Also das war ihr Zimmer. Sie streifte die Handschuhe ab und sah sich um. Das eiserne Bett, der Schrank aus weichem gestrichenen Holz, die fleckige Tischdecke, das in der Mitte eingesessene Sofa machten keinen besonders freundlichen Eindruck. Aber das Ärgste, nein, das konnte sie nicht sehen.
»Fräulein!«
»Jawoll.«
»Sagen Sie, müssen diese Öldrucke da hängen?«
»Die Bilder? I Jott bewahre! Wenn die gnä Frau schönere hat, können wir die da wechnehmen.«
»Schönere? Ich führe keine Bilder bei mir. Ich habe ja ein möbliertes Zimmer gemietet, aber diese grellen Gemälde schmerzen meine Augen.«
»Wollen se fortnehmen. Nachdem, wenn die gnä Frau zum Essen jehn, denn et wird Staub jeben. Die Bilder hängen schon manchet Jahr da. Den Herrn Mietern haben se immer jefalln.«[7]
»Ich danke Ihnen. Wasser ist in der Kanne, nicht wahr?«
Die junge Frau neigte sich über den Waschtisch.
»Det will ick meenen, dat Wasser drinne is: wenn man von de Reise kommt, det weeß ick schon. Habn Se sonst noch 'n Wunsch?«
Das fahle Gesicht des Dienstmädchens sah mit impertinentem Lächeln auf die junge Dame. »Sonst nischt, denn ziehe ick mir zurück.«
Die Thüre fiel ins Schloß.
Draußen drehte die Magd die Visitenkarte der Dame zwischen den Fingern. ›Hildegard Wallner. Also die soll an de Dhüre kommen? Na meintswejen. Een besonderer Name is det nich. Un nich 'mal Frau steht druf. Nu, man weeß ja ooch nich. –‹ Sie heftete das Kärtchen mit vier kleinen Nägeln an die Korridorthüre. Während dessen tauchte Frau Hildegard ihr Gesicht in die Waschschüssel und wunderte sich, daß man ihr warmes Wasser gebracht hatte. Nach einer Weile steckte sie den Kopf durch die Thür.
»Fräulein.«
»Jawoll.«
»Könnt ich nicht etwas kaltes Wasser haben?«
»Habn Se ja schon.«
»Wie? Ich meine ganz kaltes, von der Leitung.«
»Haben Se ja schon, Frau Wallnerchen, haben Se[8] ja schon. Bei uns is det det kältste Wasser. Sonst müssen Se sich von'n Konditer Eis holen lassen.«
Frau Hildegards Lippen verzogen sich leicht.
»Danke.«
Sie zog den Kopf wieder herein, trocknete sich das Gesicht, kämmte ihr schönes dunkelbraunes Haar, und schlüpfte in ihr Kleid.
Dann ließ sie sich auf das Sofa nieder und stützte den Kopf in die Hand.
Nun, so arg war es ja wohl nicht, wie es im ersten Augenblick erschien.
Natürlich, sie war ihre Kleinstadt gewöhnt mit der schneeweißen Sauberkeit und dem kalten Quellwasser. Dafür hatte sie ja jetzt ein anderes Gut eingetauscht, ein Gut, nach dem sie lange geschmachtet: die Freiheit. Was lag an all den Nebenumständen, die vielleicht jetzt ungünstiger als früher wurden?
Sie würde nun sicher zufrieden werden, besonders wenn sie erst eine Beschäftigung gefunden hatte. Wer, der jahrelang in einer unglücklichen Ehe geseufzt, wird nicht den ersten Tag, da er sich frei weiß, einen glücklichen nennen?
Wenn man bloß denken, Einiges noch überlegen könnte; aber der Lärm, der von der Straße heraufdrang, war zu toll. Sie schloß das Fenster.
Ob das immer und ewig so forttollte? oder[9] ob heute ein besonderer Tag war, Markttag, oder so etwas?
Sie mußte über sich selbst lachen. Hatte sie sich doch wieder in ihre kleinstädtischen Verhältnisse zurückversetzt. Hier in der Millionenstadt war vermutlich jeder Tag ein Markttag. Sie versank in Gedanken; dann trat sie zum Fenster, um es zu öffnen. Die Luft hier war gar zu erstickend. Wonach roch es nur eigentlich? Sie grübelte eine zeitlang; dann entschloß sie sich auszugehen – irgendwohin zum Mittagessen. Es war ein Uhr, die Stunde in der sie auch zu Hause gespeist hatten. Sie zog das Jaquet an, setzte das Hütchen auf, das sie sorgfältig einer Pappschachtel entnommen hatte, und ging hinaus. Draußen im Vorzimmer am Fenster saß das Mädchen und las. Es war ein Leihbibliotheksband, über und über von Fettflecken bedeckt. Die Lesende ließ ihn langsam in ihren Schooß gleiten.
