren Verkehr mit den Familien in der Umgegend angeknüpft; das einzige Haus, wo er häufiger verkehrte, war das des Kanzleirats Skinnerup in Varde. Der Kanzleirat war schon zu Lebzeiten von Niels Lyhnes Vater in die Stadt gekommen, und da er ein alter Universitätsfreund desselben war, hatten beide Familien viel miteinander verkehrt. Skinnerup, ein kahlköpfiger Mann mit scharfen Zügen und sanften Augen, war jetzt Witwer und hatte das Haus mehr als voll von vier Töchtern, von denen die älteste siebzehn, die jüngste zwölf Jahre alt war.

Niels unterhielt sich gern mit dem sehr belesenen Kanzleirat über allerhand ästhetische Gegenstände, denn hatte er auch angefangen, seine Hände zu gebrauchen, so war er doch deshalb nicht plötzlich zum Bauer geworden.

Er konnte auch die etwas komische Vorsicht wohl leiden,[277] mit der er sich ausdrücken mußte, sobald die Rede auf einen Vergleich zwischen der dänischen und der ausländischen Literatur kam, wie überhaupt wenn Dänemark mit etwas verglichen werden sollte, was nicht dänisch war; denn es war ganz notwendig, vorsichtig zu sein, der sanfte Kanzleirat war nämlich einer von den guten, begeisterten Patrioten, die es damals gab, Menschen, die es mit genauer Not eingestanden, daß Dänemark nicht die bedeutendste Großmacht sei, die sich aber auf nichts einließen, was das Land selbst oder alles sonst irgend dazu Gehörige auf einen anderen Platz als an die Spitze hätte stellen können. Was er bei diesen Unterredungen auch sehr gern hatte, jedoch ganz unbewußt und ohne das geringste Gewicht darauf zu legen, das war, die strahlende Bewunderung zu sehen, mit der ihm die Augen der siebzehnjährigen Gerda folgten, sobald er sprach, und sie bemühte sich, jedesmal zugegen zu sein, wenn er da war, und nahm so lebhaft teil an allem, daß er häufig sehen konnte, wie sie vor Entzücken errötete, sobald er etwas gesagt hatte, was ihrer Ansicht nach besonders schön war.

Er war nämlich ohne jegliches Dazutun von seiner Seite das Ideal dieser jungen Dame geworden; im Anfang wohl hauptsächlich deshalb, weil er, wenn er in die Stadt ritt, einen ausländischen grauen Radmantel von ziemlich romantischem Schnitt trug. Dann kam aber dazu, daß er immer Milano sagte und nicht Mailand, und daß er so allein in der Welt dastand und einen so schwermütigen Ausdruck hatte. Es war so vielerlei, worin[278] er sich von allen anderen Menschen sowohl in Varde wie in Ringkjöbing unterschied.

An einem heißen Sommertage kam Niels durch die kleine Straße, die hinter dem Garten des Kanzleirates lag. Die Sonne brannte auf die kleinen ziegelsteinbraunen Häuser herab, die kleinen Kutter, die im Fluß lagen, waren mit Matten behängt, damit das Pech nicht aus den Fugen schmölze, und ringsumher waren alle Fenster geöffnet, um die Kühlung einzulassen, die draußen nicht vorhanden war. Vor den offenen Haustüren saßen die Kinder und lernten ihre Lektionen laut und summten um die Wette mit den Bienen oben im Garten, und ein Volk Sperlinge schwirrte schweigend von Baum zu Baum, alle auf einmal hinauf und alle auf einmal wieder herunter.

Niels trat in ein kleines Haus, das an den Garten grenzte, und wurde von der Frau, die zum Nachbar lief, um ihren Mann zu holen, in eine kleine, zierliche Stube geführt, in der es nach Steifzeug und Goldlack roch.

Als er mit den Bildern an der Wand, den beiden Hunden auf der Kommode und den Muscheln auf dem Deckel des Nähkastens fertig war und ans offene Fenster trat, hörte er Gerdas Stimme dicht neben sich, und siehe, da standen die vier Fräulein Skinnerups in geringer Entfernung von ihrem Hause, draußen auf dem Bleichenplatz des Kanzleirats.

Die Balsaminen und die anderen Blumen vor dem Fenster verbargen ihn, und er schickte sich an, zu lauschen.[279]

Offenbar war eine Neckerei im Gange, und die jüngeren Schwestern schienen gemeinsame Sache gegen Gerda gemacht zu haben. Sie hatten alle zitronengelbe Ringspielstöcke in den Händen, und die jüngste hatte sich drei bis vier von den rotumwundenen Reifen wie eine Art Turban auf den Kopf gesetzt. Sie war es auch, die jetzt sprach.

»Er sieht wie Themistokles auf dem Ofen im Bureau aus«, sagte sie mit schwärmerischem Gesicht und mit zum Himmel gewandten Augen zu ihren Mitverschworenen.

»Ach was!« erwiderte die Mittlere, eine mokante, kleine Dame, die im Frühjahr konfirmiert worden war. »Ob Themistokles wohl auch einen so runden Rücken hatte?« Und sie ahmte Niels Lyhnes ein wenig vornüber gebeugte Haltung nach. Themistokles, das fehlte noch!

»Es ist etwas so Männliches in seinem Blick, er ist ein ganzer Mann«, zitierte die Zwölfjährige.

»Der?« Das war wieder die Mittelste. »Der gebraucht ja Parfüms, ist das vielleicht männlich? Neulich lagen seine Handschuhe da und rochen in der Entfernung dermaßen nach Millefleur –«

»Alle Vollkommenheiten!« rief die Zwölfjährige in schmachtendem Entzücken dazwischen und schwankte ganz ergriffen einen Schritt rückwärts.

Alle die Äußerungen richteten sie scheinbar aneinander und nicht an Gerda, die glühendrot etwas abseits stand und mit ihrem gelben Stocke in die Erde bohrte. Plötzlich richtete sie sich auf. »Ihr seid ungezogene Mädchen, so[280] über jemand zu sprechen, der viel zu gut ist, um euch überhaupt anzusehen!«

»Er ist doch auch nur ein Mensch wie wir andern«, versetzte die Älteste von den dreien in mildem Tone, als wollte sie vermitteln.

»Nein, das ist er ganz und gar nicht!« erwiderte Gerda.

»Er hat aber doch auch seine Fehler«, fuhren die Schwestern fort, indem sie sich den Schein gaben, als hätten sie gar nicht gehört, was Gerda gesagt hatte.

»Nein!«

»Aber, liebste Gerda, du weißt doch, daß er niemals in die Kirche geht!«

»Was sollte er auch da? Er ist viel, viel klüger als der Prediger!«

»Ja, aber er glaubt doch, leider, nicht an Gott, Gerda!«

»Ach, du kannst überzeugt sein, mein Kind, daß er, wenn er das nicht tut, auch seine guten Gründe dafür hat.«

»Pfui, Gerda, wie kannst du das nur sagen!«

»Man sollte fast glauben –« unterbrach sie die eben Konfirmierte.

»Was sollte man fast glauben?« fragte Gerda erregt.

»Nichts, nichts, beiß mich nur nicht!« antwortete die Schwester und tat auf einmal ungeheuer friedlich.

»Willst du mir gleich im Augenblick sagen, was es war?«[281]

»Nein, nein, nein! ich kann doch wohl meinen Mund halten, wenn ich will.«

Sie ging von dannen in Begleitung der Zwölfjährigen, die in schwesterlicher Eintracht ihren Arm um sie gelegt hatte. Ihnen folgte die älteste, höchst entrüstet. Gerda blieb allein zurück und sah trotzig vor sich hin, während sie mit dem gelben Stocke in der Luft hin und her schlug. Dann währte es eine kleine Weile, da ertönte von dem anderen Ende des Gartens die heisere Singstimme der Zwölfjährigen:


Und fragst du mich, mein Schatz,

Was soll das welke Veilchen –


Niels verstand die Neckerei wohl; er hatte neulich Gerda ein Buch geschenkt, worin ein getrocknetes Weinblatt lag, das er in dem Garten zu Verona gepflückt hatte, wo sich Juliens Grab befindet. Er konnte sich kaum halten vor Lachen. Dann kam die Frau mit ihrem Manne zurück, den sie endlich gefunden hatte, und Niels gab ihm den eine Tischlerarbeit betreffenden Auftrag, um dessentwillen er gekommen war.

Von diesem Tage an achtete Niels fleißiger auf Gerda, und mehr und mehr wurde er sich bewußt, wie gut und lieblich sie sei, und allmählich schweiften seine Gedanken öfter zu diesem vertrauensseligen kleinen Mädchen hinüber.

Sie war auch wirklich reizend und hatte so viel von jener sanften, rührenden Schönheit, die uns unwillkürlich[282] die Tränen in die Augen lockt. Über ihre ganze früh entwickelte Gestalt war noch etwas kindlich Unschuldiges verbreitet. Ihre kleinen, weichgeformten Hände, die im Begriff waren, die rosenrote Farbe der Übergangszeit abzulegen, waren so unschuldig und hatten so gar nichts von der nervösen, zitternden Neugierde dieses Zeitpunktes an sich. Sie hatte einen starken, kleinen Hals, volle, runde Wangen, eine jener niedrigen träumerischen Frauenstirnen, in denen große Gedanken so ungewohnt, ja fast schmerzhaft sind, daß sich dabei die vollen Brauen unwillkürlich zusammenziehen. Und gar das Auge! So dunkelblau und tief, aber nur so tief wie ein Wasser, dessen Grund man sehen kann. Und dieses Auge lag zwischen vollen, weichen Augenwinkeln, in denen das Lächeln wohnte und wohl geschützt unter dem Lide wohnte, das sich verwundert hob. So sah sie aus, die kleine Gerda, weiß und rot und blond, mit all ihrem kurzen, goldig schimmernden Haar, das im Nacken zu einem zierlichen Knoten verschlungen war.

Sie sprachen oft miteinander, Niels und Gerda. Und er wurde immer mehr von ihr eingenommen; ruhig, fein und offen im Anfang, bis sich eines Tages eine Veränderung in der Luft, die sie umgab, bemerkbar machte, ein kleiner Funke von einem Gefühl, für das Sinnlichkeit ein zu starker Ausdruck war, obgleich es doch im Grunde nichts weiter war. Es treibt die Hände, den Mund und die Augen, nach dem zu greifen, was das Herz nicht nahe genug ans Herz ziehen kann. Und dann[283] eines Tages, bald darauf, ging Niels zu Gerdas Vater, weil Gerda so jung war, und weil er sich ihrer Liebe sicher fühlte. Und der Vater gab sein Jawort, und Gerda gab das ihre.

Im Frühjahr fand die Hochzeit statt.

Es wollte Niels scheinen, als sei das Dasein so unendlich klar und einfach geworden, das Leben so leicht zu leben, und das Glück so nahe und so mühelos zu gewinnen, wie die Luft, die er mit einem Atemzuge einsog.

Er liebte sie, die junge Frau, die er gewonnen hatte, liebte sie mit all der Reinheit der Gedanken und des Herzens, mit der ganzen, großen, zärtlich tiefen Fürsorglichkeit, die einem Manne innewohnt, der der Liebe Hang zum Sinken kennt und an der Liebe Fähigkeit, zu steigen, glaubt. Er ging so behutsam um mit dieser jungen Seele, die sich in namenlosem Vertrauen zu ihm hinneigte, die sich an ihn schmiegte mit derselben zärtlichen Zuversicht, mit derselben festen Überzeugung, daß er nichts wolle, als was gut und edel sei, wie er jenes Lamm im Gleichnis zu seinem Hirten hatte, das aus dessen Hand und aus dessen Becher trank. Er wagte es nicht, ihr ihren Gott zu nehmen, alle jene Scharen von weißen Engeln zu vertreiben, die den Tag über singend durch den Himmel schweben und gegen Abend zur Erde herabsteigen und von Lager zu Lager schreiten, treue Wacht haltend und das Dunkel der Nacht mit einem unsichtbaren Lichte erfüllend.[284]

Er wollte so ungern, daß seine schwerfälligeren, bilderlosen Lebensanschauungen sich zwischen sie und das milde Blauen des Himmels drängten und ihr dadurch ein Gefühl der Unsicherheit und des Verlassenseins gäben. Aber sie wollte es anders haben, sie wollte alles mit ihm teilen; es sollte keinen Platz im Himmel noch auf Erden geben, wo sich ihre Wege trennten, und alles, was er sagte, um sie zurückzuhalten, verscheuchte sie, alles, wenn auch nicht mit den Worten des moabitischen Weibes, so doch mit demselben unbiegsamen Gedanken, der in den Worten lag: dein Volk mein Volk, dein Gott mein Gott! Und nun fing er ernstlich an, sie zu belehren, und er entwickelte ihr, wie alle Götter nichts seien als Menschenwerk, wie sie gleich allem, was von Menschen stammt, nicht für ewige Zeit bestehen könnten, sondern verfallen müßten, Göttergeschlecht auf Göttergeschlecht, weil sich die Menschheit ewig fortentwickle und stets um ihre Ideale herum wachse. Und ein Gott, in den die Edelsten und Größten nicht ihren reichsten, geistigen Inhalt niederlegten, ein Gott, der sein Licht nicht von der Menschheit erhielt, sondern der aus sich selber leuchten sollte, ein Gott, der keine natürliche Folge war, sondern erstarrt in dem historischen Kalk der Dogmen, war nicht länger ein Gott, vielmehr ein Abgott, und darum war das Judentum in seinem vollen Rechte einem Baal und einer Astarte gegenüber, und auch das Christentum war in seinem vollen Rechte einem Jupiter und einem Odin gegenüber, denn ein Abgott ist nichts in der Welt. Von einem Gotte zum[285] andern war die Menschheit vorgeschritten, und deswegen konnte Christus auf der einen Seite gegen den alten Gott gewendet sagen, daß er nicht gekommen sei, das Gesetz aufzuheben, sondern es zu vervollkommnen, konnte er auf der anderen Seite, über sich hinaus, auf ein noch höheres Gottesideal zeigen durch seine mystischen Worte von der Sünde, die nicht verziehen werden könne, nämlich die Sünde wider den Heiligen Geist.

Und weiter lehrte er sie, wie der Glaube an einen persönlichen Gott, der alles zum Besten lenkt und in einem andern Leben straft und belohnt, nichts sei als ein Entfliehen vor der rauhen Wirklichkeit, ein ohnmächtiger Versuch, der trostlosen Willkür des Daseins den Stachel zu nehmen. Er wies ihr nach, wie es das Mitleid der Menschen mit den Unglücklichen abschwächen und sie weniger bereit machen müßte, alle Kräfte anzuspannen, um zu helfen, wenn sie sich mit dem Gedanken beruhigen könnten, daß alles, was hier in diesem kurzen Erdenleben erlitten wird, den Leidenden den Weg zur Ewigkeit in Herrlichkeit und Freuden bahne.

Er hob hervor, welche Kraft und Selbständigkeit es dem Menschengeschlecht verleihen müsse, wenn es im Glauben an sich selber sein Leben im Einklang mit dem zu leben suche, was der einzelne von allem, was in ihm lebe, in seinen besten Augenblicken am höchsten stelle, statt es außerhalb seiner selbst auf eine kontrollierte Göttlichkeit zu übertragen. Er machte seinen Glauben so schön, so segensreich, wie er nur konnte, aber er verbarg ihr[286] auch nicht, wie erdrückend schwer, wie trostlos die Wahrheit des Atheismus in Zeiten des Leidens zu tragen sei, im Vergleich mit jenem lichten, glücklichen Traume von einem himmlischen Vater, der lenkt und regiert. Aber sie war mutig. Wohl erschütterten sie viele seiner Lehren bis ins innerste Mark ihrer Seele, und am häufigsten gerade die, von denen man es am wenigsten hätte glauben sollen, aber ihr Vertrauen zu ihm kannte keine Grenzen, ihre Liebe zog mit ihm, alle Himmel hinter sich lassend, und sie liebte sich in seine Anschauungen hinein. Und nachdem ihr im Laufe der Zeit das Neue heimisch, geläufig geworden war, wurde sie in hohem Grade unduldsam und fanatisch, wie es stets mit den jugendlichsten Jüngern zu gehen pflegt, die ihrem Meister am glühendsten lieben. Niels tadelte sie oft, aber das konnte sie nun einmal nicht begreifen, wenn das Ihre das Wahre sei, daß dann das der anderen nicht abscheulich und lasterhaft wäre.

Drei Jahre lang lebten sie ein glückliches Leben miteinander, und ein gutes Teil des Glückes strahlte aus einem kleinen Kindergesicht, dem Gesicht eines kleinen Knaben, den sie im zweiten Jahre ihrer Ehe bekommen hatten.

Das Glück macht die Menschen im allgemeinen gut, und Niels strebte ehrlich und nach besten Kräften, ihr Leben so edel, so schön und so nützlich zu gestalten, daß niemals ein Stillstand eintreten möchte in dem Wachstum ihrer Seelen zu jenem Menschenideal, an das sie beide glaubten. Aber es war bei ihm nie mehr die Rede[287] von dem Gedanken, die Fahne der Idee unter die Menschheit hinauszutragen, es genügte ihm, ihr zu folgen. Es konnte wohl hin und wieder einmal vorkommen, daß er die alten Versuche wieder hervorholte, aber er wunderte sich stets darüber, daß wirklich er es war, der alle diese schönen kunstfertigen Dinge geschrieben hatte, und regelmäßig traten ihm beim Lesen seiner eigenen Werke die Tränen in die Augen. Er hätte aber nicht um alle Schätze der Welt mit dem Ärmsten tauschen mögen, der sie geschrieben hatte.

Da plötzlich, im Frühling, erkrankte Gerda so heftig, daß jede Hoffnung auf Genesung ausgeschlossen war.

Eines Morgens in der Frühe – es war ihre letzte Nacht – wachte Niels an ihrem Bette. Die Sonne war im Aufgehen begriffen und warf einen rosigen Schimmer auf die weißen Rouleaus, während das Morgenlicht, das an der Seite durch die Gardinen drang, noch blau war und den Schatten zwischen den weißen Falten des Bettes und unter Gerdas weißen, schmalen Händen, die gefaltet vor ihr auf dem Bettuche lagen, blau färbte. Die Nachthaube war ihr heruntergeglitten, und sie lag mit dem Kopfe weit hintenübergelehnt da, völlig verändert, wunderbar vornehm durch die scharfen, spitzen Züge, die ihr die Krankheit verliehen hatte! Sie bewegte die Lippen, als wolle sie sie netzen, und Niels griff nach dem Glase mit dem dunkelroten Trank; sie aber schüttelte verneinend ihr Haupt. Dann wandte sie plötzlich ihr Gesicht nach ihm um und starrte angestrengt in seine kummervollen[288] Züge. Je länger sie den ganzen tiefen Kummer ansah, den diese Züge ausdrückten, die ganze Hoffnungslosigkeit, die sich in ihnen abspiegelte, desto mehr verwandelten sich ihre schrecklichen Ahnungen in furchtbare Gewißheit.

Sie versuchte, sich aufzurichten, es war ihr aber nicht möglich.

Niels beugte sich hastig über sie, und sie ergriff seine Hand.

»Ist das der Tod?« fragte sie, ihre schwache Stimme dämpfend, wie um es nicht allzu deutlich auszusprechen.

Er sah sie nur an, indem er einen klagenden Seufzer ausstieß.

Gerda umklammerte seine Hand fest und warf sich in ihrer Angst über ihn. »Ich kann nicht sterben«, sagte sie.

Er sank vor dem Bette auf die Knie und schob seinen Arm unter ihr Kopfkissen, so daß er sie fast an seiner Brust hielt. Die Tränen standen ihm in den Augen, so daß er sie nicht sehen konnte, sie liefen eine nach der anderen an seiner Wange herab. Er führte ihre Hand mit einem Zipfel des Tuches an seine Augen, dann gewann er wieder Macht über seine Stimme. »Sage mir alles, teure Gerda«, begann er. »Kehre dich an nichts. Willst du den Pfarrer haben?« Er konnte nicht recht glauben, daß es das sei, und es lag ein wenig Zweifel in seiner Stimme.[289]

Sie antwortete nicht, sie schloß die Augen und zog den Kopf ein wenig zurück, als wollte sie mit ihren Gedanken allein sein.

Es währte eine Weile. Das langgezogene, weiche Flöten einer Drossel ertönte unter dem Fenster, dann flötete eine zweite und eine dritte; eine ganze Reihe von Flötentönen drängte sich in das Schweigen im Zimmer.

Dann blickte sie wieder auf. »Wenn du mit mir kommen könntest!« sagte sie und lehnte sich schwer gegen das Kissen, das er stützte. Es lag eine Liebkosung darin, das fühlte er. »Wenn du mit mir gehen könntest! Aber so ganz allein!« und sie nahm leise seine Hand in die ihre und ließ sie dann wieder fallen. »Ich wage es nicht!« Ihre Augen nahmen einen ängstlichen Ausdruck an. »Du mußt ihn holen, Niels, ich wage es nicht, allein da hinauf zu kommen – und so! Wir haben ja niemals daran gedacht, daß ich zuerst sterben könnte, wir waren so fest überzeugt, daß du vorausgehen müßtest. Ich weiß ja freilich – aber wenn wir uns nun doch geirrt hätten, Niels, es könnte doch möglich sein, Niels, nicht wahr? Du glaubst es nicht; aber es wäre doch wunderbar, wenn sich alle Menschen geirrt haben sollten, wenn da gar nichts wäre, alle die großen Kirchen – und wenn sie sie begraben – die Glocken –« Sie lag regungslos da, als lauschte sie auf die Glockentöne.

»Es ist unmöglich, Niels, daß es mit dem Tode vorbei ist, du kannst es nicht so fühlen, du bist ja gesund; du meinst, der Tod müsse uns völlig vernichten,[290] weil man so matt ist und weil alles hinschwindet; aber das ist nur für die Außenwelt. Hier drinnen ist ebensoviel Seele wie vorher, glaube mir es, Niels, ich habe es alles hier drinnen, was ich bekommen habe, dieselbe unendliche Welt, nur stiller, nur mehr für mich allein geradeso, als wenn man seine Augen schließt. Es ist nur wie ein Licht, das von dir fortgeht, fort von dir, ins Dunkle hinein, und es wird für dich schwächer und schwächer, und du kannst es nicht sehen, und doch leuchtet es noch ebenso hell, dort, wo es jetzt ist, weit fort von dir. Ich habe immer geglaubt, ich würde eine alte, alte Frau werden, ich würde hier bei euch allen bleiben, aber nun darf ich nicht länger, sie reißen mich fort von Haus und Herd und lassen mich ganz allein gehen. Ich fürchte mich, Niels! Dort, wohin ich nun kommen werde, dort regiert der Herr, und der kümmert sich nicht um unsere Klugheit hier auf Erden, er will das Seine haben und weiter nichts, und alles, was sein eigen ist, das liegt mir so fern, so fern! Ich habe nicht viel Böses getan, nicht wahr? Aber darauf kommt es ja nicht an – hol mir den Pfarrer, Niels, ich möchte so gern mit ihm reden!«

Niels stand auf und schickte sich an, den Pfarrer zu holen; er war dankbar, daß dies nicht im allerletzten Augenblicke gekommen war.

Der Pfarrer kam und blieb allein mit Gerda.

Er war ein hübscher Mann mittleren Alters, mit feinen, regelmäßigen Zügen und großen braunen Augen.[291] Natürlich kannte er sowohl Niels Lyhnes als auch Gerdas Stellung zur Kirche, ihm waren auch wohl hin und wieder verschiedene kirchenfeindliche Äußerungen der jungen Frau zu Ohren gekommen, aber es fiel ihm jetzt nicht ein, zu ihr wie zu einer Heidin oder einer Abtrünnigen zu reden, er verstand es nur zu gut, daß ihre große Liebe allein sie auf die Irrwege geführt hatte, und er verstand auch das Gefühl, das sie jetzt, wo die Liebe sie nicht weiter geleiten konnte, dazu veranlaßte, sich in ihrer Herzensangst nach einer Versöhnung mit dem Gotte zu sehnen, den sie früher gekannt hatte, und er bemühte sich deshalb, in seiner Rede hauptsächlich ihre schlummernden Erinnerungen zu wecken und ihr solche Stellen aus dem Evangelium und aus dem Gesangbuche vorzulesen, von denen er annehmen konnte, daß sie sie noch am besten kannte.

Und darin irrte er sich nicht. Wie klangen sie so heimatlich und festlich, diese Worte, gleich dem Läuten der Glocken am Weihnachtsmorgen, wie lag es auf einmal wieder vor ihrem Blick, das Land, in dem ihre Phantasie zu allererst heimisch gewesen war, das Land, in dem Joseph träumte und David sang, wo die Leiter steht, die vom Himmel bis zur Erde reicht! Mit Feigen und Maulbeerbäumen lag es da, und der Jordan schimmerte silberhell durch den Morgennebel, Jerusalem lag rot und trauernd im Strahl der Abendsonne, aber über Bethlehem breitete sich eine herrliche Nacht aus mit großen Sternen am dunkelblauen Himmel. Wie sprudelte da der[292] Kinderglaube wieder gewaltsam hervor! Sie wurde wieder zu dem kleinen Mädchen, das an der Hand der Mutter zur Kirche ging und dasaß und fror und sich darüber wunderte, weswegen die Menschen eigentlich so viel sündigten. Dann wuchs sie heran unter den hohen Worten der Bergpredigt, und als der Pfarrer von den heiligen Mysterien sprach, von den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls, da lag sie als kranke Sünderin da. Da gewann das wahre Bedürfnis ihres Herzens die Oberhand, jenes tiefe Knien vor dem allmächtigen, richtenden Gotte, jene bitteren Tränen der Reue über den verratenen, verspotteten, leidenden Gott, und jenes demütige und doch so kühne Sehnen, durch Wein und Brot einen neuen Vertrag zu schließen mit dem geheimnisvollen Gotte.

Der Pfarrer ging. Am Vormittage kehrte er zurück und bereitete sie zum Tode vor.

Die Kräfte nahmen, seltsam auflodernd, schnell ab, aber noch in der Dämmerung, als Niels sie zum letztenmal in seine Arme schloß, um Abschied von ihr zu nehmen, ehe die Schatten des Todes sich gar zu tief gelagert hatten, war sie bei vollem Bewußtsein. Aber die Liebe, die das höchste Glück seines Lebens gewesen war, war in ihrem Blick erloschen, sie war nicht mehr die Seine, schon jetzt nicht mehr, die Schwingen hatten schon angefangen zu wachsen, sie sehnte sich nur nach ihrem Gott.

Um Mitternacht starb sie.

Es waren schwere Zeiten, die nun folgten. Die Zeit[293] schwoll zu etwas Ungeheuerm, Feindlichem an; jeder Tag war eine unendliche Wüste von Inhaltslosigkeit, jede Nacht eine Hölle von Erinnerungen. Erst nach Monaten, als der Sommer zur Neige ging, hatte der schäumende, reißende Strom des Kummers sich ein Flußbett in seiner Seele geschaffen, so daß er dahinrinnen konnte wie ein murmelnder, schwerwogender Strom des Entbehrens und der Schwermut.

Da, eines Tages, als er vom Felde heimkehrte, fand er seinen kleinen Knaben schwer erkrankt vor. Der Kleine hatte in den letzten Tagen ein wenig gekränkelt und war in der vorhergehenden Nacht unruhig gewesen, niemand hatte jedoch geglaubt, daß es etwas zu bedeuten habe; jetzt lag er fieberheiß und fieberkalt in seinem kleinen Bette und stöhnte vor Schmerz.

Der Wagen wurde sofort nach Varde geschickt, um den Arzt zu holen, aber keiner von den Ärzten war zu Hause, und er mußte viele Stunden warten. Zur Schlafenszeit war er noch nicht zurück.

Niels saß am Lager des Knaben; jede halbe Stunde wenigstens sandte er jemand hinaus, um zu lauschen und zu spähen, ob der Wagen noch nicht käme. Ein reitender Bote wurde dem Wagen entgegengeschickt. Aber er begegnete keinem Wagen und ritt bis nach Varde.

Dies Warten auf eine Hilfe, die nicht kommen wollte, machte es noch unerträglicher, Zeuge der Leiden des kranken Kindes zu sein. Und die Krankheit machte reißende Fortschritte.[294]

Bald nach ein Uhr kam der reitende Bote mit dem Bescheid zurück, daß der Wagen fürs erste nicht zu erwarten sei, da noch keiner der Ärzte nach Hause gekommen war, als er die Stadt verlassen hatte.

Da brach Niels zusammen. Er hatte, solange noch ein Hoffnungsfunke vorhanden gewesen war, mutig gegen die Verzweiflung angekämpft, jetzt konnte er nicht länger. Er ging in die dunkle Stube, die neben dem Krankenzimmer lag, und starrte durch die dunkeln Fensterscheiben, während seine Nägel sich in das Holz des Fensterrahmens gruben; seine Augen fraßen sich gleichsam durch das Dunkel hindurch nach Hoffnung, sein Hirn krümmte sich zum Sprunge, einem Wunder entgegen, dann ward es einen Augenblick klar und still, und in dieser Klarheit trat er vom Fenster und warf sich über einen Tisch, der dort stand, und brach in Schluchzen aus, ohne jedoch eine einzige Träne hervorzubringen.

Als er wieder in das Krankenzimmer kam, hatte das Kind Krämpfe. Er sah es an, als wollte er sich damit töten. Es war entsetzlich, und doch war es noch nicht das Schlimmste. Als der Krampf nachließ und der Körper wieder weich und biegsam wurde und sich dem Glücke, weniger Schmerzen zu empfinden, hingab, da die Angst zu sehen, die der Blick des Kindes annahm, als es in der Ferne bemerkte, daß der Krampf wiederkehrte, dies steigende Flehen um Hilfe, je näher die Pein kam, nein, das ansehen zu müssen und nicht helfen zu können, nicht mit dem eigenen Herzblute, nicht mit allem, was er besaß,[295] was er hatte – er erhob seine geballten Hände drohend gen Himmel, er griff in dem wahnsinnigen Gedanken an eine Flucht nach dem Kinde, und dann warf er sich auf die Erde, auf seine Knie, und betete zu dem Gott da droben im Himmel, der das Erdreich durch Prüfungen und Züchtigungen in Angst erhält, der Not und Krankheit, Leiden und Tod sendet, der da will, daß sich alle Knie zitternd vor ihm beugen sollen, und vor dem kein Entfliehen möglich ist, weder ans äußerste Meer noch in die tiefsten Tiefen hinab, der, wenn es ihm gefällt, den, den du am heißesten auf der ganzen Welt liebst, mit Füßen treten und ihn zu dem Staube zermalmen wird, woraus er selber ihn geschaffen hat.

Mit solchen Gedanken betete Niels Lyhne zu Gott, warf sich in seiner Ohnmacht vor dem Himmelsthrone nieder und bekannte, daß die Macht sein sei, sein alleiniges Eigentum.

Aber das Kind litt nach wie vor. Gegen Morgen, als der alte Sanitätsrat, der Hausarzt, durch das Hoftor fuhr, war Niels Lyhne allein.

Quelle:
Jacobsen, J[ens] P[eter] : Niels Lyhne. Leipzig [o. J.], S. 276-296.
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