XIV

[227] Seit diesem Tage lastete ein erneuter Druck auf den Bewohnern des Hofes. Tralgoth lauerte auf alles, was in seiner Nähe vorging. Halbe Nächte lang saß er im Bette wach und horchte auf Hendriks Schritte, der oben in seiner Stube auf und nieder ging. Das Nachtlicht brannte grell bis zum Morgengrauen. Dann begann der Tag mit seiner düsteren Monotonie.

Als die ersten Anzeichen des Frühlings erschienen, atmeten alle auf. Draußen im Freien ließen sich die schwersten Sorgen leichter tragen, als zwischen den engen, bedrückenden Mauern.

Eines Tages legte Bela ein Schneeglöckchen in seiner Mutter Schoß. Sie stellte es mit zitternden Händen ins Wasser. Gott sei gedankt! Gott sei gedankt!

Unten in der Scheune gab's ein frisches Rumoren. Das Rüstzeug für die Frühlingsarbeiten wurde hervorgesucht, geprüft, ausgebessert. Dann standen die Fenster des Hauses[227] weit geöffnet, und die Frühlingssonne schien hinein.

Die Wintersaat war in kürzester Zeit hoch im Halm. Die Ochsen wurden eingeschirrt und zogen hinaus aufs Feld. Jauchzende Lerchen stiegen von der braunen Erde auf.

Hendrik sattelte Kincs und ritt in die Weinberge hinaus. Manchmal folgte ihm Tralgoth, manchmal hielten ihn Geschäfte im Hause fest. Dann war er fast der einzige daheim. Bela war in der Schule, Kyrilla hatte Besorgungen in der Stadt und richtete sich so ein, daß sie ihren Jungen erwarten und mit ihm nach Hause gehen konnte. Dann machten sie wohl einen Umweg und ließen sich am Steinbruch nieder. Unten im Kessel hatten die Arbeiten wieder begonnen, und Bela interessierte es, den auf Leitern stehenden Steinklopfern zuzusehen. Ertönte dann Hufschlag, so wurden Mutter und Sohn rot. Der letztere wollte auf die Straße hinausstürzen; Kyrilla erfaßte ihn immer noch rechtzeitig und hielt ihn fest. –

Die Leute prophezeiten einen heißen Sommer. Schon jetzt im April brannte die Sonne mit ungewöhnlicher Kraft nieder. Die Bäume im Garten hatten ihr reichstes Blütenkleid angelegt. Auf den Feldern und Wiesen schimmerte es buntfarbig. Die Arbeiten, die infolge der heißen Witterung beschleunigt werden mußten, führten zeitweilige längere Trennungen zwischen den Bewohnern[228] des Tralgothhofes herbei. Ösz blieb tagelang in den Weingärten draußen, Emmerich kehrte spät abends von seinen Feldern heim. Fanden sie sich wieder zu Hause zusammen, so fielen nur kurze geschäftliche Bemerkungen zwischen ihnen. Jeder schien froh zu sein, so wenig als möglich mit dem andern zu thun zu haben.

Eines Spätnachmittags verließ Bela die Schule. Die Mutter erwartete ihn vor dem Ausgang. Der Himmel war voll rosig angehauchter Wolken, die wie ein brennendes Gebirge die Ebene einfaßten.

»Noch nicht nach Hause gehen,« bat Bela.

»Spiel' doch im Garten,« meinte Kyrilla.

»Da kann ich mich nicht rühren. Sie bestreuen die Wege mit Kies und haben den Zaun gestrichen. Gehen wir doch nach dem Steinbruch.«

Sie sah seine bittenden Augen auf sich gerichtet und willfahrte seinem Wunsch.

Sie schritten über die jungen Blumen dahin, die unter ihren leichten Tritten die Köpfe kaum bogen. Bela riß seine Mütze vom Kopf. »Du, Mutter, es ist doch schön.« Seine geblähten Nüstern sogen begierig die würzige Luft ein. »Und alles, was noch kommen kann.« Er sah mit glänzenden Augen umher. Sie verstand ihn nicht und fragte, was er meine. Da war er ihr aber auch schon vorausgeeilt und im Wäldchen verschwunden.

»Du seliger Schatz, schau einmal dort hinab,[229] wie das gelbe Gestein aus der dunklen Erde herausquillt. Die arme Erde! Ob sie es denn wirklich nicht spürt, wenn sie so mit Hämmern und Schlägeln an ihrem Leibe herumhauen! Hast du nicht ein paar Brotkrumen in der Tasche? Ich bin so hungrig.« Er vergaß das, was ihn eben noch so sehr interessiert hatte, um seinen kleinen knurrenden Magen zu befriedigen.