»Juten Apptit, Se jehn woll frühstücken?«
»Nein, ich gehe zum Mittagsbrod; wo kann man hier essen?«
»Wo? In'n Franziskaner, jleich um de Ecke links. Eene Mark det Kuvert.«
»So, das wäre nicht zu teuer; kann eine Dame auch allein hingehen?«
»Det will ick meenen. Ick zum Beispiel dhus ooch.[10] Freilein Schulze jiebt mich Speisejeld, da jeh ick jedn Mittag los.«
»Essen auch Sie beim Franziskaner?«
»Nee, ick jeh zur Lachmuskel. Hintn im Hof is eene famose Stube; in de vorn jelegene jeh ick nich, weils da dheurer is.«
»Weshalb kochen Sie nicht zu Hause?«
»I wo denken Se hin? Bei den weiten Weg, den Freilein Schulze int Jeschäft hat. Un für mir alleene kochen, nee, det wär nischt.«
Hildegard schüttelte den Kopf.
»Die Thüre da drüben führt wohl zu Fräulein Schulzes Zimmer?«
»Ja det thut se.«
»Und wo schlafen Sie?«
»Hier uf 'm Sofa.«
Das Vorzimmer war eng, aber anständig möbliert; Sofa, Tisch, und einige Stühle bildeten seine Einrichtung. Am Fenster befand sich ein Nähtisch. In einer Ecke stand ein Kleiderrechen, daneben ein Reisekorb.
»Viel Licht haben Sie hier nicht.«
Hildegard sah in den engen Schacht hinab, der den Hof vorstellte.
»Brauch ick ooch nich; dafor jiebts Lampen.«
Ob die Dienstmädchen hier alle so impertinent waren? Frau Wallner maß mit leichtem Stirnrunzeln[11] die Magd. Es schien ihr, als habe sie noch nie ein so häßliches Gesicht gesehen. Um den breiten Mund gegen das Kinn hin befand sich eine Menge kleiner Warzen und erinnerte an die Haut der Kröten. Die Nase glich einem birnförmigen Fleischklumpen; die Augen stachen zwischen weißlich blonden Wimpern klein und tückisch hervor. Unendlich spärliches semmelfarbenes Haar umgab die niedere Stirn.
Armes Geschöpf, dachte die schöne junge Frau; dann sagte sie mit freundlicherer Stimme als vorher:
»Wie soll ich Sie rufen? ›Fräulein‹, ist auf die Dauer doch zu langweilig.«
»Find ick nich. Ick heeße Anna Niehm. Aber ick höret lieber, wenn Se mir bloß Freilein rufen.«
Hildegards Wangen röteten sich leicht; dann wandte sie sich zum Ausgang.
»Richtig, der Schlüssel. Ich habe noch keinen Korridorschlüssel.«
Die Magd erhob sich träg und langte von dem Bordbrett neben dem Sofa einen Schlüssel herab.
Hildegard ging vorsichtig die steile enge Wendeltreppe hinab. Unten blieb sie einen Augenblick stehn, um sich das Haus näher zu betrachten. Es war ein ganz schmaler, alter, spitz zulaufender Bau, vielleicht eines der ältesten Häuser Berlins. Das höchst gelegene Fenster, dort bald unterm Giebel, war das ihre.[12]
Als sie, noch von Konstanz aus, hier in einer Tageszeitung ihr Wohnungsgesuch einrücken ließ, hatte sie ein besseres Resultat ihres Suchens erwartet. Sie hatte aus einem Wust angebotener möblierter Zimmer gerade dieses hier gewählt, weil die Straße, in der es sich befand, Unter den Linden hieß, und sie sich unter dieser Straße Herrliches vorstellte. Nun, vielleicht würde sie sich auch hier einleben. Fräulein Schulze, die Wohnungsinhaberin kam immer erst abends nach Hause. Sie war von neun Uhr morgens an in einem Geschäfte. Hildegard würde heute Abend mit ihr sprechen. Hoffentlich war sie anmutiger als ihre Dienerin.
Das Mittagessen beim »Franziskaner« verlief überaus peinlich für Frau Wallner. Man starrte sie an; sie errötete, geriet in Verlegenheit und gab so Veranlassung, daß man sich über sie lustig machte und sie noch mehr anstarrte. Nach dem Essen unternahm sie einen Spaziergang, verirrte sich natürlich, mußte in eine Droschke steigen, und kam schließlich gegen Abend heim. Sie war todmüde geworden, warf sich auf das Sofa und schlief ein. Ein starkes Klopfen an der Thür erweckte sie. Eine Dame trat herein.
»Verzeihen Sie, daß ich den Schlüssel als Klopfer benutzt habe. Aber wenn man nicht mit etwas Derberem als dem Finger anpocht, hört mans hier innen nicht.«
Hildegard, noch ganz verschlafen, lächelte.[13]
»Fräulein Schulze, nichtwahr? O bitte setzen Sie sich.« Sie zog die Andere neben sich auf das Sofa.
»Na, ich wünschte bloß, daß es Ihnen bei mir gefällt. Ich habe immer vornehme Mieter gehabt. Es ist sehr ruhig hier; ich bin den ganzen Tag nicht zu Hause.«
»Das thut mir leid,« meinte Hildegard, ihre Hausfrau von der Seite betrachtend, »ich hätte Sie gerne um allerlei gefragt, mir Ihren Rat erbeten.«
»Das können Sie ja, liebes Frauchen.« Das gutmütige, volle, stark gepuderte Gesicht der Vermieterin verzog sich zu einem freundlichen Lächeln. »Ich komme jeden Abend gegen elf Uhr nach Hause. Da können wir nachher immer noch ein Weilchen plaudern.«
»So spät erst« meinte Hildegard.
Das Fräulein zupfte sich die leicht angegrauten blonden Löckchen in die Stirn.
»Das nennen Sie spät? Aber ich bitte Sie, das ist ja ganz zeitig. Um acht Uhr schließen wir das Geschäft, dann gehe ich mit Bekannten soupieren. Dann – übrigens wie ists denn, haben Sie gar Niemand hier in Berlin?«
Frau Wallner schüttelte den Kopf. »Keinen Menschen.«
»Das ist traurig, aber – Sie werden mehr Bekanntschaften machen, als Ihnen angenehm ist.«[14]
»Wieso?« fragte Hildegard etwas brüsk. »Ich bin hierhergekommen, um mir eine Stellung zu suchen, nicht um mich zu unterhalten.«
»Sie sind von Ihrem Mann geschieden, wie mir Ihr Brief andeutete.«
»Getrennt.« Hildegards Wangen färbten sich purpurn. »Und ich wünschte schnell irgend eine Beschäftigung zu finden?«
»Hm.« Fräulein Schulze betrachtete die hübsche junge Frau. »Als was möchten Sie denn angestellt werden?«
»Als was? Ach, vielleicht als Sekretärin oder so. Ich weiß selbst nicht. Ich spreche französisch und englisch.«
»Verstehen Sie die Buchführung?«
»Nein.«
»In ein Geschäft möchten Sie nicht.«
»In ein Geschäft? Nein.«
Hildegards Augen drückten Befremden aus.
»Na ich meinte nur –« Fräulein Schulze lächelte ein wenig. »Wenn man ein einträgliches Auskommen sucht –«
»Ich habe immer gehört und gelesen, daß in Geschäften angestellte Damen sehr schlechte Bezahlung erhalten.«
»Das trifft nicht überall zu. Ich beziehe zum Beispiel eine jährliche Einnahme von zweitausend Mark. Das ist doch nicht übel, wie?«
»Wahrhaftig?« rief Hildegard verwundert, »Zweitausend[15] Mark, das ist eine hübsche Summe. Haben Sie sehr viel zu leisten?«
»Ach es geht. Die Schneiderinnen zu beaufsichtigen, einige unserer ältesten Kunden bedienen, und so weiter.«
»Ich möchte am liebsten studieren,« meinte Frau Wallner, »aber ich bin wohl zu alt dazu; auch besitze ich zu wenig Mittel, um mich etliche Jahre über Wasser halten zu können – und so lange dauerts wohl, bis man sich als Rechtsanwalt oder Doctor medicinae Geld verdient.«
»Ja freilich, freilich,« sagte das Fräulein, »so lange dauerts schon. Ich habe auch einmal so hohe Träume gehabt, aber – na, man wird bescheidener.«
Sie stand auf und drückte Hildegards Hand. »Für heute gute Nacht, Frau Wallner. Ich laß Sie ausschlafen. Morgen Abend erzählen Sie mir mehr, wenn Sie Lust haben.« Sie entfernte sich grüßend.
Sie ist nicht hübsch aber sympathisch, dachte Hildegard.
Da steckte die Andere den Kopf zur Thür herein. »Wie ists mit dem Frühstück? Nehmen Sie es hier oder außerhalb?«
Hildegard dachte an das Gesicht der Magd. »Außerhalb,« sagte sie.
»Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«[16]
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro