Zehntes Kapitel.

[174] Erst im Sommer kehrte Erik Restrup nach einem zweijährigen Aufenthalte in Italien wieder heim. Er war als Bildhauer fortgereist, aber als Maler kam er zurück, und er hatte schon Glück gehabt mit seinen Bildern, er hatte mehrere verkauft und neue Bestellungen erhalten.

Daß ihm das Glück so, gleichsam auf den ersten Wink, zugeflogen war, verdankte er der sicheren Selbstbegrenzung, mit der er sein Talent um sich zusammengezogen hatte. Es war keines der großen, vielversprechenden Talente, deren Hände überall hinanreichen, deren Erdenweg einem Bacchuszuge gleicht, die alle Gefilde jubelnd durchziehen und goldigen Samen nach allen Seiten hin ausstreuen.[174] Er gehörte eben zu den Talenten, in denen ein Traum begraben liegt, der Frieden und Heiligkeit über einen kleinen Fleck ihrer Seele verbreitet, da wo sie am meisten sie selbst und doch am wenigsten sie selbst sind. Und durch das, was sie in der Kunst schaffen, die sie besitzen, klingt stets derselbe sehnsuchtsvolle Endreim hindurch, und jedes ihrer Werke trägt dasselbe ängstlich begrenzte Gepräge von Verwandtschaft, als stamme das Bild aus demselben kleinen Heimatlande, aus demselben kleinen Schlupfwinkel mitten zwischen den Bergen. So verhielt es sich mit Erik; wo er auch in den Schönheitsozean niedertauchen mochte, stets brachte er dieselbe Perle ans Licht.

Seine Bilder waren klein, im Vordergrunde eine einzelne Gestalt, tonblau durch ihren eigenen Schatten; dahinter erikabewachsene Erde, die Heide oder die Campagna, am Horizont der rotgoldige Schein der sinkenden Sonne. Eine dieser Gestalten war ein junges Mädchen, das sich nach Art der Italienerinnen selber weissagt. Sie hat sich auf die Knie niedergelassen, an einer Stelle, wo die Erde bräunlich unter dem kurzen Grase hervorschimmert. Ein Herz, ein Kreuz und einen Anker aus getriebenem Silber hat sie von ihrer Halskette gelöst und auf die Erde gestreut; jetzt liegt sie auf den Knien, ihre Augen sind gläubig geschlossen, die eine Hand deckt die Augen, die andere hält sie suchend ausgestreckt nach dem unsagbaren Liebesglück, nach dem bitteren Schmerz, den das Kreuz mildert, und nach der Hoffnung hoffendem Alltagsleben.[175] Sie hat es noch nicht gewagt, die Erde zu berühren; die Hand ist zaghaft in dem kalten, geheimnisvollen Schatten; die Wangen glühen, und der Mund verzieht sich halb zum Weinen, halb zu Gebet. Es liegt etwas Feierliches in der Luft, das Abendrot da draußen droht so schaurig und so heiß, legt sich so wehmutvoll über die Heide. Wüßtest du es nur: unsagbares Liebesglück – bitterer Schmerz, den das Kreuz mildert – oder der Hoffnung hoffendes Alltagsleben? Dann war da ein anderes Bild, eins, auf dem sie sehnend mitten auf der braunen Heide steht, die Wange gegen die gefalteten Hände gelehnt, so süß in ihrer naiven Sehnsucht, so unglücklich über das häßliche Leben, das so teilnahmslos, ohne sie zu beachten, an ihr vorübergeht. Warum kommt denn Eros nicht, warum zögert er, glaubt er, daß sie zu jung sei? Er sollte nur fühlen, wie ihr Herz pocht, er sollte nur kommen mit seiner Hand, o, da drinnen liegt eine Welt verborgen, eine Welt der Welten, wenn sie nur erwachen wollte! Und warum sie nicht wecken? Sie liegt da drinnen wie eine Knospe, all ihre Lieblichkeit, all ihre Schönheit fest umschließend, ganz für sich allein, beklommen, ohne zu wissen weshalb. Sie weiß ja, daß das ist, von dem sie nicht weiß, was es ist. Hat es nicht liebevoll die schützenden Blätter darumgelegt, ist es nicht durch sie hineingedrungen, so daß es licht wurde bis in das innerste, tiefroteste Dunkel hinein, wo der Duft, sich selber ahnend, duftlos zusammengepreßt liegt in einer zitternden Träne? Will es denn niemals kommen? Soll[176] es denn niemals ausatmen, was es ahnend besitzt, reich sein mit seinem Reichtum? Soll es sich denn nie, niemals entfalten, sich wach erröten, während die goldenen Sonnenstrahlen unter alle seine Blätter dringen? Sie verliert wirklich alle Geduld mit Eros, schon zittern ihre Lippen von dem aufsteigenden Weinen, hoffnungslos, herausfordernd schweift ihr Blick ins Weite, und das Köpfchen sinkt immer verzagter herab, wendet langsam das feine Profil hinein in das Bild, wo ein leiser Luftzug den rötlichen Staub vor sich hertreibt, hin über die dunkelgrünen Ginsterbüsche, den weingoldenen Himmel entlang.

So malte Erik Restrup, und das, was er sagen wollte, fand stets seinen Ausdruck in Bildern wie diese. Wohl konnte er andere Bilder träumen, konnte sich hinaussehnen aus dem engen Kreise, innerhalb dessen er sie heraufbeschwor; kam er aber außerhalb desselben, versuchte er sich auf anderen Gebieten, so überkam ihn bald ein entmutigendes, ernüchterndes Gefühl, daß er von anderen leihen wolle, und daß das, was er hier schuf, nicht sein eigen war. Kehrte er dann von einem so mißglückten Ausfluge zurück, bei dem er doch jedesmal mehr lernte, als er selber ahnte, so wurde er nur noch mehr Erik Restrup, als er bis dahin gewesen war, gab er sich nur noch mutiger, mit fast schmerzlicher Heftigkeit seiner Eigentümlichkeit hin und hielt sich, wo er ging und stand, in pietätvoller Festesstimmung, die sich in seinen geringsten Handlungen ausprägte, sich in der ganzen Art und Weise zeigte, mit der er in solchen Zeiten mit sich selber[177] verkehrte. Es war, als wenn die schönen Gestalten, die in ihm dämmerten, jüngere Schwestern von Parmegianinos schlankgliedrigen Frauen mit den länglichen Hälsen und den schmalen Prinzessinnenhänden, mit ihm zu Tische säßen und seinen Becher kredenzten mit Bewegungen voller Adel und Liebreiz, ihn in dem Banne ihrer lichten Träume hielten mit Luinis mystischen, nach innen gewandtem Lächeln, so unergründlich fein in seiner geheimnisvollen Anmut.

Aber hatte er dann elf Tage lang seiner Gottheit treulich gedient, so konnte es wohl vorkommen, daß andere Mächte in ihm die Oberhand gewannen, und es konnte ihn ein rasendes Verlangen ergreifen nach den groben Lüsten der groben Genüsse. Dann gab er sich ihnen hin, fieberhaft ergriffen von dem menschlichen Bedürfnis der Selbstvernichtung, die, während das Blut brennt, wie es brennen kann, sich nach Erniedrigung, nach Kot und Schmutz sehnt, genau mit demselben Maße von Kraft, das jenes andere, ebenso menschliche Bedürfnis besitzt, das Bedürfnis, sich selbst zu erhalten, sich größer und reiner zu erhalten, als man in Wirklichkeit ist.

In solchen Augenblicken gab es kaum etwas, das ihm roh und gewaltsam genug erschienen wäre, und es währte lange, bis er sein Gleichgewicht wiedererrang, nachdem dieser Zustand vorübergegangen war, denn im Grunde war ihm dieser Zustand nicht natürlich, dazu war er viel zu gesund, und er kam eigentlich nur als ein Ausschlagen in der seiner Hingebung zu den höheren Mächten der[178] Kunst entgegengesetzten Richtung, gleichsam als Racheakt, als fühle seine Natur sich gekränkt durch die Wahl jenes ideellen Lebenszieles, zu dessen Verfolgung ihn die Umstände geführt hatten.

Der Kampf dieser beiden Richtungen hatte jedoch nicht derartig die Oberhand in Erik Restrup gewonnen, daß er sich nach außen hin gezeigt hätte oder daß es ihm ein Bedürfnis gewesen wäre, seine Umgebung dadurch mit sich in Einklang zu bringen. Nein, er war noch immer derselbe unzusammengesetzte, lebensfrohe Bursche wie früher, ein wenig unbeholfen infolge seiner Scheu vor Gefühlsergüssen, ein wenig freibeuterhaft durch seine Fähigkeit, zu nehmen und zu erfassen. Das Gefühl war aber trotzdem in seinem Innern, es machte sich vernehmlich in stillen Stunden, gleich den Glocken, die in der versunkenen Stadt auf dem Meeresgrunde erklingen; und er und Niels hatten einander nie so gut verstanden wie jetzt, das fühlten sie, und sie schlossen schweigend einen neuen Freundschaftsbund. Als die Ferienzeit kam und Niels einmal Ernst machte mit seinem Vorsatze, die Tante Rosalie zu besuchen, die mit dem Konsul Claudy in Fjordby verheiratet war, begleitete ihn Erik.

Die Hauptlandstraße, welche nach Fjordby führt, ist in der Nähe der Stadt von zwei mächtigen Dornhecken begrenzt, die Konsul Claudys Küchengarten sowie seinen großen Strandgarten einhegen. Der Weg teilt sich dort und endet einerseits in des Konsuls Hofplatz, der so groß wie ein Marktplatz ist, andererseits macht er eine Drehung[179] und läuft zwischen Claudys Scheune und dem Holzlager als Straße durch die Stadt. Von den Reisenden machen viele die Drehung und fahren weiter, während andere anhalten, in der Meinung, sie seien am Ziele, sobald sie den geteerten Torweg des Konsuls erreicht haben, der stets weit geöffnet ist, und auf dessen zurückgeschlagenen Flügeltüren stets zum Trocknen ausgespannte Felle hängen.

Die Gebäude des Hofes waren alle alt, mit Ausnahme des hohen Speichers, dessen langweiliges totes Schieferdach Fjordbys neueste Errungenschaft auf dem Gebiete der Baukunst war. Das lange, niedrige Vorderhaus sah aus, als würde es von drei großen Bodenetagen zur Erde gedrückt, und stieß in einem dunkeln Winkel mit der Brauerei und den Ställen, in einem helleren Winkel mit dem Speicher zusammen. In dem dunkeln Winkel lag die Hintertür, die in den Laden führte, der mit der Bauernstube, dem Kontor und der Leutestube eine kleine dumpfe Welt für sich bildete, in der ein gemischter Geruch von gemeinem Tabak, von erdigen Fußböden, von Gewürzen, getrockneten Fischen und nassem Wollzeug die Luft so dick machte, daß sie förmlich zu schmecken war. War man dann aber durch das Kontor mit seinem durch dringenden Siegellackgeruch an den Korridor gelangt, der die Scheidewand zwischen dem Geschäft und der Familie bildete, so wurde man durch den hier herrschenden Duft von neuem Damenputz auf die süße Blumenluft der Zimmer vorbereitet. Es war[180] dies nicht der Duft eines Buketts, er rührte nicht von wirklichen Blumen her, es war die mystische, erinnerungerweckende Atmosphäre, die über jedem Heim schwebt, und von der niemand mit Bestimmtheit sagen kann, woher sie stammt. Jedes Heim hat seinen eigenen Duft, es kann an tausend Dinge erinnern, an den Geruch alter Handschuhe, an neue Spielkarten oder geöffnete Klaviere, aber es ist stets ein anderer; er kann mit Räucherwerk, mit Parfüms und Zigarrenrauch übertäubt, aber er kann niemals ganz ertötet werden, er kommt immer wieder und ist stets da, unverändert, wie er von Anfang an gewesen ist. Hier war er von Blumenduft, nicht von Rosen, Levkoien oder sonst wirklich vorhandenen Blumen herstammend, sondern etwa, wie man sich den Duft jener phantastischen, saphirmatten Lilienranken denkt, deren Blüten sich um die Vasen aus altem Porzellan schlingen. Und wie stimmte dieser Duft zu den großen, niedrigen Stuben, mit ihren ererbten Möbeln und der altväterischen Zierlichkeit! Die Fußböden waren so weiß, wie es nur die Fußböden der Großmütter noch sind, die Wände waren einfarbig, mit einer leichten, hellen Girlande, die sich unter dem Sims hinzog, in der Mitte der Decke war eine Stuckrosette, und die Türen waren kanneliert und hatten blanke Messinggriffe in Delphingestalt. Vor den Fenstern mit den kleinen Scheiben hingen luftige Gardinen, weiß wie Schnee, faltenreich und kokett mit farbigen Bandschleifen aufgenommen, wie der Behang eines Brautbettes für Damon und Phyllis, und auf den[181] Fensterbrettern blühten in grüngesprenkelten Töpfen altmodische Blumen, blaue Agapanthus, blaue Pyramidenglocken, feinblättrige Myrten, feuerrote Verbenen und schmetterlingsbunte Geranien. Aber es waren doch hauptsächlich die Möbel, die dem Ganzen sein Gepräge verliehen; diese soliden Tische mit den großen Platten von dunklem Mahagoni, diese Stühle, deren Rücken sich wie ein Span um uns krümmt, diese Schubladenmöbel in allen möglichen Formen, Riesenkommoden mit in hellgelbem Holz eingelegten mythologischen Szenen – Daphne, Arachne und Narzissus –, oder auch Sekretäre auf dünnen, geschnörkelten Beinen, an denen jede einzelne Schublade mit Mosaiken aus dentrischem Marmor verziert war, einsame, viereckige Häuser mit einem Baume daneben vorstellend – das alles aus einer Zeit lange vor Napoleon. Da waren ferner Spiegel mit gemalten Blumen auf dem Glase in Weiß und Bronze: Schilf und Lotusblüten, die auf dem blanken See schwammen; und dann das Sofa, nicht wie jene zierlichen, kleinen Dinger, auf denen nur zwei sitzen können, nein, solid und massiv erhob es sich vom Fußboden, gleich einer geräumigen Terrasse, an beiden Seiten in einem brusthohen Konsolschrank endend, auf dem sich wieder je ein kleinerer Schrank in Mannshöhe erhob und eine alte Urne außer dem Bereich gewöhnlicher Sterblichen brachte. Es war kein Wunder, daß sich so viele alte Sachen im Hause des Konsuls befanden, denn sein Vater und vor ihm sein Großvater hatten innerhalb dieser Wände gelebt[182] und genossen, wenn ihnen die Arbeit im Kontor und auf dem Holzlager Ruhe ließ.

Der Großvater, Berendt Berendtsen Claudy, dessen Namen das Geschäft noch führte, hatte das Haus gebaut und sich hauptsächlich für das Laden- und Produktengeschäft interessiert, der Vater hatte das Holzgeschäft in die Höhe gebracht, Felder und Grundstücke gekauft, den Laden gebaut und die beiden Gärten angelegt. Der letzte lebende Claudy hatte sich auf den Kornhandel geworfen, hatte den Speicher und die Wirksamkeit eines englischen und hannöverschen Konsuls, sowie eines Lloydagenten mit seiner Tätigkeit als Kaufmann verbunden. Das Korn und die Nordsee nahmen seine Zeit derart in Anspruch, daß er nur eine dilettantische Aufsicht über die übrigen Zweige seines Geschäftes führen konnte, weshalb er diese zwischen einem bankerotten Vetter und einem alten, schwer umgänglichen Verwalter geteilt hatte. Der letztere aber setzte dem Konsul jeden Augenblick den Stuhl vor die Tür, indem er behauptete, es sei ganz einerlei, wie es mit dem Geschäft ginge, der Acker müsse aber bestellt werden, und wenn er pflügen wolle, so müßten die anderen sehen, woher sie Pferde zum Holzfahren bekämen, sein Gespann brauche er selber. Weil aber der Mann sehr tüchtig war, ließ sich daran nichts ändern.

Konsul Claudy war ein angehender Fünfziger, ein stattlicher Mann mit regelmäßigen, kräftigen, an das Plumpe streifenden Zügen, die sich ebenso leicht zu dem Ausdruck von Energie und Verschlagenheit zusammenzogen, wie sie[183] den Ausdruck gierigen Genusses annehmen konnten. Er war auch wirklich ebenso in seinem Element, wenn er einen Handel mit den schlauen Bauern abschloß oder mit einer Schar eigensinniger Bürger akkordierte, als wenn er bei einer letzten Flasche Portwein zwischen grauhaarigen Sündern saß und einer mehr als schlüpfrigen Geschichte lauschte oder auch selbst eine solche in der drastischen Weise erzählte, für die er berühmt war.

Das war aber nicht der ganze Mann. Die Erziehung, die er genossen hatte, brachte es mit sich, daß er sich auf Gebieten, die außerhalb des rein Praktischen lagen, nicht zu Hause fühlte, aber deshalb verachtete er keineswegs das, was er nicht verstand, auch suchte er es nicht zu verbergen, daß er es nicht verstand, indem er etwa mitredete und verlangte, daß man sein Geschwätz beachten solle, weil er ein älterer, praktisch erfahrener, hoch besteuerter Bürger war. Im Gegenteil. Er konnte mit einer rührenden Andacht dasitzen und dem Gespräche junger Damen und Herren lauschen und hin und wieder nach vielen Entschuldigungen eine bescheidene Frage äußern, die fast ausnahmslos aufs umständlichste beantwortet wurde, worauf er dann mit der ganzen Verbindlichkeit dankte, die Ältere so schön in ihren Dank der Jugend gegenüber legen können.

Es konnte überhaupt in einzelnen glücklichen Augenblicken etwas überraschend Zartes über Konsul Claudy liegen, ein sehnender Ausdruck in seinen klaren, braunen Augen, ein wehmutvolles Lächeln um seine üppigen Lippen,[184] ein suchender, erinnerungsvoller Tonfall in seiner Stimme, als sehne er sich nach einer in seinen Augen besseren Welt, als die war, der er sich nach Ansicht seiner Freunde mit Leib und Seele ergeben hatte.

Zwischen dieser besseren Welt und ihm unterhielt seine Frau die Verbindung. Sie war eine jener sanften, blassen, jungfräulichen Naturen, die nicht den Mut oder auch nicht den Trieb besitzen, ihre Liebe so auszulieben, daß in der tiefsten Tiefe ihrer Seele nichts mehr von dem eigenen Ich zurückbleibt. Auch nicht einen einzigen flüchtigen Augenblick können sie so ergriffen werden, daß sie sich blindlings unter die Wagenräder ihres Abgottes werfen. Das können sie nicht, sonst aber können sie alles für den Geliebten tun, sie können die schwersten Pflichten erfüllen, sind zu den schmerzlichsten Opfern bereit, und es gibt keine Demütigung, die sie nicht willig auf sich nehmen würden. So sind die besten unter ihnen.

So große Forderungen wurden nun an Frau Claudy gerade nicht gestellt, aber ganz ohne Kummer war ihre Ehe auch nicht verlaufen. Es war nämlich offenes Geheimnis in Fjordby, daß der Konsul nicht der treueste Ehemann war, oder es doch wenigstens bis vor einigen Jahren nicht gewesen war. Natürlich war das ein großer Kummer für sie, und es war ihr nicht leicht geworden, ihr Herz dazu zu zwingen, daß es festhielt und nicht wankte in diesem Wirbel von Eifersucht, Verachtung und Zorn, Scham und tödlichem Schreck, der den Boden unter ihren Füßen hatte erbeben machen. Aber sie widerstand.[185] Es kam nicht nur kein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen, sie verhinderte sogar jegliches Geständnis von seiten ihres Mannes. Wußte sie doch, daß, wenn es zu Worten käme, diese sie mit sich fortreißen würden, fort von ihm. Schweigend mußte es getragen werden, und schweigend suchte sie sich zur Mitschuldigen an dem Vergehen des Mannes zu machen, indem sie oft wegen ihrer Selbstverschanzung, die zu überwinden ihre Liebe nicht stark genug gewesen war, in die bittersten Vorwürfe gegen sich selber ausbrach. Ja, es gelang ihr, diese Sünde so aufzubauschen, daß sie ein unbestimmtes Bedürfnis nach Vergebung zu empfinden schien, und im Laufe der Zeit kam sie so weit mit sich selber, daß man sich in der Stadt erzählen konnte, für die außerehelichen Kinder des Konsuls Claudy werde ganz anders gesorgt als bloß mit Geld, es müsse eine verborgene Frauenhand da sein, die sie schütze, die ihnen alles Üble fernhalte.

So geschah es, daß sich der Sünder zum Guten bekehrte, und daß ein Sünder und eine Heilige sich gegenseitig besserten.

Claudys hatten zwei Kinder, einen Sohn, der in Hamburg auf dem Kontor war, und eine neunzehnjährige Tochter, die Fennimore hieß, nach der Heldin in St. Roche, einem von den Romanen der Paalzow, die in Frau Claudys Jugend sehr beliebt gewesen waren.

Fennimore stand mit dem Konsul an der Brücke, um auf den Dampfer zu warten, der Niels und Erik nach[186] Fjordby brachte, und Niels war sehr angenehm überrascht durch die Entdeckung, daß seine Cousine so hübsch war, denn bis dahin kannte er sie nur von einem alten Daguerrotyp, auf dem sie in einer Dunstatmosphäre eine Gruppe mit ihrem jüngeren Bruder und den Eltern bildete, alle mit einer hektischen Röte auf den Wangen und mit starker Vergoldung auf ihrem goldenen Schmucke. Und nun war sie so allerliebst, wie sie dastand in ihrem hellen Morgenanzug mit den schmalen Zeugschuhen und den schwarzen Kreuzbändern, die bis über den Spann des weißen Strumpfes hinaufreichten, wie sie dastand, mit dem einen Fuße oben auf der Kante des Bollwerkes, und sich lächelnd herüberbeugte, um ihm die Krücke ihres Sonnenschirmes zum Guten Tag und Willkommen zu reichen, ehe der Dampfer noch ordentlich angelegt hatte. Wie rot waren ihre Lippen, wie weiß ihre Zähne, und die Schläfen hoben sich so zart ab unter dem breiten Eugenienhute, durch die lang herabhängenden, schwarzen, mit steinkohlenblanken Perlen verzierten Spitzen der Krempe. Endlich wurde die Landungsbrücke ausgelegt, und der Konsul zog mit Erik ab, dem er sich schon vorgestellt hatte, als noch sechs Ellen Wasser sie voneinander trennten. Gleich darauf hatte er sich in ein neckisches Gespräch über die Qualen der Seekrankheit mit der vertrockneten Witwe des Hutmachers, die ebenfalls mit dem Dampfer gekommen war, eingelassen, und jetzt war er bemüht, die Bewunderung seines Gastes auf die großen Lindenbäume vor der Tür des Amtsverwalters hinzulenken[187] und auf den neuen Schoner, der auf Thomas Rasmussens Werft gebaut wurde.

Niels folgte mit Fennimore. Sie machte ihn darauf aufmerksam, daß im Strandgarten zu Ehren der Gäste eine Flagge aufgezogen sei, und dann fingen sie an, über die Familie des Etatsrats in Kopenhagen zu sprechen. Sie waren gleich darüber einig, daß die Etatsrätin ein wenig – ein bißchen – sie wollten nicht recht heraus mit dem Worte, aber Fennimore setzte so ein eigenartiges Lächeln auf und machte eine katzenartige Bewegung mit der Hand, und das war offenbar bezeichnend genug für die beiden, denn sie lächelten und sahen gleich darauf wieder ernsthaft aus. Schweigend gingen sie weiter, alle beide stark mit dem Gedanken beschäftigt, wie sie sich wohl in den Augen des anderen ausnähmen.

Fennimore hatte sich Niels stattlicher gedacht, ausgeprägter im Wesen, bestimmter gezeichnet, gleichsam wie ein unterstrichenes Wort. Niels dagegen hatte viel mehr gefunden, als er erwartet hatte: er fand sie anziehend, beinahe berückend, trotz ihrer Kleidung, die viel von dem Übermodernen der Provinzdamen an sich hatte; und als sie in der Wohnung des Konsuls eintraten und sie ihren Hut abnahm und, indem sie beschäftigt niederblickte, ihr Haar mit so wunderbar graziösen, weichen, trägen Bewegungen der Hand und des Handgelenkes ordnete, fühlte er sich so dankbar für diese Bewegungen, als wären es Liebkosungen, und weder an diesem Tage noch an dem nächsten konnte er sich freimachen von dieser ihm selbst[188] ein wenig rätselhaften Dankbarkeit, die zuweilen so eigenartig überhand nahm, daß er meinte, es müsse das größte Glück sein, ihr mit Worten dafür danken zu können, daß sie so schön und so lieblich war.

Bald fühlten sich sowohl Niels wie Erik völlig heimisch in dem gastfreien Hause des Konsuls, und schon nach wenigen Tagen hatten sie sich vollständig in das dolce far niente eingelebt, aus dem so recht eigentlich das Ferienleben besteht und das man nur mit großer Anstrengung gegen die Eingriffe guter Menschen zu schützen vermag; sie mußten alles, was sie an diplomatischen Kräften besaßen, aufbieten, um den vielen langweiligen Abendgesellschaften, großen Segelpartien, Sommerbällen und Dilettantenvorstellungen zu entgehen, die ununterbrochen ihren Frieden bedrohten. Sie wünschten oft, daß das Haus des Konsuls auf einer einsamen Insel läge, und Robinson kann keinen größeren Schrecken empfunden haben, als er die Fußspuren der Wilden im Sande fand, als sie, wenn sie fremde Paletots im Vorsaal entdeckten oder wenn unbekannte Arbeitsbeutel sich auf dem runden Tische im Wohnzimmer blicken ließen. Sie wollten weit lieber allein bleiben, denn sie waren ja, noch ehe die erste Woche halb verstrichen war, beide in Fennimore verliebt. Nicht mit jenem reifen Verliebtsein, das sein Schicksal wissen will und muß, das sich danach sehnt, zu besitzen, zu umfassen, sicher zu sein; das war es noch nicht, es war noch das Dämmern der ersten Liebe, das wie ein wunderbarer Lenz in der Luft liegt und mit einer[189] Sehnsucht schwillt, die Wehmut ist, mit einer Unruhe, die leises, pochendes Glück bedeutet. Der Sinn ist so weich, so leicht bewegt, so bereit, sich hinzugeben. Ein Schimmer über der See, ein Säuseln im Laube, ja nur eine Blume, die sich entfaltet, das alles hat so eigene Macht erhalten. Unbestimmtes, namenloses Hoffen taucht plötzlich auf und verbreitet seinen Sonnenglanz über alles in der Welt, und dann plötzlich liegt wieder alles ohne Sonne da, eine leise Zaghaftigkeit fährt gleich einer Wolke über den Glanz hin und färbt die Funken der Hoffnung mit dem Grau ihres Kielwassers. Das Herz so mutlos, zerschmelzend mutlos und ergeben in sein Schicksal, voll Mitleid mit sich selbst, voll Zaghaftigkeit, die sich in stillen Klagen spiegelt und in einem Seufzer erstirbt, der halb erheuchelt ist; und dann rauscht es wieder zwischen den Rosen, das Traumland taucht aus dem Nebel auf, mit goldigem Schimmer über den weichen Buchenkronen, mit duftreicher Sommerdämmerung unter dem Laube, das sich über den Pfaden wölbt, von denen niemand weiß, wo sie enden.

Eines Abends nach der Teezeit waren sie alle im Wohnzimmer versammelt. Von einem Aufenthalt im Garten oder im Freien konnte nicht die Rede sein, denn es regnete in Strömen vom Himmel herunter. Sie waren ans Zimmer gefesselt, waren aber keineswegs unzufrieden damit; das Gefühl, so zwischen den vier Wänden eingeschlossen zu sein, verbreitete die Gemütlichkeit eines Winterabends über das Zimmer, und dann war der Regen so erwünscht, alles schmachtete nach Wasser, und[190] wenn es so recht gründlich herabströmte und die schweren Tropfen an die Scheiben prasselten, so zauberte dieser Laut schöne Bilder vor die Seele, üppig grünende Wiesen und erquickte Laubmassen, und bald sagte der eine, bald der andere leise vor sich hin: Wie es doch regnet! und dabei sah man zu den Fenstern hinüber mit einem Gefühl des Behagens und einem schwachen Funken des Genießens in halbbewußtem Einverständnis mit den Naturmächten da draußen.

Erik hatte seine Mandoline geholt, die er aus Italien mitgebracht hatte, und hatte von Napoli gesungen und von leuchtenden Sternen, und jetzt saß eine junge Dame, die zum Tee da war, am Klavier und begleitete sich selber: Min lille vrå bland bergen, und fügte zu jeder Endung ein A hinzu, damit es recht schwedisch klänge.

Niels, der nicht sonderlich musikalisch war, ließ sich von der Musik weich melancholisch stimmen und fiel in Gedanken, bis Fennimore zu singen begann. Das weckte ihn.

Jedoch nicht auf angenehme Weise; ihr Gesang erfüllte ihn mit Unruhe. Sobald sie sich dem Klange ihrer Stimme hingab, war sie nicht mehr das kleine Provinzmädchen; wie ließ sie sich von diesen Tönen hinreißen, wie atmete sie frei und rückhaltlos auf in ihnen, ja er hatte eine Empfindung, als würfe sie alles Zartgefühl, alle Hüllen ab.

Ihm ward so heiß ums Herz, seine Schläfen pochten, er schlug die Augen nieder. Sah es denn keiner von[191] den andern, was er sah? Nein, sie sahen es nicht. Sie war ja ganz außer sich, fort von Fjordby, weit fort von Fjordbyer Poesie und Fjordbyer Gefühlen. Sie war in eine andere, kühnere Welt versetzt, wo die Leidenschaft auf hohen Bergen üppig wucherte und ihre roten Blüten dem Sturme preisgab.

War es vielleicht, daß er so wenig Verständnis für Musik besaß, weil er desto mehr in ihren Gesang hineinlegte? Er konnte es nicht recht glauben, aber er hoffte es, denn er liebte sie weit mehr, so wie sie sonst war. Wenn sie mit ihrer Näharbeit dasaß und mit ihrer sanften, ruhigen Stimme sprach, mit ihren klaren, treuen Augen aufblickte, so fühlte sich sein ganzes Wesen mit der unwiderstehlichen Macht eines starken, stillen Heimwehs zu ihr hingezogen. Er sehnte sich danach, sich vor ihr zu demütigen, das Knie vor ihr zu beugen und sie eine Heilige zu nennen. Immer empfand er eine so wunderbare Sehnsucht nach ihr, nicht nur nach ihr, so wie sie jetzt war, sondern nach ihrer Kindheit und nach all den Tagen, in denen er sie nicht gekannt hatte; und wenn er mit ihr allein war, brachte er stets die Rede auf die Vergangenheit und ließ sich von ihr erzählen, von ihren kleinen Leiden, ihren kleinen Verirrungen, kleinen Eigentümlichkeiten, an denen ja jede Kindheit reich ist. Und er lebte in diesen Erinnerungen, neigte sich ihnen zu mit unruhigem, eifersüchtigem Schmachten, einem unbestimmten Verlangen, zu ergreifen, zu teilen, eins zu werden mit diesen feinen, mattfarbigen Schatten eines[192] Lebens, das zu reiferen, reicheren Farben erglüht war. Aber nun auf einmal dieser Gesang, der so stark war, der ihm so unerwartet kam, wie uns der Anblick eines unbegrenzten Horizonts bei der Biegung des Weges überraschen kann und uns die lauschige Waldeinsamkeit, die bis dahin unsere ganze Welt gewesen ist, nur als eine die Landschaft begrenzende Ecke erscheinen läßt; die kurzen, gekräuselten Linien des Waldes werden klein und unbedeutend im Vergleich zu den großartigen Zügen der Höhen und der fernen Meere.

Ach, es war ja aber nur eine Fata Morgana gewesen, diese Landschaft, nur eine Phantasterei, in die er sich unter dem Gesange hineingelebt hatte, denn jetzt sprach sie ja wieder, wie sie immer gesprochen hatte, war wieder so schön, wieder ganz die alte Fennimore! Er hatte es ja auch auf hunderterlei Weise erfahren, welch stilles Wasser sie war, ohne Sturm, ohne Wogen, den blauen Himmel mit den Sternen widerspiegelnd.

So liebte er Fennimore, so sah er sie, und so war sie auch nach und nach in ihrem Benehmen gegen ihn. Nicht daß sie sich absichtlich verstellt hätte, es lag in gewisser Weise sogar viel Wahres darin, und es war so natürlich, daß sie, wenn jedes seiner Worte, jeder seiner Ausdrücke, jeder Traum und Gedanke sich mit seinen Wünschen, Bitten und Huldigungen gerade an diese Seite in ihr wandte, daß sie dann unwillkürlich ihr eigenes Ich in das Gewand kleidete, das er ihr gleichsam aufzwang. Wie konnte sie auch darüber wachen,[193] daß jeder Beliebige einen völlig richtigen Eindruck von ihr, so wie sie wirklich war, erhielt, jetzt, wo doch alle ihre Sinne und Gedanken nur von dem einen erfüllt waren, von Erik, dem einzigen, ihrem erkorenen Herrn, ihm, den sie mit einer Leidenschaft liebte, die nicht ihrer eigentlichen Natur entsprach, mit einer abgöttischen Verehrung, die sie selbst erschreckte. Sie hatte geglaubt, daß die Liebe eine süße Würde sei, nicht so eine verzehrende Unruhe voller Furcht, Demütigung und Zweifel. Unzählige Male, wenn sie zu sehen meint, daß sich das Geständnis von Eriks Lippen losringen wollte, konnte sie ein Gefühl überkommen, als sei es ihre Pflicht, ihre Hand auf seinen Mund zu legen, ihn am Sprechen zu hindern, sich selber ihm gegenüber anzuklagen, ihm zu sagen, wie unwürdig sie seiner Liebe sei, wie irdisch klein, wie kindisch sie sei, so gar nicht edel, nein, so elend und gering, so alltäglich häßlich. Sie fühlte sich so falsch unter seinem bewundernden Blick, so berechnend, wenn sie ihm nicht aus dem Wege ging, so verbrecherisch, wenn sie es nicht übers Herz bringen konnte, Gott in ihrem Abendgebet zu bitten, daß Erik seinen Sinn von ihr wende, auf daß eitel Licht über seinem Schicksal ruhen möge und Hoheit und Herrlichkeit; denn sie hätte ihn ja hinabgezogen durch ihre erdgeborene Liebe.

Es geschah fast mit Widerstreben, daß Erik sie liebte. Sein Ideal war immer vornehm gewesen, groß und stolz, mit leiser Schwermut auf den bleichen Zügen und tempelkühler Luft in den strengen Falten des Gewandes. Aber[194] Fennimores Liebreiz hatte es ihm angetan. Er konnte ihrer Schönheit nicht widerstehen. Es lag so eine frische, unbewußte Sinnlichkeit über ihrer ganzen Erscheinung, wenn sie ging, erzählte ihr Gang flüsternd von ihrem Körper, es lag eine Blöße über ihren Bewegungen, eine träumerische Beredsamkeit über ihrer Ruhe, wogegen sie nichts machen konnte, wie es auch nicht in ihrer Macht gestanden hätte, es zu verbergen oder zum Schweigen zu bringen, wenn sie die leiseste Ahnung davon gehabt hätte. Niemand sah das besser als Erik, und er wußte nur zu gut, einen wie großen Anteil ihre leibliche Schönheit an seiner Neigung hatte; darum kämpfte er dagegen an, denn es lebte ein hohes schwärmerisches Bild von der Liebe in seiner Seele, ein Bild, das nicht Poesie und Überlieferung allein geschaffen hatten, sondern das seinen Ursprung einer tieferen Naturanlage verdankte, als die war, welche für gewöhnlich in seinem Wesen zum Ausdruck kam. Woher dies Bild auch stammen mochte, es mußte das Feld räumen.

Noch hatte er Fennimore seine Liebe nicht gestanden; da geschah es aber, daß der Schoner Berendt Claudy ankam und sich draußen auf der Reede vor Anker legte. Er sollte weiter hinauf an der Küste gelöscht werden, darum kam er nicht in den Hafen, und da der Konsul sehr stolz auf dies Schiff war und es seinen Gästen gern zeigen wollte, so ruderte man einmal gegen Abend hinaus, um an Bord den Tee einzunehmen.

Das Wetter war herrlich, vollkommen windstill, und[195] alle waren in der heitersten Laune. Die Zeit verstrich aufs angenehmste. Man trank englischen Porter, knabberte an englischen Biskuits, die so groß waren wie Monde, und aß geröstete Makrelen, die auf der Fahrt durch die Nordsee gefangen waren. Man pumpte mit der Schiffspumpe, bis sie schäumte, spielte mit dem Kompaß, zog mit den großen Blecheimern Wasser aus den Behältern herauf und lauschte dem Steuermann, der auf einer achteckigen Handharmonika spielte.

Es war schon ganz dunkel, als man sich zur Heimkehr anschickte. Man ruderte in zwei Abteilungen zurück, Erik, Fennimore und einige von den älteren Herrschaften in der Schiffsjolle, die übrigen im Boote des Konsuls. Das erste Boot sollte vorausrudern, erst einen kleinen Abstecher machen und sich dann langsam nach dem Lande wenden, während das andere geradeswegs heimruderte. Der Grund zu dieser Verabredung war der, daß man hören wollte, wie der Gesang an einem so stillen Abende über das Wasser schallte. Darum saßen Erik und Fennimore auf der hintersten Bank im ersten Boote; die Mandoline hatten sie mitgenommen. Aber der Gesang wurde eine ganze Weile vergessen, denn als man die Ruder auslegte, gewahrte man ein ungewöhnlich starkes Meerleuchten, und das nahm sie alle völlig in Anspruch. Leise glitt das Boot dahin, und die glanzlose, glatte Fläche erstrahlte in gleitenden Linien und Kreisen in mildem, weißem Lichte, das eine helle Furche hinter dem Boote bildete und nur da, wo[196] sie am stärksten war, einen feinen, matten Schimmer, gleich dem Rauche eines Lichtes, über die Umgebungen verbreitete. Weiß sprühte es unter den Ruderschlägen auf und glitt von dannen in zitternden Ringen, die schwächer und schwächer wurden, und in lichten Tropfen floß es von den Rudern herab gleich einem Phosphorregen, der in der Luft erlosch, das Wasser aber Tropfen auf Tropfen entzündete. Es war ganz still auf dem Wasser, nur der Takt der Ruderschläge teilte das Schweigen in regelmäßigen Zwischenräumen ab. Weich lag die Dämmerung über der stillen Tiefe, und das Boot verschwamm mit seinen Insassen zu einer dunkeln Einheit, von der sich im schwachen Scheine des Meerleuchtens nur die fleißigen Ruder abhoben, hin und wieder ein Tau, das über den Rand des Bootes hing, und die gebräunten Gesichter der Matrosen. Niemand sprach. Fennimore kühlte ihre Hand im Wasser, und sie und Erik saßen zurückgewendet da und starrten auf das Phosphornetz, das lautlos hinter dem Boote herfloß und ihre Gedanken in seinem lichten Gewebe fing.

Eine Aufforderung vom Lande her, doch endlich mit dem Gesange zu beginnen, erweckte sie, und so sangen sie ein paar italienische Romanzen zu den Tönen der Mandoline. Dann schwiegen sie abermals.

Endlich legten sie an der Landungsbrücke an, die sich vom Strandgarten ins Meer erstreckte. Das Boot des Konsuls lag leer an der Brücke, die Gesellschaft hatte sich bereits ins Haus begeben. Die Tante und die anderen[197] gingen auch hinauf, während Erik und Fennimore stehen blieben und dem Boote nachblickten, das zum Schiffe zurückruderte. Die Gartenpforte oben fiel ins Schloß, der Schall der Ruder wurde schwächer und schwächer, und die Bewegung des Wassers an der Brücke erstarb. Dann fuhr ein leiser Windhauch durch das dunkle Laub hinter ihnen, gleich einem Seufzer, der sich versteckt hatte und der nun ganz leise die Blätter zerteilte und von dannen flog und die beiden ganz allein zurückließ.

Genau in demselben Augenblicke wandten sie sich einander zu, fort von dem Wasser. Er ergriff ihre Hand, zog sie langsam, wie fragend an sich und küßte sie dann. »Fennimore!« flüsterte er, und sie gingen durch den dunklen Garten.

»Du hast es schon lange gewußt«, sagte er dann. Sie sagte: »Ja.« Dann schritten sie weiter, und dann fiel die Gartentür abermals ins Schloß.

Erik konnte nicht schlafen, als er endlich auf seinem Zimmer anlangte, nachdem er noch Kaffee mit der Gesellschaft getrunken und sich von den Fremden an der Gartentür verabschiedet hatte.

Es war so beklommen dadrinnen. Er öffnete die Fenster, dann warf er sich aufs Sofa und horchte. Er wollte wieder hinaus.

Wie es im Hause schallte! Er hörte deutlich das Schlürfen der Morgenschuhe des Konsuls, und jetzt öffnete Frau Claudy die Küchentür, um nachzusehen, ob das Feuer auch erloschen sei. Was hatte Niels nur zu so[198] später Stunde noch in seinem Koffer zu suchen? Horch! was war das? – Eine Maus hinter der Vertäfelung! – Jetzt ging jemand auf Socken über die Diele. – Jetzt gingen da zwei! – Endlich! Er öffnete die Tür zu dem unbewohnten Fremdenzimmer, das hinter dem seinen lag, und horchte. Dann öffnete er vorsichtig das Fenster und schwang sich über das Fensterbrett hinaus in den Hof. Durch die Rollkammer konnte er in den Strandgarten gelangen. Wenn ihn jemand sähe, wollte er sagen, er habe unten an der Brücke die Mandoline vergessen und wolle sie holen, da der Tau ihr schaden könne. Deswegen hatte er sie auf dem Rücken.

Der Garten war jetzt heller, es wehte ein wenig, und ein schwacher Mondschein spannte einen zitternden Silberstreifen von der Landungsbrücke bis zu dem Schoner aus.

Erik ging hinaus auf die Steinmauer, die den Garten schützte und die sich von dort in scharfen Winkeln um einen großen, gedämmten Platz herum und bis ans äußerste Ende der Hafenmauer erstreckte. Den ganzen Weg balancierte er auf den unbequemen, großen, schrägen Steinen entlang.

Ganz erschöpft gelangte er an die Spitze der Mole und setzte sich dort auf eine Bank.

Hoch über seinem Haupte schaukelte die rote Signallaterne des Hafens leise mit einem seufzenden Laut, und die Flaggenleine schlug sanft gegen die Stange.

Der Mond war ein wenig klarer geworden, doch nicht viel, er warf ein vorsichtiges, grauweißes Licht über die[199] stillen Fahrzeuge im Hafen und über den Wirrwarr von viereckigen Dächern und weißen, hohläugigen Giebeln der Stadt; und dahinter, alles andere überragend, erhob sich hell und ruhig der Kirchturm.

Erik lehnte sich träumend zurück, und ein Meer von unendlicher Wonne und namenlosem Jubel schwellte sein Herz und ließ ihn sich so reich, so voller Macht und Lebenswärme fühlen. Es war ihm, als könne Fennimore jeden Liebesgedanken hören, der aus seinem Glück hervorsproßte, Ranke auf Ranke und Blüte auf Blüte, und er stand auf, fuhr schnell über die Mandoline hin und sang triumphierend der schlummernden Stadt zu:


Wach liegt da droben mein Mädchen,

Sie lauscht wohl auf mein Lied!


Wieder und wieder sang er die Strophen des alten Volksliedes, wie um seinem übervollen Herzen Luft zu machen.

Allmählich wurde er ruhiger. Die Erinnerung an jene Stunden in früheren Tagen, wo er sich am schwächsten gefühlt hatte, am elendsten, am verlassensten, machte sich mit stillem, spannendem Schmerz geltend, der eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Gefühl hatte, das wir empfinden, wenn uns die ersten Tränen in die Augen kommen; und er setzte sich auf die Bank, und während seine Hand leise über die Saiten der Mandoline hinstrich, starrte er über des blaugrauen Fjords weite Fläche hinaus, auf der sich die blitzende Mondbrücke ausspannte, vorbei an dem dunklen Schiff bis hinüber zu den feinen melancholischen Linien der Morsöhöhen, die mit himmelblauem[200] Land in einen Nebel von Weiß gezeichnet sind. Und die Erinnerungen mehrten sich, sie wurden süßer und süßer, sie schwangen sich auf in lichtere Gefilde, gleichsam strahlend in einer Morgenröte auf Rosen.


Wach liegt da droben mein Mädchen,

Sie lauscht wohl auf mein Lied.


Er sang es leise vor sich hin.

Quelle:
Jacobsen, J[ens] P[eter] : Niels Lyhne. Leipzig [o. J.], S. 174-201.
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