V

[43] »Hörst du die Vögel singen, Marie Therese?«

»Vögel singen? Nein.«

»Aber es klingt doch um uns.«

»Es ist ferne Musik, aus irgend einem Garten her.«

»Du hast recht. Jetzt hör' ich's auch.«

»Wie könnten auch Vögel singen, jetzt im Herbst?«

»O, heute wäre alles möglich! Nicht wahr, du wirst recht oft weiße Kleider tragen? Weiß steht dir so schön. Was ist denn eigentlich heute für ein Wochentag.«

»Sonnabend.«

»Morgen Sonntag. Unser erster gemeinschaftlicher Sonntag.«

»Das Zimmer ist entzückend. Möbel und Tapeten grau. Ich liebe grau so sehr. Es ist schweigsam und läßt einen denken.«

»Ich wußte, daß du es liebst.«

»Und das Eßzimmer braunes Leder. Und die andern –«[43]

»Hast du dir sie denn schon genauer angesehen? Du liefst nur durch, ohne nach rechts oder links zu blicken.«

»Ich bin so müde. Dieses langweilige Mahl im Hotel.«

»Ich konnte es nicht umgehen –«

»Diese Gäste alle!« Sie gähnte. »Was das schönste ist: daß die Wohnung in der Vorstadt liegt und lauter Gärten ringsum sind. Glaubst du, daß Friederike schon schläft?«

»Gewiß. Ich hab' sie sofort, als wir aus dem Hotel kamen und sie dir behilflich sein wollte, auf ihre Mansarde geschickt.«

»Ich bin dir dankbar dafür. Sie hatte so dumme, neugierige Augen.«

»Jetzt ist die Musik verstummt.«

»Wie heißt der Stil, in dem dieses Zimmer eingerichtet ist?«

»Es ist kein bestimmter Stil. Meist Phantasie mit etwas Anlehnung an deutsche Renaissance.«

»So!«

»Du bist müde.«

»Recht müde.«

»Willst du –«

»Ach nein, es ist so schön hier. Es riecht nach Pfingsten.«

»Das kommt von den Blumen dort in der Ecke.«

»Wo steht die Uhr, die eben schlug?«

»Nebenan im Eßzimmer.«[44]

»Ein wundervoller Ton.«

»Nicht wahr? Sie soll nach einem ganz alten Modell gearbeitet sein.«

»Leonhart!«

»Liebe!«

»Du bist sehr gut!«

»Und wenn du wüßtest, was du bist.«

»Nun?«

»Darf ich dir das Haar lösen?«

»Bitte!«

»Wie herrlich! Marie Therese, Marie Therese! Ist's möglich, dieses Gold alles mein?«

»Ganz dein!«

»Es duftet wie Heidekraut, auf das die Sonne scheint. Es fühlt sich an wie junges Flachsgespinst, auf dem die küssenden Lippen der Erde noch ruhen. O du Selige!«

»Du Heide! Du betest ein Menschengebilde an!«

»Darf ich so vor dir knien? Darf ich die Augen schließen?«

»Schließe sie und sei ganz still, wenn du willst. Hast du mich geküßt, oder hat ein Falter meine Lippen berührt?«

»Der Falter war ich.«

»Hat die Uhr geschlagen, oder träumte ich?«

»Du träumtest.«

»Ich bin so müde.«

»Willst du nicht schlafen gehen?«[45]

»Nein, ich bin zu träg', um mich zu erheben. Laß uns hier sitzen bleiben. Die Wirklichkeit zerrinnt in blaue Schatten vor mir ...«

»Marie Therese, lehne deinen Kopf an meine Schulter. So. Nein, Kind, du sinkst ja um. Komm zu Bett.«

»Aber du mußt Licht anzünden, sonst – ich finde mich nicht zurecht.«

»Ich führe dich.«

»Licht!«

»Hier!«

»O, wie schmerzt die Flamme!«

»Du wolltest doch – komm, stütz' dich auf mich.«

»Ach, das ist – was ist das?«

»Dein Ankleidezimmer.«

»Und hier?«

»Ich will die Ampel anzünden, ihr Licht ist gedämpfter. Aber was hast du?«

»Das das Schlafzimmer?«

»Marie Therese!«

»Pfui.«

»Hör' mich! Es ist nicht –«

»Du Armer, ich hab' dich gekränkt!«

»Es ist nicht mein Werk. Meine alte Freundin hat es so angeordnet, und ich wollte mich nicht hinein mischen. Man wird es morgen umstellen. Oder das kleine Zimmerchen nebenan für dich – Marie Therese, was thust du? Du auf den Knien vor mir! Komm, komm an meine[46] Brust! Komm, meine arme Taube! Ich will dir etwas sagen. Ruh' dich hier aus, ich geh' nach vorn. Ich bin nicht müd', und der Tag muß bald anbrechen.«

»Die Zähne schlagen dir wie im Fieber zusammen. Leonhart, ist dir schlecht?«

»Gut, wie noch nie.«

»Laß mich hier nicht allein.«

»So geh mit.«

»Und nun sitzen wir wieder Hand in Hand auf dem lieben, guten Sofa –«

»Wein' mir nicht so, hörst du!«

»Auf dem lieben, guten Sofa –«

»Schläfst du? Marie Therese, schläfst du? Schläfst du, Kind, oder – Verlorene? ...«[47]

Quelle:
Maria Janitschek: Frauenkraft. Berlin 1900, S. 43-48.
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