XXI

[275] Es war dasselbe Gebäude, dieselben Mauern, aber doch ein anderes, ganz anderes Haus, in dem sie jetzt wohnten. Es ist nicht mehr zu groß, nein, eher zu klein für sie. Auf der Treppe, im Korridor suchen sie einander auszuweichen, aber trotzdem streift ihr Kleid seine Hand. Tritt sie einmal ans Fenster, so kann sie gewiß sein, ihn unten im Hof zu erblicken. Gestern kam er von seiner Kammer herab. Die Thür ihrer Schlafstube war weit geöffnet, sie hatte den Boden gewaschen und frische Vorhänge aufgemacht. Kyrilla stand in Gedanken versunken vor dem Bilde der schmerzhaften Mutter. Ihm war, als erriete er, was sie dachte. Bitte du für mich, denn ich kann nicht für mich bitten. Ich gehe in einer großen Verwirrung hin. Ihre Hände falteten sich. Trostlos sah sie im Zimmer umher. Hier hatte sie manche heimliche Thräne vergossen, manch lange Nacht durchwacht. Hier, in der[275] Nähe eines armen, gleich ihr in Verlassenheit sich verzehrenden Menschen. Jetzt schien sie dies alles zu verstehen, jetzt, wo es zu spät war. Jetzt erkannte sie, daß ihm nur die Laute gefehlt hatten, um Antwort von ihrem Herzen zu erhalten. Jetzt, jetzt! Sie senkte den müden, gequälten Kopf.

Ein Geräusch von der Thür her läßt sie aufblicken. Draußen im dämmernden Gang lehnt eine Männergestalt und blickt herein. Mit einem Schritt ist sie draußen.

»Emmerich! Emmerich!«

Ösz blickt ergriffen in ihr erbleichendes Gesicht.

»Arme Kyrilla!«

Sie stützt sich, aus ihrer Hallucination erwachend, an den Thürpfosten.

»Mir war, als sei er es. Ich weiß nicht – seit ich wieder hier bin – aus allen Ecken und Winkeln sehe ich seine traurigen Augen mich anblicken. Es ist kaum zu ertragen ...«

Sie fuhr sich heftig über die Stirn und eilte hinab. Er preßte die Lippen fest aufeinander und folgte ihr langsam.

Abends, als Bela schlafen gegangen war, saßen sie sich stumm gegenüber. Ihre Handarbeit lag ihr müßig im Schoß. Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich. Keins redete ein Wort. Jedes von ihnen hing seinen Gedanken nach. Schweren Gedanken. Früher als sonst erhob[276] sich Kyrilla. Ihr war's, als wollten die Wände sie erdrücken. Sie hielt's nicht aus. Ohne ihn anzublicken, sagte sie ihm gute Nacht und verließ die Stube.

Er begann auf allerlei Auswege zu sinnen, um die Abende nicht im Hause zubringen zu müssen. Er besuchte die Weinstuben in der Stadt und kehrte spät in der Nacht heim, aber das langweilte ihn bald. Er that, als ob er wichtige Geschäfte in der Umgegend hätte und trieb sich draußen in den Dörfern herum. Aber auch diese Ausrede konnte er schließlich nicht alle Tage vorbringen. Zuletzt kam ihm ein neuer Gedanke. Er würde auf die Jagd gehen. In der Nähe der Stadt befanden sich ausgedehnte Sümpfe, wo Jägern die reichste Beute winkte. Er nahm seine Flinte und zog häufig und immer häufiger hinaus. Wenn er nicht jagte, so streifte er in dem vom ersten Frost angegrauten Gebüsch umher und scheuchte Hühner auf. Und er besaß nun das Recht, spät heimzukehren und, ohne Kyrilla sehen zu müssen, gleich seine Kammer aufsuchen zu können. Was da draußen in den grauen abendlichen Nebeln der Sümpfe in ihm vorging, wußte niemand als er selbst. Eine Erkenntnis nach der andern erwachte in ihm. Er begriff, wie Kyrilla, jemehr sie für ihn selbst zu empfinden begann, um so tiefer den Schmerz verstand, in hoffnungsloser Sehnsucht vor einem geliebten Wesen zu stehen. Und daß Emmerich trotz seiner Aussichtslosigkeit[277] so treu ausgeharrt, das gab ihm die Überlegenheit über ihn, Hendrik. Er hat nicht treu ausgeharrt. Er hat sich einen gewaltsamen Eingriff in die Rechte der Vorsehung angemaßt und ein Menschenschicksal in andere Bahnen gelenkt, als ihm vielleicht bestimmt waren. O, der Kampf am Steinbruch ist nicht beendet! Jetzt aber ist Tralgoth der Stärkere. Mit unüberwindlichen Geisterhänden besiegt er den Feind.

Eines Abends, als Ösz spät heimkehrte, begegnete ihm Kyrilla auf der Treppe. Sie war in ein großes Tuch gehüllt und, wie es schien, zum Ausgehen bereit. Er blickte sie verwundert an.

»Sie gehen noch aus? Wohin wollen Sie?«

»Hinaus, hinaus. Mir ist – als ob ich ersticken müßte.«

»Ich gehe mit Ihnen,« sagte er kurz. Sie gingen schweigend hinaus in die Nacht. Nach einer Weile sagte er leise: »Sie sind krank, Kyrilla; Sie ertragen es nicht.«

Statt der Antwort legte sie ihre Hand auf seinen Arm und blieb stehen.

»Wissen Sie noch, wie viel Vertrauen er in Sie gesetzt hat? Alles legte er in Ihre Hände, sein Haus und sich. Und wie er selig war an dem Abend, da Sie zu uns kamen! Er hoffte wohl, daß es nun besser mit seiner Verlassenheit würde ...«

Öß faßte mit festem Griff ihre Hände.[278] »Kyrilla, beginnst du nun einzusehen, daß das schwerste Unrecht die Härte ist?«

»Ja, Hendrik!«

»Missest du dir – Mitschuld an dem Vorgang am Steinbruch bei?«

»Ja, das thue ich.«

Nun hatte er sie dort, wo er sie haben wollte. Nun würde die Erkenntnis über ihr kleines egoistisches Bedenken siegen. Über das Leid vielleicht, das die Ausführung seines Entschlusses über sie brachte.

»Also du missest dir Mitschuld an dem Vorgang am Steinbruch bei?«

»O Gott, weshalb wiederholst du die Frage. Befriedigt dich mein qualvolles Ja?«

»Nein, Kyrilla, aber ich will dich anflehen: Töte nicht zum zweitenmal. Oder glaubst du, daß Töten nur die Lebensflamme eines Zweiten auslöschen heißt?«

»Nein, nein ...«

»Man kann einen langsam hinrichten, ohne daß er zu sterben braucht.«

»Was willst du sagen?«

»Daß du mich handeln lassen sollst,« rang es sich fast schreiend aus seiner Brust. »Du siehst ja, daß ein Weiterleben so unmöglich ist. Nein, sei ruhig. Beide dürfen wir es nicht. Du bist Mutter, du hast eine Pflicht. Den Freund deines Sohnes kann dir auch ein anderer ersetzen.«[279]

»Du willst –« stammelte sie.

»Ich will dich und mich erlösen. Wenn er dann zu dir kommt mit frierender Seele, dann nimm ihn an dein Herz und sag' ihm: Sieh', ich hab dir hier ein Opferfeuer entzündet. Wärme dich daran. Das Liebste, das ich besaß, hab' ich hingegeben, um dich wieder gut zu machen. Kyrilla, sag' ihm so, und er wird versöhnt sein.«

Sie wollte etwas entgegnen, aber die Lippen versagten ihr den Dienst.

»Und ich werde ihm sagen, wenn wir uns irgendwo begegnen sollten: Tralgoth, ich habe deine Todeswunde mit meinem Blute ausgewaschen. Mehr kann ich nicht thun, Tralgoth. Sei wieder mein Freund! Für dein Höchstes hab' ich dir mein Höchstes gegeben ...«

Ein Krampf schnürte ihr das Herz zu; mit übermenschlicher Kraft suchte sie ihre Selbstbeherrschung zu gewinnen.

»Hendrik, Blut für Blut, Leben für Leben erscheint dem Mann als höchste Sühne. Die Frau weiß, daß es eine noch höhere giebt.« Sie tastete im Dunkel nach seinen Händen und ergriff sie fest. »Hendrik, wenn ich und du allein wären, hätte ich dich schon damals das thun lassen, was du vorhattest. Und nun, nun, wo ich erkenne, daß wir nicht beieinander bleiben können, nun würde ich dir selbst die Waffe in die Hand drücken, von der du Erlösung hoffst.[280] Aber ich habe ein Kind, ein Kind, Hendrik, das in dir seinen Gott sieht. Um seinetwillen habe ich dir damals gesagt: du mußt leben! und um seinetwillen sag' ich dir jetzt: du darfst nicht sterben! du darfst seinen Glauben an dich nicht wankend machen. Du sollst als sein Schutzgeist in seiner Erinnerung stehen. In späteren Jahren, wenn die rauhe Wirklichkeit des Lebens viele schöne Hoffnungen, viel schönes, glückseliges Wähnen in ihm erstickt haben wird, dann soll deine Gestalt über allen Enttäuschungen seines Lebens licht und groß vor ihm stehen, als sein Hort und seine Zufluchtsstätte.«

»Kyrilla!«

Sie zog seinen Kopf zu sich herab. »Du weißt nicht, was es heißt, jemand, den man hoch hielt, plötzlich nicht mehr dort zu erblicken, wo man ihn ehedem sah. Das ist namenlos leidvoll, Hendrik, viel ärger als die Trennung, die der Tod bringt. Viel, viel ärger, Hendrik. So habe ich dich verloren geglaubt, aber durch das Herz meines Kindes dich wieder gefunden. Die Hoffnung, daß du seinen Glauben und den meinigen rechtfertigst, trägt dich mir wieder zurück auf den Gipfel, auf dem du einst für mich standest. Geh ins Leben hinaus und vergiß das Gestern und Heute; erbaue dir mit starken Händen ein neues Morgen.«

»Das heißt, ich soll mich lebendig begraben lassen, fern von dir, unter der Wucht all der[281] schrecklichen Erinnerungen weiter existieren? Ist das möglich? Kann das sein? Das!«

»Hendrik!« flüsterte sie beschwörend. Ein Schauer erschütterte seinen Körper. Er kämpfte einige Augen blicke mit sich, dann sagte er tonlos: »Sei's denn, weil – du es über mich verhängst.«

»Nein, Hendrik, nein, nicht deshalb allein. Später, wenn Ruhe über dich gekommen sein wird, wirst du einsehen, daß sich schlafen legen, wenn man die Sonne untergegangen glaubt, kein Heldenstück ist. Aber die träge Finsternis zum arbeitsheißen, hellen Tag machen, in die Öde kraftvolles Wirken tragen, Segen für andere dem Dunkel in sich abringen, das ist Mut.«

»Kyrilla, verurteilst du mich wirklich zu dem – fast übermenschlich Schweren?« Ein Stöhnen drang aus seiner Brust. »So geh' ich denn in die Verbannung.«

Er zog ihre Hände an sein Gesicht, an seine Augen, die in diesem Augenblick wie zwei im Finstern zitternde Kinder zu weinen begannen....

Sie strich milde über sein Antlitz, über das geliebte Haar, dann sank ihre Hand schlaff herab.

Sie vernahm einen geflüsterten Laut, ein Lebewohl, Schritte, die sich entfernten ... Sie glaubte umsinken zu müssen, aber etwas, das sie noch nie gefühlt hatte, das außer ihr lag, eine Kraft, eine treibende Gewalt, hielt sie aufrecht und trug sie weiter. Sie spürte ihre Glieder nicht. Jener Zustand der Betäubung,[282] wie ihn der Mensch empfindet, der sich die Adern geöffnet hat und langsam sein Herzblut verströmt, überkam sie.

Wie ein Traum erschien es ihr, als sie ihre Treppe emporschritt, langsam, langsam, die Stufen wollten kein Ende nehmen. Dann verließ sie das Bewußtsein ...


– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Mama, Mama, so erwach' doch! Mein seliger Schatz, so erwach' doch! So lange hast du noch nie geschlafen. Ich bin schon aus der Schule zurück.« Bela neigte sich ungeduldig über sie.

Sie richtete sich aus ihrer ohnmachtähnlichen Erschöpfung auf und sah langsam um sich. Dann begann sie sich anzuziehen.

»So rede doch, so rede doch! Wo ist er denn, sie suchen ihn überall. Denk' dir –« das Kind unterdrückte ein Schluchzen, »Kincs ist so krank. Er thut, als ob er sterben wollte, sie wissen gar nicht, was sie anfangen sollen. Wo ist er denn, er wird ihm helfen.«

»Er ist –« sie winkte Bela zu sich. »Ich kann nicht laut reden, mir ist so schwer auf der Brust. Er ist – er hat abreisen müssen ...«

»Abreisen, abreisen? Und wann kommt er denn wieder?«

»Das weiß ich nicht.«

»Gerade jetzt abreisen! Er hätte Kincs sicher geholfen. Der arme Kincs! Nun wird er sterben müssen ...«

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 275-283.
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