XVII

[243] »Mama,« rief einige Tage später Bela mit ganz glühendem Gesicht, »Onkel fragt dich, ob's dir recht ist, wenn er mich reiten lehrt. Ich darf ihn dann mit Kincs in die Weingärten begleiten.«

»Thu's,« sagte die Mutter.

Und am andern Tage lief er abermals zu ihr.

»Mama, darf ich mir einen jungen Rattler kaufen, den der Kropf-Joseph feil hat? Seine Hündin hat sieben Junge geworfen, und Muki ist der schönste. Onkel will ihn abrichten. Ja? Ja? Sag' doch ja, bitte!« Er streichelte ihr Gesicht.

»Ja,« sagte sie, ohne zu lächeln, »kauf' ihn dir.« Abends kollerte der dicke kleine Hund in der Stube umher, und Bela schlug vor Entzücken Purzelbäume. Seit Emmerich tot war, nahm das Kind an allen Mahlzeiten teil. Höchst selten fehlte es. Dann saßen sich die beiden Menschen stumm gegenüber. Wenn das Essen abgetragen war, begann sie zu nähen oder sich mit irgend[243] einer anderen Handarbeit zu beschäftigen. Er setzte sich an den neuen Schreibtisch, den sie ans Fenster hatte stellen lassen, und blätterte in den Wirtschaftsbüchern. Manchmal stellte er eine oder die andere notwendige Frage an sie, die sie, ohne den Kopf zu erheben, beantwortete. Oder wenn sie es that, sahen ihn ihre Augen so ruhig und fremd an, daß es ihm ins Herz schnitt.

Nun wird er sich ihr bald erklären, sagten die Dienstleute. Er war ja schon früher fast Herr im Hause. Jetzt ist er's ganz. Ob er sie liebte? Man glaubte nichts davon zu bemerken. Aber jedenfalls wäre er ein Narr, wenn er die reiche Frau sich entgehen ließe. Daß er das Kind und das Kind ihn liebte, war zweifellos. So grübelten die Leute; zu sagen wagten sie nichts dergleichen. Früher hatte er oft mit ihnen gescherzt und ein und das andere heitere Wort gewechselt, um sie zur Arbeit anzufeuern; seit Emmerichs Tod hatte ihn niemand mehr heiter gesehen. Er war noch thätiger als früher und faßte überall an, wo's anzufassen galt, aber ernst, stumm, wie geistesabwesend. Als der Hochsommer begann, ging er auf Tage und Wochen in die Weingärten hinaus. Manchmal, wenn Bela frei hatte und sehr bat, nahm er ihn mit. Bela ritt schon ganz leidlich. Am Abend aber mußte er immer wieder heimkehren. »Deine Mutter soll nicht allein bleiben,« sagte Hendrik zu ihm. Bela gehorchte widerwillig.[244]

»Fürchtest du dich, Mutter?« fragte er sie einmal, als sie allein bei Tische saßen.

»Ich, nein,« gab sie verwundert zur Antwort. »Weshalb fragst du mich?«

Bela zauderte. »Siehst du,« sprudelte er dann hastig hervor, »Onkel meint immer, ich müßte abends zurück bei dir sein. Da dachte ich, du fürchtetest dich. Du könntest ja Muki in dein Zimmer hinauf nehmen, ich will dir ihn gerne leihen.«

Sie streichelte sein wildes Knabenhaar.

»Ich fürchte mich nicht, bleib' nur ruhig draußen.«

Nach einer Weile sagte er: »Du, Mama, gelt, es ist nichts los beim Steinbruch?«

Sie erblaßte. »Los? Was soll denn los sein?«

»Weil du nicht mehr mit mir hingehst und uns auch dort nicht mehr erwartest. Die Buben in der Schule sagen, es sei nicht geheuer dort. Seit Vater verunglückt ist – gelt, er ist doch verunglückt und nicht hineingesprungen – der dumme Hans hat's neulich in der Klasse ausgesprengt – seit damals höre man dort immer so allerhand. Ich weiß ja nicht, was.«

»Das sind die Arbeiter, die unten hämmern und klopfen,« bemerkte Kyrilla mit müder Stimme.

»Gelt ja,« sagte er, sein kluges Gesichtchen befriedigt von ihr wendend. »Das hab' ich auch gleich gesagt. O, es ist so schön, viel schöner als früher.« Er warf sich ihr um den Hals.[245]

»Bleib' nur draußen,« sagte sie zärtlich, anstatt ihm eine andere Antwort zu geben. Er faßte sie an beiden Ohrläppchen.

»Du, Mami, ich weiß, was das Schönste ist. In den Ferien gehst du ganz mit in den Wein hinaus, ja? ja?« Er bemühte sich, ihre Zustimmung zu erlangen. Sie versprach ihm, was er wollte. Am anderen Tag kam Hendrik herein.

»Ich lasse ein kleines Blockhaus draußen aufführen. Bela sagte, Sie möchten vielleicht für einige Wochen ganz hinausziehen.«

Sie nickte. »Es kann sein. Wahrscheinlich.«

»Wenn Sie es aber nicht wünschen –«

»Weshalb sollte ich nicht?«

»Ich glaubte es in Ihrer Miene zu lesen.«

»Nein, nein. Lassen Sie nur das Häuschen herrichten, ich – ich bin ganz einverstanden damit. Ich – ich freue mich nur nicht darauf, aber das verlangen Sie ja auch nicht,« setzte sie schlicht hinzu.

Sie freut sich nur nicht darauf! Wenn er Thränen besessen hätte! Aber er war eine harte, verschlossene Natur. Er unterdrückte einen Seufzer, dann sagte er tonlos: »Vielleicht wird es Ihnen ganz gut thun, einige Wochen lang in freier Luft zu leben.«

Sie entgegnete nichts. Hatte sie ihn gehört oder nicht? Oder verletzte es sie, daß er sich herausnahm, unaufgefordert zu ihr zu reden. Eigentlich hatte er kein Recht dazu. Er! In[246] manchen Augenblicken vergaß er, was er geworden war. Erst ein Blick in ihr edles leidendes Gesicht, das früher in seiner Verschwiegenheit ihm soviel verraten hatte und jetzt so teilnahmlos in seiner Nähe blieb, erinnerte ihn an alles Geschehene. Und wenn ihn dann Verzweiflung fassen wollte, durchzuckte ihn ein greller, blendender Gedanke: Sie ist deine Mitschuldige! Deine Mittragende. Sie hängt von dir ab, wie du von ihr. Sie ist in deiner Hand. Ein großes, gemeinsames Elend verbindet euch. Gemeinsam seufzt ihr unter einer Last, gemeinsam tragt ihr an einem Joch. Und eine wilde, wahnsinnige Genugthuung erfüllte ihn in solchen Augenblicken. Er eilte dann jedesmal hinaus, um Sturm und Wetter seine Stimmung kühlen zu lassen. Wenn sie vorüber war, griff ihm die kalte Wirklichkeit doppelt schwer ans Herz. Die Strengheit des Loses, das Kyrilla über ihn verhängt hatte, in ihrer Nähe ihr ewig fern zu bleiben, lähmte bisweilen seine Energie. Hatte er, so lange Tralgoth gelebt hatte, etwas für sich zu hoffen gewagt? Nein. Aber dies selige, reine, wortlose Verständnis zwischen ihnen beiden war ja allein schon lebenswert. Und das war jetzt gestorben, zerschellt mit dem, der die Ursache seines Elends war.

Es war seltsam. Seit Tralgoth tot war, begann Ösz anders über ihn zu urteilen. Machten es die lauen, stillen Sommernächte, in denen er[247] draußen zwischen den Reben hinwandelte und über den Freund nachdachte? Diese schrecklichen hellen Nächte, die eigentlich gar keine Nächte waren, und Unglücklichen das Herz zerfleischten mit ihrer unsäglichen Schönheit. Auch Kyrilla konnte keine Ruhe finden, auch sie grübelte. Auch sie rang mit der Dämmerung in sich, um sich zu verstehen, um Klarheit über sich zu erlangen. Und da fand sie es in der Tiefe ihrer Seele, das große, zu spät erwachende, dasselbe ›Vielleicht‹ wie er.

Vielleicht! ...[248]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 243-249.
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