»Hast du denn nicht dein Vesperbrot verzehrt?«

»Ei freilich!«

»Und doch noch Hunger?«

»Und was für einen!«

»Nun Geduld! Es giebt bald Abendessen.«

Er schnitt ihrer ihm hingehaltenen leeren Tasche eine kleine Grimasse. In diesem Augenblick erklangen Hufschläge. Bela hob den Kopf. Und plötzlich hat er alles um sich her vergessen. Der rote Himmel, die berauschende Luft haben ihn trunken gemacht. Er entreißt sich den Händen der Mutter und stürzt durch das Baumdickicht auf die Landstraße hinaus. Seine aufgehobenen Arme sinken wie gelähmt nieder, sein eben noch strahlendes Gesicht erblaßt. Sein Vater steht ihm gegenüber. Beide starren einander an.

»So, da bist du. Was machst du hier?« Tralgoth steigt von seinem Pferd ab. »Wie kannst du dich hier allein herumtreiben?«

»Ich bin nicht allein.«

»So? Wer ist denn bei dir?«[230]

»Die Mutter.«

»Ah – ah so.«

Kyrilla tritt zwischen den Bäumen hervor.

»Es ist ein alter Lieblingsplatz von uns. Geht alles gut draußen?« Sie meinte im Weingarten.

Er gab keine Antwort. Sein fahles, fleischloses Gesicht verzerrte sich zu einem unheimlichen Lächeln. »Wem hat man denn so gar sehnsüchtig hier aufgepaßt?«

Kyrilla fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Sie sah ratlos auf das Kind, zu dessen Verteidigung sie kein Wort zu sagen wußte.

»Ich dachte, es wäre Onkel Hendrik,« antwortete der Junge trotzig.

»So.« – Emmerich bestieg wieder sein Roß und ritt heimwärts. Sie folgten ihm in einiger Entfernung. Sie redeten kein Wort miteinander.

Am nächsten Tage, als Tralgoth vorüber ritt, hielt er an und horchte. Er vernahm nichts. Vielleicht flüstern sie zusammen, dachte er. Er stieg ab und durchspähte das nächste Gebüsch. Er sah niemand. Er nahm seinen Weg weiter nach dem Weingarten hinaus. Er fand Hendrik vollauf beschäftigt.

»Na, da geht's ja rüstig vorwärts,« sagte er zu den arbeitenden Tagelöhnern. Dann wandte er sich zu Ösz. »Gestern ließest du sie vergeblich warten. Wie kann man nur so grausam sein?«

Hendrik sah ihn verständnislos an. »Ich ließ sie warten? Wen ließ ich warten?«

»Nun, das wirst du doch besser wissen als ich.«[231]

»Ich verstehe kein Wort. Was meinst du? Rede gefälligst.«

»Nun, nun, das ist wirklich spaßig! Im Steinbruch, auf ihrem Lieblingsplatz.«

»Wen ließ ich warten?« donnerte Hendrik mit flammenden Augen.

Emmerich trat einen Schritt zurück.

»Nun, nun, die Leute brauchen es nicht zu wissen. Der Junge machte ein ganz unglückliches Gesicht, als er nur den Vater statt des geliebten Onkels erblickte.«

Hendrik riß rasch seine Pfeife heraus, steckte sie zwischen die Zähne und wandte sich scheinbar gleichgiltig mit ein paar Worten an die Leute. Emmerich rieb sich die Hände. Er unterhielt sich einige Minuten lang mit dem Aufseher; dann ritt er im raschesten Galopp heimwärts. Als er an dem Kastanienwäldchen vorüberkam, sah er eine Flasche am Boden liegen. Er vergaß, daß sie von den Arbeitern unten im Bruch herrühren konnte. Sie scheinen sich's hier gut sein zu lassen, dachte er mit heimlichem Hohn. Nun, ich werde ihnen schon auf ihre Schliche kommen. Er thut, als wüßte er von nichts. Der Junge bestätigte doch, daß er ihn erwartete. Na, paßt auf. Ich will einmal ohne Pferd hierherkommen, daß mich der Hufschlag nicht verrät. Wer weiß, was ich da zu sehen bekomme ...[232]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 227-233.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon