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[26] Und die Jahre schwanden dahin: ein Weihnachtsfest folgte dem anderen, die Luft noch lange nach dem heiligen Dreikönigstage mit seinem strahlenden Festglanz erfüllend; eine Pfingstzeit nach der anderen lächelte auf die blütenduftenden Frühlingswiesen; Sommer auf Sommer rückte heran, feierte seine Sonnenscheingelage und schüttete seinen Sommerwein aus vollen Schalen aus, und dann eines Tages, mit der sinkenden Sonne, lief er davon, und es blieb nur die Erinnerung zurück, mit den sonnverbrannten Wangen, den verwunderten Augen und dem erregten Blute.[26]
Und die Jahre schwanden dahin, und die Welt war nicht mehr die Wunderwelt, die sie zuvor gewesen war; in den dunkeln Winkeln hinter den morschen Holunderbäumen, in den geheimnisvollen Bodenkammern und in jener düstern Steinkiste am Klastrupwege wohnte nicht mehr das märchenhafte Grauen; und jener breite Hügel, der beim ersten Lerchenschlag sein Gras unter den purpurränderigen Sternen der Tausendschönchen und den gelben Glocken der Himmelsschlüsselchen barg, der Bach mit seinen phantastischen Tier- und Pflanzenschätzen und die wilden Bergabhänge der Sandgrube mit ihren schwarzen Steinen und den silbern schimmernden Granitblöcken, das alles waren nur armselige Blumen, Tiere und Steine; das strahlende Goldhaar der Feen war wieder in Laub verwandelt.
Ein Spiel nach dem anderen war alt und langweilig, dumm und sinnlos geworden wie die Bilder in der Fibel, und doch waren sie einmal so neu gewesen, so wunderbar neu!
Dort hatten sie mit dem Leitseil gespielt, Niels und des Pfarrers Frithjof, und der Reifen war ein Fahrzeug gewesen, das strandete, sobald er auf die Seite fiel, ergriff man ihn aber noch rechtzeitig, so warf das Schiff seine Anker aus. Den schmalen Steig am Meeresufer entlang, der so beschwerlich zu begehen war, nannten sie Bab el Mandeb oder die Pforte des Todes, auf die Stalltür hatten sie mit Kreide geschrieben, daß hier England sei, und auf der Scheunentür stand: Frankreich; die[27] Gartenpforte war Rio de Janeiro und die Schmiede Brasilien. Sie hatten auch ein Spiel, welches Holger Danske hieß, das konnten sie zwischen den großen Klettenblättern hinter der Scheune spielen; aber oben im Felde hinter der Mühle befanden sich mehrere Erdhöhlen, dort hauste Prinz Beomund in höchsteigener Person, und jene wilden Sarazenen mit rotgrauen Turbanen und gelben Helmbüschen – Kletten und Königskerzen von mächtigem Wuchs; dort war das richtige Mauretanien, denn diese grenzenlose Üppigkeit, diese unübersehbaren Massen wuchernden Lebens reizten den Zerstörungsgeist, berauschten den Sinn mit der Wollust des Vernichtens, und die hölzernen Schwerter blitzten mit dem Glanze des Stahles, der grüne Pflanzensaft färbte die Klingen blutrot, und die abgehauenen Stengel, welche die Füße zermalmten, waren Türkenleiber, die von Pferdehufen zerstampft wurden.
Unten am Meeresstrande hatten sie gespielt; sie sandten Muschelschalen aus, das waren Schiffe, und wenn ein Stückchen Seetang ihren Lauf hemmte oder wenn sie an einer Sandbank landeten, so stellte das Kolumbus im Sargassomeere vor oder die Entdeckung von Amerika. Hafenanlagen wurden gemacht und mächtige Dämme, sie gruben den Nil in dem festen Sande am Strande aus, und einmal bauten sie aus Kieselsteinen das Schloß Gurre, ein kleiner, toter Fisch in einer Austernschale war die tote Tove, und sie selber waren König Waldemar, der trauernd an dem Leichnam der Geliebten saß.[28]
Aber das war alles vorbei.
Niels war jetzt ein großer Knabe, er war zwölf Jahre alt und brauchte nicht mehr auf Disteln und Kletten loszuhauen, um seinen Ritterphantasien zu genügen, wie er denn auch nicht mehr nötig hatte, seine Entdeckungsträume in Muschelschalen aussegeln zu lassen; jetzt genügten ihm ein Buch und eine Sofaecke, und reichte auch das nicht aus, wollte ihn das Buch nicht an eine Küste tragen, die ihm lieb war, so suchte er Frithjof auf und erzählte ihm die Geschichte, die das Buch ihm versagt hatte. Arm in Arm gingen sie dann den Weg entlang, der eine erzählend, beide lauschend; wollten sie aber so recht genießen, der Phantasie ihren freien Lauf lassen, so versteckten sie sich in dem duftigen Halbdunkel des Heubodens. Doch bald wurden diese Geschichten, die ja immer endeten, wenn man sich eben in sie hineingelebt hatte, zu einer einzigen, langen Geschichte, die niemals ein Ende nahm, sondern eine Generation nach der anderen zu Grabe trug; denn war der Held zu alt geworden oder hatte man ihn unvorsichtigerweise umkommen lassen, so gab man ihm einen Sohn, der die Erbschaft des Vaters antrat und den man zugleich mit all den neuen Eigenschaften ausstatten konnte, auf die man in dem Augenblicke ein besonderes Gewicht legte.
Alles, was Eindruck auf Niels gemacht hatte, was er gesehen, was er verstanden, und was er mißverstanden hatte, was er bewunderte, sowie das, wovon er wußte, daß man es bewundern sollte, alles dies kam in die Geschichte.[29] Wie ein fließendes Wasser von jedem Bilde gefärbt wird, das sich seinem Spiegel nähert, und je nachdem der Zufall es will, das Bild in ungestörter Klarheit wiedergibt, oder es verzerrt und verunstaltet, oder es in wellenförmigen, unsicher zitternden Umrissen zurückwirft, oder auch es ganz im Spiel der eigenen Farben und Linien ertränkt: so ergriff die Geschichte des Knaben Gefühle und Gedanken, eigene wie fremde, ergriff Menschen wie Begebenheiten, Leben und Bücher, so gut sie sie ergreifen konnte. Es war gleichsam ein Leben, das neben dem wirklichen Leben gespielt wurde, es war ein trautes, heimliches Versteck, wo sich so süß von den wildesten Abenteuern träumen ließ, es war ein Märchengarten, der sich auf den leisesten Wink öffnete, der den Knaben einließ in seine ganze Herrlichkeit, der alle anderen ausschloß. Von oben war dieser Garten durch säuselnde Palmen geschlossen, und unten zwischen Blumen aus Sonne und Blättern, auf Sternen, auf Korallenzweigen, da eröffneten sich tausend Wege zu allen Ländern und allen Zeiten; schlug man den einen Weg ein, so gelangte man hierhin, und auf dem anderen gelangte man dorthin – zu Aladdin, zu Robinson Crusoe, zu Vaulunder und Henrik Magnard, zu Niels Klim und Mungo Park, zu Peter Simpel und zu Odysseus – und sobald man es nur wünschte, war man wieder daheim.
Ungefähr einen Monat nach Niels' zwölftem Geburtstage waren zwei neue Gesichter auf Lönborggaard erschienen.[30]
Das eine war das des neuen Hauslehrers, das andere gehörte Edele Lyhne.
Der Hauslehrer, Herr Bigum, war Kandidat der Theologie und stand auf der Schwelle der Vierziger. Er war klein, aber kräftig, von fast lasttiermäßigem Bau, mit breiter Brust, hochschultrig und stiernackig. Seine Arme waren lang, die Beine stark und kurz, die Füße breit. Sein Gang war langsam, schwer und energisch, seine Armbewegungen waren unbestimmt, ausdruckslos und erforderten viel Platz. Er war rotbärtig wie ein Wilder, und seine Haut war mit Sommersprossen bedeckt. Seine große, hohe Stirn war flach wie eine Wand, zwischen den Augenbrauen hatte er ein paar lotrechte Runzeln, die Nase war kurz und plump, der Mund groß mit dicken, frischen Lippen. Das schönste an ihm waren seine Augen, sie waren hell, sanft und klar. An den Bewegungen der Augäpfel konnte man sehen, daß er ein wenig schwerhörig war. Dies verhinderte ihn aber nicht, die Musik zu lieben und ein leidenschaftlicher Violinspieler zu sein; denn er sagte, man höre die Töne nicht mit den Ohren allein, der ganze Körper höre, die Augen, die Finger, die Füße, und ließe uns auch das Ohr einmal im Stich, würde doch die Hand den rechten Ton zu finden wissen, auch ohne Hilfe des Gehörs. Und schließlich seien doch alle hörbaren Töne falsch, wem aber einmal die Gnadengabe der Töne beschert sei, der besitze in seinem Innern ein unsichtbares Instrument, gegen das die herrlichste Cremoneser Geige nur wie die Ralebaßvioline der Wilden[31] sei, und auf diesem Instrumente spiele die Seele, auf seinen Saiten erklängen die idealen Töne und auf ihm hätten die großen Tondichter ihre unsterblichen Werke komponiert. Die äußerliche Musik, die die Luft der Wirklichkeit durchbebt und die man mit den Ohren vernimmt, sei nur eine armselige Nachahmung, ein stammelnder Versuch, das Unaussprechliche zu sagen, sie sei im Vergleich zu der seelischen Musik dasselbe, was die Statue, die mit den Händen gebildet, mit dem Meißel ausgehauen, mit dem Maße gemessen sei, im Vergleich zu des Bildhauers wunderbarem Marmortraume sei, den zu schauen sterblichen Augen nicht vergönnt wird.
Übrigens war die Musik keineswegs das Hauptinteresse des Herrn Bigum; er war vor allem Philosoph, nicht aber einer jener produktiven Philosophen, welche neue Gesetze erfinden und Systeme bauen; er lachte über ihre Systeme, diese Schneckenhäuser, die man über das unendliche Feld des Gedankens in dem einfältigen Glauben mit sich herumschleppt, daß das, was sich im Innern des Schneckenhauses befindet, das Feld sei. Und diese Gesetze! Gedankengesetze, Naturgesetze! als wäre ein Gesetz entdecken etwas anderes als einen bestimmten Ausdruck für das Bewußtsein finden, wie beschränkt man im Grunde sei; so weit kann ich sehen und nicht weiter, das ist mein Horizont, das und weiter nichts bedeutete die Entdeckung; denn war nicht ein neuer Horizont hinter dem ersten, und ein neuer und abermals ein neuer, Horizont hinter Horizont, Gesetz hinter Gesetz bis in die Unendlichkeit hinaus?[32] Herr Bigum war nicht auf diese Weise Philosoph. Er glaubte nicht, daß er eingebildet sei, daß er sich selber überschätze, aber er konnte seine Augen nicht vor der Tatsache verschließen, daß seine Intelligenz sich über weitere Felder erstreckte als die anderer Sterblichen. Wenn er sich in die Werke der großen Denker vertiefte, so war es ihm, als bewege er sich zwischen einer Schar schlummernder Gedankenriesen, die, vom Lichte seines Geistes überströmt, erwachten und ihrer Stärke inne wurden. Und so war es mit allem: jeder fremde Gedanke, jede Stimmung, jedes Gefühl, dem es vergönnt war, in ihm zu erwachen, das erwachte mit seinem Stempel auf der Stirn, geadelt, geläutert, gestärkt zu neuem Fluge, mit einer Größe in sich, mit einer Macht an sich, von welcher der Schöpfer desselben niemals geträumt hatte!
Wie oft hatte er nicht beinahe demütig gestaunt über diesen wunderbaren Reichtum seiner Seele, über diese selbstbewußte, göttliche Ruhe seines Geistes, denn es konnte Tage geben, an denen er die Welt und die Dinge in der Welt von ganz entgegengesetzten Standpunkten beurteilte, wo er die Welt und die Dinge unter Voraussetzungen betrachtete, die so verschieden voneinander waren wie Tag und Nacht, ohne daß diese Standpunkte und Voraussetzungen, die er zu seinen eigenen gemacht hatte, ihn jemals, auch nur auf eine Sekunde, zu ihrem Eigentum gemacht hätten, ebensowenig wie der Gott, welcher die Gestalt des Stieres oder des Schwanes annahm, dadurch[33] einen Augenblick zum Stier oder Schwan ward und aufhörte Gott zu sein.
Es gab niemand, der von dem, was in Herrn Bigum wohnte, eine Ahnung gehabt hätte. Alle gingen sie blind an ihm vorüber, er aber freute sich über diese Blindheit, in Verachtung der Menschheit. Es werde der Tag kommen, meinte er, da sein Auge erlöschen, da die Pfeiler zu dem herrlichen Gebäude seines Geistes schwanken, zusammenbrechen, da er selber vergehen würde, als sei er niemals gewesen, ohne ein Werk von seiner Hand zu hinterlassen, nicht ein geschriebenes Titelchen, das von dem, was an ihm verloren war, Kunde geben könnte. Er jubelte bei dem Gedanken, daß Geschlecht auf Geschlecht kommen und gehen würde, daß die Größten dieser Geschlechter ihr Leben einsetzen würden, um das zu gewinnen, was er hätte geben können, wenn er nur seine Hand hätte öffnen wollen.
In einer so untergeordneten Stellung zu leben, bereitete ihm einen eigenartigen Genuß, denn welche Verschwendung lag darin, daß sein Geist dazu verwendet werden sollte, Kinder zu unterrichten! War es nicht ein wahnsinniges Mißverhältnis, eine riesige Ungereimtheit, daß man seine (des genialen Bigums) Zeit mit dem armseligen täglichen Brot bezahlte, daß er dies Brot auf Empfehlung gewöhnlicher Menschen verdienen durfte, die sich für seine Fähigkeit verbürgten, den jämmerlichen Platz eines Hauslehrers auszufüllen?
Und man hatte ihn durchfallen lassen, als er sein[34] Staatsexamen machte! Daß der brutale Unverstand der Welt ihn beiseite warf wie elende Spreu, während man das Leere, Inhaltlose für goldenes Korn achtete, welchen Genuß mußte ihm das bereiten, ihm, der sich sagen durfte, seine geringsten Gedanken seien eine ganze Welt wert!
Aber es gab auch Zeiten, in denen die Größe seiner Einsamkeit schwer und erdrückend auf ihm lag. Ach wie oft, wenn er Stunde auf Stunde in heiligem Schweigen auf die Stimme in seinem Innern gelauscht hatte, dann Auge und Ohr wieder dem Leben öffnete, das ihn umgab, und sich nun so fremd fühlte in dem Elend und der Vergänglichkeit des irdischen Daseins – wie oft war ihm da nicht zumute wie jenem Mönch, der im Klosterwalde gelauscht hatte, während der Paradiesvogel einen einzigen Triller sang, und der, als er zurückkehrte, hundert Jahre entschwunden fand! Denn fühlte sich schon der Mönch einsam zwischen dem unbekannten Geschlecht, wie ungleich einsamer mußte nicht er sich fühlen, dessen wahre Zeitgenossen noch nicht einmal geboren waren! In solchen Augenblicken der Verlassenheit konnte sich Bigum über dem feigen Wunsche ertappen, hinabsinken zu können zu dem Schwarm der gewöhnlichen Sterblichen und ihr niederes Glück zu teilen, ein Bürger zu werden auf ihrer großen Erde, ein Bürger in ihrem kleinen Himmel. Aber bald war er wieder er selber.
Der andere Gast des Hauses, Fräulein Edele Lyhne, Lyhnes sechsundzwanzigjährige Schwester, hatte viele Jahre[35] hindurch in Kopenhagen gelebt, zuerst bei der Mutter, die, nachdem sie Witwe geworden, in die Hauptstadt gezogen war, und seit dem Tode der Mutter bei ihrem reichen Onkel, dem Etatsrat Neergaard. Der Etatsrat machte ein großes Haus und nahm regen Anteil am geselligen Leben, so daß Edele in einen wahren Wirbel von Bällen und Festen hineingeriet.
Überall wurde sie bewundert, und die Mißgunst, der getreue Schatten der Bewunderung, verfolgte auch sie. Sie war eine so viel besprochene Persönlichkeit, wie es unbeschadet des guten Rufes irgend möglich ist, und wenn die Herren untereinander über die drei Schönheiten der Stadt sprachen, erhoben sich stets viele Stimmen, die den einen der drei Namen ausstreichen und den von Edele Lyhne an die Stelle setzen wollten; man konnte nur nicht einig werden, welche von den beiden Schönheiten das Feld zu räumen hätte, von der dritten konnte natürlich gar keine Rede sein.
Ganz junge Leute freilich bewunderten sie nicht. Solchen war es ein wenig bange vor ihr; sie fühlten sich in ihrer Nähe doppelt so dumm, als sie waren, denn Edele hörte sie mit einem Ausdruck gelinde vernichtender Geduld an, mit einem Blick boshaft bemerklich gemachter Geduld, der deutlich erzählte, daß sie auswendig wisse, was man ihr zum besten gab. Für alles, was diese Herrchen sagten, für alle ihre Anstrengungen, sich in ihren eigenen wie in Edelens Augen zu heben, indem sie blasiert erscheinen wollten, indem sie wilde Paradoxen aufstellten,[36] oder indem sie, wenn die Verzweiflung den Höhepunkt erreicht hatte, unverschämte Erklärungen machten – für alle diese Versuche, die einander in jugendlich unmotivierten Übergängen drängten und überstürzten, hatte sie nur ein schwaches Lächeln, ein fatales Lächeln des Wiedererkennens, das den Unglücklichen erröten machte und ihn merken ließ, daß er die hundertundelfte Fliege sei, die sich in demselben unbarmherzigen Spinngewebe gefangen hatte.
Auch hatte ihre Schönheit weder das Weiche, noch die Glut, die so betörend auf junge Herzen wirken, wogegen sie auf ältere Herzen, sowie auf kühlere Köpfe einen eigenen Zauber ausübte. Sie war groß. Ihr dichtes, schweres Haar war blond und hatte jenen matten, rötlichen Schimmer, der über reifem Weizen liegt, es wuchs ihr tief in den Nacken hinein in zwei schmaler werdenden Reihen, die etwas heller waren als das übrige Haar und sich stark lockten. Auf der hohen, scharf geformten Stirn zeichneten sich die ziemlich hellen Brauen unbestimmt und ohne Linien ab. Die hellgrauen, großen, klaren Augen wurden durch keine Brauen gehoben, erhielten auch kein wechselndes Spiel von Schatten durch die leichten, dünnen Augenlider. Sie hatten etwas Unbestimmtes, Unschlüssiges in ihrem Ausdruck, sahen die Menschen voll und offen an, hatten nichts von jenem reichen Spiel mit Seitenblicken, jenem flüchtigen Aufblitzen, sie schienen unnatürlich wach, unbezwinglich, unergründlich. Das ganze Mienenspiel lag im Untergesicht, in den Nasenflügeln,[37] in Mund und Kinn. Die Augen schauten nur zu. Vor allem war der Mund ausdrucksvoll mit seinen tiefen Winkeln, seinen scharfgezeichneten Umrissen und den lieblich gebogenen Linien der Lippen. Nur in der Haltung der Unterlippe lag etwas Hartes, das beim Lächeln oft fast verschwand, oft aber auch einem Ausdruck von Brutalität nahe kam.
Die fast gewaltsam geschwungene Linie des Rückens und die im Verhältnis zu den strengen Formen der Schultern und Arme große Fülle des Busens gaben ihr etwas Herausforderndes, etwas berauschend Tropisches, das durch ihren blendend weißen Teint und die krankhafte, stark blutrote Farbe der Lippen noch mehr hervorgehoben wurde, so daß der Gesamteindruck ihrer Erscheinung ein sinnberückender und dabei besorgniserregender war.
Es lag über ihrer ganzen hohen, hüftlosen Gestalt etwas gesteigert Stilvolles, das sie, namentlich in ihren Balltoiletten, mit einer kecken Kunst hervorzuheben wußte, die von ihrem Kunstverstand – der hier Selbstverständnis war – ein beredtes Zeugnis gab. Und konnte man auch nicht leugnen, daß sie damit dicht an den schlechten Geschmack streifte, so fand man doch darin nur einen neuen Reiz.
Nichts konnte tadelloser sein als ihr Auftreten. In dem, was sie sagte, wie in dem, was sie sich sagen ließ, hielt sie sich stets in den Grenzen der strengsten Züchtigkeit. Ihre Gefallsucht bestand darin, daß sie sich nicht im geringsten gefallsüchtig zeigte, daß sie für den Eindruck,[38] den sie unter ihren Anbetern hervorrief, unheilbar blind war, und daß sie durchaus keinen Unterschied machte. Aber gerade deswegen träumten sie alle berauschende Träume von dem Gesicht, das sich hinter der Maske befinden müsse, glaubten sie alle an ein Feuer unter dem Schnee. Keiner von ihnen würde überrascht gewesen sein, wenn er erfahren hätte, daß sie einen heimlichen Liebhaber besitze, aber ebensowenig würde einer von ihnen es gewagt haben, seinen Namen zu erraten.
In diesem Lichte sah man Edele Lyhne.
Sie hatte die Hauptstadt verlassen, weil ihre Gesundheit durch dies unaufhörliche Gesellschaftstreiben, diese Tausendundeine Nacht von Bällen und Maskeraden Schaden genommen hatte. Gegen Ende des Winters hatte es sich herausgestellt, daß ihre Brust stark angegriffen sei, weshalb der Arzt Landluft, Ruhe und Milch verordnet hatte, lauter Dinge, die sich an ihrem jetzigen Aufenthaltsorte köstlich beisammen fanden. Aber auch eine unerträgliche Langeweile fand sich hier, und noch war Edele keine Woche auf dem Lande gewesen, als sie schon von einem verzehrenden Heimweh nach Kopenhagen ergriffen wurde. Einen Brief nach dem anderen füllte sie mit Bitten, daß man ihrer Verbannung doch ein Ende machen möge, und sie sprach es offen aus, daß ihr das Heimweh mehr Schaden zufüge, als die Landluft ihr gut tue. Aber der Arzt hatte den Etatsrat zu ängstlich gemacht, als daß er es nicht für seine Pflicht gehalten hätte, ihren bitterlichen Klagen gegenüber taub zu bleiben.[39]
Es waren nicht eigentlich die Vergnügungen, was sie so schmerzlich entbehrte, sondern daß sie dem Bedürfnisse nicht genügen konnte, ihr Leben hörbar in der geräuschvollen Luft der großen Stadt verklingen zu lassen; herrschte doch auf dem Lande eine Stille in Gedanken, in Worten, in Augen, in allem, so daß man unausgesetzt sich selber hörte, mit derselben unvermeidlichen Bestimmtheit, mit der man in einer schlaflosen Nacht das Ticken der Uhr vernimmt. Und dann zu wissen, daß die da drüben lebten, weiter lebten wie früher, es war ihr, als sei sie bereits gestorben und höre in der stillen Nacht die Töne des Ballsaales über ihrem Grabe.
Hier war niemand, mit dem sie sprechen konnte, denn man erfaßte ihre Worte nicht in der feineren Bedeutung, die gerade das Leben der Worte ausmacht; man verstand sie wohl, es war ja Dänisch, aber mit jenem matten Ungefähr, mit dem man eine fremde Sprache versteht, die man nicht zu hören gewohnt ist. Die Leute ahnten ja nicht, auf wen oder auf was sie durch jene schärfere Betonung eines Satzes anspielte, sie ließen es sich nicht träumen, daß dies kleine Wort ein Zitat war, oder daß jenes andere, gerade in dieser Zusammensetzung, eine neue Einkleidung eines allgemein bekannten Witzes sei. Sie selber sprachen mit einer bitteren Magerkeit, so daß man das Knochengerüste der Grammatik zwischen den einzelnen Sätzen herausfühlen konnte, sprachen mit einer buchstäblichen Anwendung der Wörter, als hätten sie sie eben frisch den Spalten des Wörterbuches entnommen.[40] Schon die Art und Weise, wie sie »Kjöbenhavn« sagten! Bald mit einer gedeckten Betonung, als sei es ein Ort, an dem man kleine Kinder verzehre, bald mit einer Entfernung in der Stimme, als handle es sich um eine Stadt im Innern von Afrika, oder auch mit einem feierlichen Tone, als klinge die Weltgeschichte hindurch, ganz so, wie sie Ninive oder Karthago gesagt haben würden. Keiner von ihnen konnte Kjöbenhavn sagen, so daß es eine Stadt wurde, die sich vom Westtor bis zur Zollbude erstreckte, zu beiden Seiten der Östergade und von Kongens Nytorv. Und so war es mit allem, was sie sagten; und mit allem, was sie taten, war es ebenso.
Es gab nichts auf Lönborggaard, was ihr nicht mißfallen hätte: diese Mahlzeiten, die sich nach der Sonne richteten, dieser Lavendelduft in den Schränken und Schubladen, diese spartanischen Stühle, alle diese Provinzmöbel, die sich so eng an die Wände schmiegten, als sei ihnen bange vor den Leuten. Auch die Luft war ihr widerwärtig: man konnte keinen Spaziergang machen, ohne einen derben Duft von Wiesenheu und Feldblumen in seinem Haar und seinen Kleidern mit heimzubringen, als sei man in ein Wagehaus eingesperrt gewesen.
Und dann – Tante genannt zu werden, Tante Edele! Wie das klang!
Daran gewöhnte sie sich indessen mit der Zeit, aber im Anfang war ihr Verhältnis zu Niels aus diesem Grunde sehr kühl.
Niels war das ganz einerlei.[41]
Da geschah es an einem Sonntag, Anfang August, daß Lyhne und seine Frau in die Nachbarschaft gefahren, und Niels und Fräulein Edele allein zu Hause geblieben waren. Am Vormittag hatte Edele Niels gebeten, ihr einige Kornblumen zu pflücken, er hatte es aber vergessen, und erst am Nachmittag, als er mit Frithjof umherschlenderte, erinnerte er sich daran. Er pflückte die Blumen und lief damit nach Hause.
Die Stille, die im ganzen Hause herrschte, erweckte in ihm die Vorstellung, daß die Tante schlafe, und vorsichtig schlich er durch die Zimmer. Auf der Schwelle zum Saal hielt er inne und bereitete sich darauf vor, ganz leise zu Edelens Tür hinüberzugehen. Das Zimmer war voll Sonnenschein, und ein großer, blühender Oleander machte die Luft beklommen mit seinem süßen Mandelduft. Der einzige Laut, der hörbar war, kam vom Blumentische her, wo die Goldfische in ihrem Glasgefäß plätscherten.
Niels ging leise über den Fußboden. Dabei hielt er die Arme in der Schwebe und die Zunge zwischen den Zähnen.
Behutsam faßte er den Türgriff an, der, von der Sonne durchglüht, ihm in der Hand brannte; langsam und vorsichtig, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen, drehte er ihn herum.
Jetzt öffnete er die Tür ein wenig, beugte sich durch die Öffnung vor und legte die Blumen auf einen Stuhl, der neben der Tür stand. Es war dunkel im Zimmer,[42] als wären die Vorhänge geschlossen, und die Luft war gleichsam feucht von Duft, von Rosenölduft.
In seiner gebückten Stellung sah er nichts als den hellen Strohteppich, der auf dem Fußboden lag, die Holzverkleidung unter dem Fenster und den lackierten Fuß eines Pfeilertisches; als er sich aber aufrichtete, um sich zurückzuziehen, erblickte er die Tante.
Sie lag ausgestreckt auf dem seegrünen Atlas des Ruhebetts, in ein phantastisches Zigeunerkostüm gekleidet. Sie lag auf dem Rücken, den Kopf zurückgebeugt, das Kinn in der Luft; ihr langes, aufgelöstes Haar floß über die Lehne des Ruhebettes auf den Teppich herab. Eine künstliche Granatblüte auf dem bronzefarbenen Lederschuh glich einer Insel in mattgoldenem Strom.
Die Farben ihres Anzuges waren mannigfaltig, aber alle gedämpft. Ein Mieder von schwerem, glanzlosem Stoff, buntgemustert mit dunkelblauen, blaßroten, grauen und orangefarbenen Flammen, umschloß ein weißseidenes Hemd mit weiten Ärmeln, die bis an den Ellenbogen reichten. Die Seide hatte einen rötlichen Schimmer und war mit einzelnen Fäden roten Goldes leicht durchwirkt. Ihr Rock von aurikelfarbenem Samt ohne Kante war nicht zusammengerafft, sondern umfloß sie lose, bildete schiefe Falten von unten nach oben und hing von dem Ruhebett auf die Erde herab. Vom Knie abwärts waren ihre Beine entblößt, und die übers Kreuz gelegten Knöchel hatte sie mit einer großen Halskette von blaßroten Korallen zusammengebunden. Auf dem Fußboden lag ein[43] geöffneter Fächer, dessen Zeichnung ein zu einem Rad geordnetes Kartenspiel darstellte, in geringer Entfernung davon lagen ein paar braune, seidene Strümpfe, der eine zusammengezogen, der andere flach ausgebreitet, so daß man die ganze Form derselben und den roten Zwickel deutlich erkennen konnte.
In demselben Augenblick, wo Niels sie erblickte, hatte auch sie ihn schon gesehen. Sie machte unwillkürlich eine Bewegung, wie um sich zu erheben, bezwang sich aber und blieb ruhig liegen, wendete nur den Kopf ein wenig und schaute Niels fragend an.
»Da sind sie«, sagte er und trat mit den Blumen an sie heran.
Sie streckte die Hand danach aus, verglich mit einem flüchtigen Blick die Farbe der Blumen mit der Farbe ihres Gewandes und ließ sie mit einem müden Unmöglich! fallen.
Mit einer abwehrenden Bewegung der Hand hinderte sie Niels, die Blumen aufzuheben.
»Gib mir das da«, sagte sie und zeigte auf ein rotes Fläschchen, das auf einem zerknitterten Taschentuch neben ihren Füßen lag.
Niels trat an das Fußende des Ruhebettes, er war dunkelrot geworden, und indem er sich hinabbeugte über diese mattweißen, sich langsam rundenden Beine und über diese langen, schmalen Füße, die in ihren fein geschweiften Formen etwas von der Intelligenz der Hand hatten, überfiel ihn ein Schwindel, und als sich in demselben[44] Augenblick der eine Fuß mit einer plötzlichen Bewegung krümmte, war er nahe daran, umzufallen.
»Wo hast du die Kornblumen gepflückt?« fragte Edele.
Niels raffte sich auf und wandte sich nach ihr um. »Sie standen zwischen dem Roggen auf dem Pfarracker«, antwortete er mit einer Stimme, über die er sich selber wundern mußte, es war so viel Klang darin. Ohne aufzublicken, reichte er ihr das Fläschchen.
Edele bemerkte seine Erregtheit und sah ihn staunend an. Plötzlich errötete sie, stützte sich auf den einen Arm und zog die Beine unter den Rock. »Geh, geh, geh, geh!« sagte sie halb ärgerlich, halb verlegen, und bei jedem Wort sprengte sie etwas von der Rosenessenz auf Niels.
Niels ging.
Als er zur Tür hinaus war, ließ sie langsam die Beine von dem Ruhebett herabgleiten und betrachtete sie neugierig.
Mit hastigem, unsicherem Gang eilte Niels durch die Stuben auf sein Zimmer. Er war ganz verwirrt, er fühlte eine so wunderbare Mattigkeit in seinen Knien und hatte ein Gefühl im Halse, als müßte er ersticken. Dann warf er sich auf das Sofa und schloß seine Augen, aber er konnte keine Ruhe finden. Es war eine unbegreifliche Unruhe über ihn gekommen, das Atemholen ward ihm so schwer, er empfand eine quälende Angst, das Licht schmerzte ihn trotz der geschlossenen Augen.[45]
Nach und nach wurde das anders, es war, als umfächelte ihn ein warmer, drückender Atem, der ihn so hilflos machte, so matt. Er hatte ein Gefühl, wie man es wohl im Traume hat, uns ruft etwas, wir wollen so gern kommen, aber es ist uns nicht möglich, einen Fuß zu bewegen, unsere Ohnmacht treibt uns das Blut siedend heiß durch die Adern, die Sehnsucht fortzukommen verzehrt uns, die rufende Stimme, die ja nicht weiß, daß wir gebunden sind, treibt uns zum Wahnsinn. Und Niels stöhnte wie ein Fieberkranker, er sah sich im Zimmer um, noch niemals hatte er sich so unglücklich gefühlt, so einsam, so verstoßen und verlassen.
Er setzte sich ans Fenster in den Sonnenschein und weinte bitterlich.
Von diesem Tage an fühlte sich Niels ängstlich beglückt durch Edelens Nähe. Sie war kein Mensch mehr, wie alle die anderen, sondern ein wunderbares höheres Wesen, göttlich geworden durch das Geheimnis einer seltsamen Schönheit, und es war eine süße Wonne, sie anzuschauen, in seinem Herzen vor ihr zu knien, in selbstvernichtender Demut im Staube vor ihren Füßen zu kriechen. Zuweilen aber steigerte sich sein Gefühl der Anbetung derart, daß es sich in einem äußeren Zeichen der Unterwerfung Luft machen mußte, und dann erspähte er einen günstigen Augenblick, um sich in Edelens Zimmer zu schleichen und heiße Küsse in unendlicher Zahl auf den kleinen Teppich vor ihrem Bett zu pressen, auf ihre Schuhe oder sonst auf irgendeine Reliquie, die sich seiner Leidenschaft darbot.[46]
Als ein großes Glück betrachtete er den Umstand, daß seine Sonntagsjacke gerade in der Zeit zum Alltagsdienst erniedrigt wurde, denn in dem Duft, den jene Tropfen Rosenessenz hinterlassen hatten, besaß er einen mächtigen Talisman, der ihm gleichsam in einem Zauberspiegel Edele so zeigte, wie er sie gesehen hatte, in dem Maskeradenkostüm auf dem grünen Ruhebett liegend.
In der Geschichte, die er Frithjof erzählte, kehrte dies Bild unablässig wieder, und der unglückliche Frithjof war jetzt nie mehr sicher vor barfüßigen Prinzessinnen: schleppte er sich durch die Dickichte des Urwaldes dahin, so riefen sie ihn aus ihrer Hängematte von Lianen an, suchte er in einer Berghöhle Schutz vor der Wut des Orkans, so erhoben sie sich von ihrem Lager aus samtweichem Moos und hießen ihn willkommen, und sprengte er, pulverdampfgeschwärzt, blutbefleckt, mit kräftigem Säbelhieb die Kajüte des Piraten, so fand er sie auch dort, hingegossen auf dem grünen Sofa des Kapitäns. Sie langweilten ihn sehr, und er konnte gar nicht fassen, warum sie plötzlich so notwendig geworden waren für die lieben Helden. –
Wie himmelhoch ein Menschenkind auch seinen Thron gestellt haben mag, wie fest es auch die Tiara der Ausnahme, die Genie bedeuten soll, auf seine Stirn gedrückt hat, es kann sich doch niemals sicher davor fühlen, daß es nicht einmal gleich König Nebukadnezar die seltsame Lust anwandelt, auf allen vieren zu gehen und mit den niederen Tieren des Feldes Gras zu fressen.[47]
Also geschah es Herrn Bigum, indem er sich ganz einfach in Fräulein Edele verliebte. Und es half ihm nichts, daß er, um diese Liebe zu entschuldigen, die Weltgeschichte veränderte, es half ihm auch nichts, daß er Edelen Beatrice, Laura oder Vittoria Colonna nannte, denn alle die künstlichen Glorien, mit denen er seine Liebe schmückte, erloschen ebenso schnell, wie er sie angezündet hatte, von der unleugbaren Wahrheit, daß er sich in Edelens Schönheit verliebt hatte, und daß es nicht die Eigenschaften des Herzens oder des Geistes waren, die es ihm angetan hatten, sondern einzig und allein ihre Eleganz, ihr leichter Weltton, ihre Sicherheit, ja sogar ihre graziöse Unverschämtheit. Es war nach jeder Richtung hin eine Liebe, die ihn mit schamvoller Verwunderung über den Wankelmut der Menschenkinder erfüllen mußte.
Und was tat das denn schließlich? Was hatten sie denn alle zu sagen, diese ewigen Wahrheiten und flüchtigen Lügen, die wie Ringe ineinander griffen und den schweren Panzer bildeten, den er seine Überzeugung nannte, was hatten die gegen seine Liebe zu sagen? Sie waren ja das Mark und der Kern des Lebens, da konnten sie ihre Stärke beweisen; waren sie schwächer, nun so mußten sie brechen; waren sie aber stärker – Aber sie waren ja gebrochen, auseinander gezerrt wie das Gewebe morscher Fäden. Was kümmerte sie sich um die ewigen Wahrheiten! Und die großartigen Visionen, was halfen ihm die? Die Gedanken, welche die Tiefe der Unendlichkeit erforschten, konnte er sie mit ihnen erringen? Es[48] war ja alles wertlos, was er besaß! Leuchtete auch seine Seele in einer Pracht, welche die Sonne tausendfach überstrahlte, was nützte ihm das, wenn er sie unter dem armutshäßlichen Filz einer Diogeneskappe verbarg? Form, Form! gebt mir die dreißig Silberlinge der Form für meinen Inhalt! Gebt mir den Körper eines Alcibiades, den Mantel eines Don Juan und den Rang eines Kammerjunkers!
Aber das alles besaß er nun einmal nicht, und Edele fühlte sich keineswegs sympathisch berührt von dieser plumpen Philosophennatur, die die Regungen des Lebens nur in der barbarischen Nacktheit der Abstraktionen betrachtet hatte, und die deswegen in ihren Äußerungen etwas lärmend Absolutes hatte, das sich mit unangenehmer Sicherheit vordrängte, etwa wie eine verkehrt angebrachte Trommel in einem melodischen Konzert. Das Angestrengte, was er an sich hatte, daß sich sein Gedanke jeder kleinen Frage gegenüber gleichsam mit gespannten Muskeln in Position stellte, wie ein starker Mann, der mit eisernen Kugeln spielen will, das machte ihn in ihren Augen lächerlich, und es ärgerte sie, wenn er, getrieben von einer urteilssüchtigen Moral, das Inkognito jedes leicht angedeuteten Gefühles verriet, indem er es unerzogenerweise bei seinem rechten Namen nannte, gerade in dem Augenblick, wo es im flüchtigen Lauf des Gespräches an ihm vorübereilen wollte.
Bigum wußte sehr wohl, welch unvorteilhaften Eindruck er machte, und wie völlig hoffnungslos seine Liebe[49] war; aber er wußte es so, wie man etwas weiß, wenn man mit der ganzen Macht der Seele hofft, daß dies Wissen auf einem Irrtum beruhen möge. Es gibt noch Wunder, und wenn die Wunder auch nicht gerade geschehen, so könnten sie doch geschehen. Wer weiß? Vielleicht irrt man, vielleicht täuschen uns unser Verstand, unsere Einbildungskraft oder unsere Sinne trotz ihrer tageshellen Klarheit, vielleicht kommt es nur darauf an, den unvernünftigen Mut zu haben und dem Irrlicht der Hoffnung zu folgen, das über der wilden Gärung der Leidenschaften brennt. Erst wenn die Tür der Entscheidung hinter uns ins Schloß gefallen ist, graben sich die eisenkalten Klauen der Gewißheit in unsere Brust, um sich langsam, langsam im Herzen zu sammeln um den nervenfeinen Faden der Hoffnung, an dem die Welt unseres Glückes hängt; dann wird der Faden zerschnitten, und das, was er trug, fällt und wird zermalmt, und durch die schreckliche Leere dringt der wilde Schrei der Verzweiflung.
Niemand verzweifelt, so lange er noch im Zweifel ist. –
An einem sonnigen Septembernachmittage saß Edele draußen auf der Plattform der breiten, altmodischen Holztreppe, die in fünf, sechs Stufen aus dem Gartenzimmer in den Garten hinabführte. Die Glastüren hinter ihr waren weit geöffnet und gegen die Mauer mit ihrer bunten, leuchtend roten und grünen Bekleidung von wildem Wein gelehnt. Sie stützte ihr Haupt gegen den Sitz eines[50] Stuhles, der mit großen, schwarzen Mappen belastet war, und hielt einen Kupferstich mit beiden Händen vor sich hin. Kolorierte Blätter, welche byzantinische Mosaike wiedergaben, in denen Blau und Gold vorherrschten, lagen auf dem verblichenen Grün der Binsenmatte, auf der Türschwelle und dem eichenbraunen Parkettfußboden der Gartenstube ausgebreitet. Am Fuße der Treppe lag ein weißer Schutzhut, denn Edele war barhäuptig und trug keinen andern Schmuck als eine Blume von Goldfiligran, deren Muster zu dem Armband paßte, das sie hoch oben am Arme trug. Ihr weißes Kleid, aus halbklarem Stoff mit schmalen, seidenblanken Streifen, hatte eine eingewebte Kante von grauer und orangefarbener Chenille und war mit Rosetten in denselben beiden Farben besetzt. Helle Halbhandschuhe bedeckten ihre Hände und reichten bis über den Ellenbogen hinauf. Sie waren, wie ihre Schuhe, von perlgrauer Seide.
Durch die herabhängenden Zweige einer uralten Esche sickerte das goldene Sonnenlicht strahlenweise auf die Treppe herab und bildete in dem dämmerigen, halbklaren Schatten einen leuchtenden Strom, der die Luft umher mit goldenem Staub erfüllte und helle Flecken auf die Stufen der Treppe, auf die Tür und an die Wand zeichnete, Sonnenfleck neben Sonnenfleck, so daß es war, als leuchtete durch einen löcherigen Schatten alles dem Licht mit eigenen Farben entgegen, weiß von Edelens weißem Kleide, purpurblutig von den Purpurlippen, und bernsteingelb von dem bernsteinblonden Haar. Und ringsumher[51] in hundert anderen Farben, in Blau, in Gold, in Eichenbraun, in glasblankem Spiegelglanz, in Rot und Grün.
Edele ließ den Kupferstich fallen und erhob hoffnungslos ihren Blick: ihre Augen sprachen in stummer Klage den Seufzer aus, den zu seufzen sie zu müde war. Dann setzte sie sich mit einer Bewegung zurecht, als wollte sie ihre Umgebungen ausschließen und sich in sich selber zurückziehen.
In demselben Augenblick kam Herr Bigum des Weges.
Edele sah ihn mit einem müden Blinzeln an, gerade so wie ein Kind, das zu gut liegt und zu müde ist, um sich zu rühren, das aber doch zu neugierig ist, um seine Augen zu schließen.
Herr Bigum hatte einen neuen Filzhut auf, er war ganz in sich selbst vertieft und gestikulierte so lebhaft mit seiner Tombakuhr, die er in der Hand hielt, daß die dünne, silberne Halskette, an der die Uhr befestigt war, jeden Augenblick zu zerreißen drohte. Mit einer plötzlichen Bewegung steckte er die Uhr unsanft in seine Tasche, schüttelte ungeduldig den Kopf, faßte mit ärgerlichem Griff in den Kragenaufschlag seines Rockes und schritt dann weiter mit einem zornigen Schlenkern der Glieder und einem Gesicht, das der ganze hoffnungslose Kummer verfinsterte, der in einem Manne kocht, der vor seinen eigenen peinigenden Gedanken flüchtet und dabei doch weiß, daß er vergebens flieht.
Edelens Hut, wie er da am Fuße der Treppe lag,[52] weiß schimmernd gegen die schwarze Erde des Weges, hemmte ihn in seiner Flucht. Er nahm ihn vorsichtig mit beiden Händen auf, in demselben Augenblick sah er Edele und blieb, unschlüssig, was er sagen sollte, stehen, ohne ihr den Hut zu reichen. Nicht einen Gedanken konnte er in seinem Gehirn entdecken, nicht ein einziges Wort wollte ihm über die Lippen, und mit einem dumpfen Ausdruck gelähmten Tiefsinnes starrte er vor sich hin.
»Das ist ein Hut, Herr Bigum«, warf Edele hin, um nicht bei diesem verlegenen Schweigen selbst verlegen zu werden.
»Ja«, erwiderte der Hauslehrer eifrig, als wäre er entzückt darüber, von ihr eine Ansicht bestätigen zu hören, die er sich auch gerade gebildet hatte; aber in demselben Augenblick errötete er über die Unbeholfenheit dieser Antwort.
»Er lag hier«, fügte er schnell hinzu, »hier auf der Erde, so – so lag er«, und er beugte sich herab und zeigte, wie der Hut gelegen hatte, mit der ganzen gedankenlosen Umständlichkeit des Verlegenseins, und beinahe glücklich über die Erleichterung, die es ihm gewährte, ein Lebenszeichen von sich geben zu können, wie armselig es auch sein mochte. Und noch immer stand er da mit dem Hut in der Hand.
»Wollen Sie den Hut behalten?« fragte Edele. Bigum wußte nicht, was er antworten sollte.
»Ich meine, ob Sie ihn mir nicht geben wollen?« erklärte sie.[53]
Bigum ging ein paar Stufen hinauf und reichte ihr den Hut. »Fräulein Lyhne,« sagte er, »Sie glauben – Sie dürfen nicht glauben, Fräulein Lyhne – bitte, lassen Sie mich reden; das heißt – ich will ja auch nichts sagen, haben Sie nur Geduld mit mir! Ich liebe Sie, Fräulein Lyhne, unsagbar, unsagbar, es ist mir nicht möglich, zu sagen, wie ich Sie liebe! O, wenn es ein Wort gäbe, das die bewundernde Furcht eines Sklaven, das ekstatische Lächeln eines Märtyrers, das namenlose Heimweh eines Verwiesenen, eines Landesverwiesenen in sich trüge, so würde ich das Wort wählen, um damit auszudrücken, wie sehr ich Sie liebe. O, lassen Sie mich reden, hören Sie mich an, hören Sie mich an, stoßen Sie mich nicht von sich. Denken Sie nicht, daß ich Sie durch wahnsinnige Hoffnungen beleidige, ich weiß, wie gering ich in Ihren Augen bin, wie plump, wie abstoßend! Ich vergesse keinen Augenblick, daß ich arm bin, ja, Sie sollen es hören, so arm, daß ich meine Mutter in einem Armenhause wohnen lassen muß, ich muß es, muß es, so bitter arm bin ich. Ja, Fräulein Lyhne, ich bin nur ein niedrig dienender Mann, der das Brot Ihres Bruders ißt, und doch gibt es eine Welt, in der ich herrsche, und zwar mächtig, stolz, reich, umgeben von Siegesglanz, edel, geadelt durch denselben Trieb, der Prometheus veranlaßte, das Feuer aus dem Himmel der Götter zu holen, und dort bin ich Ihr Bruder, der Bruder aller Geistesheroen, die die Welt getragen hat, die die Welt noch trägt; o, ich verstehe sie, wie nur Ebenbürtige einander verstehen; kein Flug,[54] den sie geflogen, war zu hoch für die Kraft meiner Schwingen. Verstehen Sie mich, glauben Sie mir? Ach, glauben Sie mir nicht, es ist ja alles nicht wahr, ich bin nichts als die niedrig geborene Koboldsgestalt, die Sie hier sehen. Es ist alles vorbei; denn die furchtbare Verirrung dieser Liebe hat meine Schwingen gelähmt, meine geistigen Augen verlieren ihre Sehkraft, mein Herz verdorrt, meine Seele verblutet zu der Blutlosigkeit der Feigheit – o, erlösen Sie mich von mir selber, Fräulein Lyhne, wenden Sie sich nicht höhnend ab, weinen Sie, weinen Sie über mich!«
Er war mitten auf der Treppe auf beide Knie gesunken und rang die Hände. Sein Gesicht war bleich und verzerrt, er biß die Zähne in wildem Schmerz zusammen, die Augen schwammen in Tränen, seine ganze Gestalt erbebte vor unterdrücktem Schluchzen, daß man nur ein pfeifendes Atmen vernahm.
Edele hatte sich nicht von der Plattform erhoben. »Fassen Sie sich doch, Mensch!« sagte sie in mitleidigem Tone, »fassen Sie sich, lassen Sie sich doch nicht so hinreißen, seien Sie ein Mann! Hören Sie, Herr Bigum, stehen Sie auf, gehen Sie ein wenig im Garten auf und ab und versuchen Sie, sich wieder zu beruhigen!«
»Und können Sie mich denn wirklich nicht lieben?« stöhnte Bigum fast unhörbar; »o, es ist furchtbar! es gibt nichts in meiner Seele, was ich nicht ausrotten, nicht vertilgen würde, wenn ich Sie dadurch gewinnen könnte. Nein, nein, wenn man mir die Wahl stellte,[55] wahnsinnig zu werden, und ich in den Visionen dieses Wahnsinnes Sie besitzen könnte, Sie besitzen, dann würde ich sagen: Hier habt ihr mein Gehirn, greift mit schonungsloser Hand hinein in sein wundervolles Gebäude und zerreißt alle die feinen Fasern, mit denen mein Selbst an den strahlenden Triumphwagen des Menschengeistes geknüpft ist, laßt mich zurücksinken in den Kot der Materie, unter die Räder des Wagens, laßt die andern die Pfade ihrer Herrlichkeit ziehen, entgegen dem Lichte! Verstehen Sie mich? Begreifen Sie, daß ich Ihre Liebe, selbst wenn sie, ihres Glanzes, der Majestät ihrer Reinheit beraubt, zu mir käme, besudelt, ein Zerrbild wahrer Liebe, ein krankes Phantom, daß ich sie selbst dann annehmen würde, demütig kniend, als wäre sie die heilige Hostie. Aber das Beste in mir ist umsonst, auch das Schlechte in mir ist vergebens. Ich rufe die Sonne an, aber sie scheint nicht, ich rufe den Himmel an, aber er antwortet nicht. Antworten! Welche Antwort gäbe es wohl auf meine Leiden? Nein, diese unsäglichen Qualen, die mein innerstes Wesen bis in seine geheimsten Wurzeln zersplittern, diese peinigenden Schmerzen, sie berühren Sie nur unangenehm, sind für Sie nur eine kleine, unbedeutende Beleidigung, und in Ihrem Herzen lächeln Sie höhnisch über die unmögliche Leidenschaft des armen Hauslehrers.«
»Sie tun mir unrecht, Herr Bigum,« versetzte Edele und erhob sich – Bigum erhob sich gleichfalls –, »ich lache nicht; Sie fragen mich, ob Sie die geringste[56] Hoffnung haben, und ich antworte Ihnen: Nein, Sie haben nicht die geringste Hoffnung; zum Lachen ist das aber ganz und gar nicht. Doch will ich Ihnen noch etwas sagen: von dem ersten Augenblicke an, als Sie anfingen, an mich zu denken, hätten Sie wissen können, wie meine Antwort ausfallen würde, und Sie haben es auch gewußt, nicht wahr, Sie haben es die ganze Zeit hindurch gewußt, und doch haben Sie alle Ihre Gedanken und Wünsche dem Ziele entgegengetrieben, von dem Sie wußten, daß Sie es nicht erreichen konnten. Ihre Liebe beleidigt mich keineswegs, Herr Bigum, aber ich verurteile sie. Sie haben getan, was so viele andere tun! Wir schließen unsere Augen vor dem wirklichen Leben, wir wollen das Nein, welches das Leben unseren Wünschen entgegenruft, nicht hören, wir wollen den tiefen Abgrund, den es uns zeigt, vergessen, den Abgrund, der sich zwischen unserer Sehnsucht und ihrem Gegenstande befindet. Wir wollen unseren Traum verwirklichen. Das Leben aber rechnet nicht mit Träumen, auch nicht das geringste Hindernis läßt sich aus dem Leben hinwegträumen, und so liegen wir denn schließlich jammernd am Abgrunde, der sich nicht verändert hat, der noch immer so ist, wie er von Anfang an gewesen war, nur wir selbst sind verändert, wir haben alle unsere Gedanken durch die Träume erregt, wir haben unsere Sehnsucht zu übermenschlicher Spannung hinaufgeschraubt. Der Abgrund aber ist nicht schmaler geworden, und alles in uns sehnt sich schmerzlich danach, hinüberzugelangen. Aber nein,[57] nein, immer nein, nichts als nein! Hätten wir nur auf uns geachtet, solange es noch Zeit war – jetzt aber ist es zu spät, wir sind unglücklich!«
Sie schwieg, gleichsam erwachend. Ihre Stimme war ruhig gewesen, suchend, als spräche sie mit sich selber; jetzt aber wurde sie abweisend, kalt und hart.
»Ich kann Ihnen nicht helfen, Herr Bigum, Sie sind mir nichts von alledem, was Sie mir zu sein wünschen; wenn Sie das unglücklich macht, so müssen Sie unglücklich sein, wenn Sie leiden, so leiden Sie nur, es muß auch Wesen geben, die leiden! Hat man einen Menschen zu seinem Gott gemacht, zum Herrn seines Schicksals, so muß man sich auch dem Willen seiner Gottheit beugen; klug ist es aber niemals, sich Götter zu machen und seine Seele in die Gewalt eines anderen zu geben, denn es gibt Götter, die nicht von ihrem Piedestal herabsteigen wollen. Seien Sie vernünftig, Herr Bigum! Ihre Gottheit ist so gering, ist der Anbetung nicht wert, wenden Sie sich ab von ihr, und werden Sie glücklich mit einer von den Töchtern der Erde!«
Mit einem matten Lächeln ging sie durch das Gartenzimmer ins Haus. Bigum sah ihr vernichtet nach. Eine Viertelstunde lang ging er noch vor der Treppe auf und nieder, alle die Worte, die sie gesprochen hatte, klangen noch in der Luft; sie war eben erst gegangen, es war ihm, als zögere da noch ein Schatten von ihr, als könne sein Flehen sie noch erreichen, als sei noch nicht alles hoffnungslos vorbei. Aber dann kam das Hausmädchen,[58] sammelte die Kupferstiche und trug den Stuhl ins Haus, und die Mappen, die Binsendecke – alles.
Und dann konnte auch er gehen.
Oben in dem geöffneten Fenster der Bodenkammer saß Niels und starrte ihm nach. Er hatte die ganze Unterhaltung von Anfang bis zu Ende mit angehört, und es lag ein entsetzter Ausdruck auf seinem Antlitz, ein nervöses Zucken ging durch seinen Körper. Er hatte zum erstenmal Furcht empfunden vor dem Leben, zum erstenmal wirklich begriffen, daß, wenn das Leben einen Menschen zum Leiden verurteilt hat, dies Urteil weder eine Drohung noch eine Phantasie ist; dann wird man zur Folterbank geschleppt und gemartert, und es kommt keine märchenhafte Befreiung im letzten Augenblick, kein plötzliches Erwachen wie aus einem bösen Traume.
Das war es, was ihm in ahnungsvoller Angst klar geworden war. –
Es wurde kein guter Herbst für Edele, und der Winter vernichtete ihre Kräfte so völlig, daß der Frühling, als er endlich kam, nicht einmal mehr einen armseligen, erfrorenen Lebenskeim vorfand, gegen den er gut sein konnte und liebreich und warm; er fand nur noch ein Hinwelken, dem keine Milde, keine Wärme Einhalt tun konnte, alles, was er vermochte, war Linderung zu bringen. Er konnte seine Lichtfluten über die Erbleichende ausgießen und duftig lind der entweichenden Lebenskraft das Geleite geben, gleichwie die purpurne Abendröte noch zögernd weilt, wenn der Tag bereits erstorben ist.[59]
Es war im Mai, als das Ende kam, ein Tag voller Wonne, einer von jenen Tagen, an denen die Lerche nimmer schweigt, an denen der Roggen so rasch wächst, daß man es mit den Augen sehen kann. Draußen vor ihrem Fenster standen die großen, blütenweißen Kirschbäume. Sträuße aus Schnee, Kränze aus Schnee, Kuppeln, Bogen, Girlanden, eine Feenarchitektur aus weißen Blüten und dazu als Hintergrund der tiefblaue Himmel.
Sie fühlte sich an jenem Tage so matt, und doch so leicht in ihrer Mattigkeit, so wunderbar leicht, und sie wußte, was da kommen würde, denn am Vormittag hatte sie Bigum rufen lassen und hatte Abschied von ihm genommen.
Der Etatsrat war von Kopenhagen herübergekommen, und den ganzen Nachmittag saß der schöne, weißhaarige Mann an ihrem Bett, ihre Hand in der seinen haltend. Er sprach nicht, nur hin und wieder bewegte er die Hand, dann drückte Edele sie leise, und dann blickte sie zu ihm auf, und er lächelte ihr zu. Ihr Bruder blieb auch die ganze Zeit über bei ihr, reichte ihr die Arznei und war auch sonst im Krankenzimmer behilflich.
Sie lag so still mit geschlossenen Augen da, und heimische Bilder aus dem Leben da drüben zogen an ihr vorüber: Sorgenfris hängende Buchen, Lyngbys rote Kirche auf ihrem Sockel aus Gräbern, und das weiße Landhaus an dem kleinen Hohlweg unten am See, wo das Plankenwerk stets grün war, als habe die Feuchtigkeit es angemalt – das alles spiegelte sich vor ihrem geistigen Auge[60] ab, nahm zu an Klarheit, nahm ab an Klarheit und verschwand wieder. Und andere Bilder folgten: da war die Bredgade, wenn die Sonne unterging und das Dunkel langsam an den Häusern heraufzog, und da war das wunderliche Kopenhagen, das man vorfand, wenn man eines Vormittags im Sommer vom Lande hereinkam. Es schien so phantastisch in seinem geschäftigen Treiben und seinem Sonnenschein, mit seinen weißgekalkten Fensterscheiben und seinem Obstduft in den Straßen; die Häuser sahen so unwirklich aus in dem grellen Licht, und es war, als läge ein tiefes Schweigen über ihnen, das selbst der Lärm und das Wagengerassel nicht vertreiben konnten. Und dann war da dieses warme, dunkle Wohnzimmer an den Herbstabenden, wenn man sich zum Theater angekleidet hatte und die anderen noch nicht fertig waren, der Duft der Räucherkerzchen, das Kaminfeuer, das hell über den Teppich hinflackerte, das Klatschen der Regentropfen gegen die Fensterscheiben, die Pferde, die ungeduldig im Torweg scharrten, der melancholische Ruf der Muschelverkäufer da unten auf der Straße, und ahnungsvoll hinter dem Ganzen das Lichtmeer des Theaters, die Musik, die Pracht!
Unter solchen Bildern verstrich der Nachmittag.
Drinnen im Saal waren Niels und seine Mutter. Niels lag vor dem Sofa auf den Knien, er hatte sein Gesicht tief in den braunen Samt vergraben und die Hände über den Scheitel gefaltet; er weinte laut und schmerzlich, ohne den geringsten Versuch zu machen, sich[61] zu beherrschen, so völlig ging er in seinem Kummer auf. Frau Lyhne saß neben ihm. Auf dem Tische vor ihr lag ein Gesangbuch, bei den Sterbeliedern aufgeschlagen. Hin und wieder las sie einige Verse, hin und wieder beugte sie sich über den Sohn und sprach ihm Trostesworte zu oder ermahnte ihn; Niels aber ließ sich nicht trösten, und sie konnte weder seinen Tränen noch dem wilden Flehen seiner Verzweiflung Einhalt tun.
Dann erschien Lyhne in der Tür des Krankenzimmers. Er machte kein Zeichen, er blickte sie nur ernsthaft an, und sie standen beide auf und folgten ihm zu seiner Schwester. Er nahm sie beide an der Hand und trat mit ihnen ans Bett, und Edele blickte auf, schaute sie beide an und bewegte die Lippen wie zu einem Worte; dann führte Lyhne seine Frau ans Fenster und setzte sich zu ihr, während sich Niels am Fußende des Bettes auf die Knie warf.
Er weinte leise und betete mit gefalteten Händen inbrünstig und unaufhörlich in gedämpften, leidenschaftlichem Flüstern; er sagte zu Gott, daß er nicht aufhören wolle zu hoffen: Ich lasse dich nicht, Herr, ich lasse dich nicht, ehe du ja gesagt hast; du darfst sie nicht von uns nehmen, du weißt ja, wie wir sie lieben; du darfst es nicht, du darfst es nicht. Ach, ich kann ja nicht sagen: dein Wille geschehe, denn du willst sie sterben lassen; ach, laß sie doch leben, ich will dir danken und dir gehorchen, ich will alles tun, was du von mir verlangst; ich will so gut sein und niemals widerstreben,[62] wenn du sie nur leben lassen willst. Hörst du mich, mein Gott? O, halt ein, halt ein, mache sie wieder gesund, ehe es zu spät ist! Ich will auch – ja ich will – doch, was kann ich dir nur versprechen? – doch, ich will dir danken, dich nie, nie vergessen; ach, so erhöre mich doch, mein Gott! du siehst ja, daß sie stirbt; hörst du denn nicht? So nimm doch deine Hand fort von ihr, nimm sie fort, ich kann sie nicht verlieren; mein Gott, ich kann es nicht, laß sie doch leben! Willst du nicht, willst du nicht? O, es ist unrecht von dir!
Draußen vor dem Fenster erröteten sie wie Rosen, die weißen Blüten, im Schein der sinkenden Sonne. Blumenleicht fügte der weiße Blütenflor Bogen auf Bogen zu einer Rosenburg, zu einem Chor von Rosen; und durch die luftige Wölbung blaute der Abendhimmel dämmernd herein, während goldige Lichter mit einem Purpurschimmer in Glorienstrahlen auf allen schwebenden Girlanden des Blumentempels blitzten.
Bleich und still lag Edele da drinnen, die Hand des alten Mannes in der ihren haltend. Langsam hauchte sie das Leben aus, Zug für Zug; schwächer und schwächer hob sich die Brust, schwerer und schwerer wurden ihre Augenlider.
»Grüße – Kopenhagen!« war ihr letztes, schwaches Flüstern.
Aber ihren letzten Gruß, den hörte niemand. Nicht einmal als Hauch kam er über ihre Lippen, ihr Gruß, an ihn, den großen Künstler, den sie im geheimen mit allen[63] Fasern ihrer Seele geliebt hatte, dem sie aber nichts gewesen war, nur ein Name, den sein Ohr kannte, nur eine fremde Gestalt mehr in einem großen, bewundernden Publikum.
Und das Licht schwand in blauer Dämmerung, und die Hände sanken matt voneinander. Die Schatten wuchsen – die Schatten des Abends und des Todes.
Der Etatsrat beugte sich herab über ihr Lager und legte seine Hand auf ihren Puls und wartete still, und als das letzte Leben entflohen war, das letzte schwache Wallen des Blutes sich gelegt hatte, da preßte er ihre bleiche Hand an seine Lippen.
»Geliebte Edele!«
Ausgewählte Ausgaben von
Niels Lyhne
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