[83] Abends war sie eine der Ersten, die im Saale der tagenden Frauen erschien.
Eine Reihe von Stühlen stand auf dem Podium. Der Tisch war von Manuskripten und Büchern bedeckt. Gegen acht Uhr fanden sich einige Damen ein, denen im letzten Augenblick vor dem angesetzten Beginn der große Strom derer folgte, die Interesse für ihre »Sache« hatten. Hildegard spähte nach Bekannten, konnte aber die einzelnen Köpfe in dem großen Gewühl des nicht sehr glänzend beleuchteten Saals schwer erkennen. Die erste Bekannte, die sie entdeckte war Frau von Werdern, die in einem langen schwarzen Seidenkleide das Podium bestieg. Ihr folgten einige Damen, die Hildegard fremd waren. Während sie nach vorn blickte, legte sich eine Hand auf ihre Schulter.
»Gnädige Frau, hier ein Programm.« Fräulein Frett in ihrer blonden Länge stand neben Hildegard und reichte ihr ein bedrucktes Blatt. »Ich werde heute[83] Abend als Laufbursche verwendet, wie Sie sehen, aber was thut man nicht aus Liebe zur Sache!«
Sie verschwand Programme austeilend im Gedränge. Hildegard überflog den Zettel. Fünf Frauen und drei Fräulein sollten sprechen. Jetzt war es acht Uhr. Bis zehn Uhr sollten die Vorträge beendet sein. Da ertönte das Klingelzeichen der Vorsitzenden und gleichzeitig begann Frau von Werdern sich leicht verneigend:
»Meine verehrten Gesinnungsgenossinnen! ich habe das Vergnügen, Sie hier zu begrüßen, und zwar eine zahlreiche Menge von Ihnen. Alle die hier versammelt sind, sind – gehören – zählen, ich meine bilden unsere Freunde. Nichtwahr? Wir alle wissen, daß unsere Lage ernst ist, daß kein Monat, ja was sage ich, keine Woche, kein Tag verstreichen sollte, ohne daß wir, daß wir – daß wir, daß wir, ich meine ohne daß wir Zeichen unserer Gesinnung, unserer Ansprüche, unseres Wollens nach außen hin geben. Zu diesem Zwecke hat sich auch heute wieder diese Versammlung gebildet. Einige hochbegabte Frauen, die wir alle kennen und verehren –« die Sprecherin wandte sich etwas zur Seite, wo die Rednerinnen sich indessen eingefunden und Platz genommen hatten – »wollen ihre Ansichten über – über – über den – das – über die unwürdige Stellung der Frau im neunzehnten Jahrhundert äußern. Ich erteile Frau Samrosch das Wort.«[84]
Die Präsidentin verneigte sich, und eine andere Dame trat vor. Aber sie konnte noch nicht beginnen. Der brausende Jubel, der der Rede der Vorsitzenden folgte, übertönte minutenlang jedes Wort. Erst gemach legte sich das stürmische Klatschen. Hildegard blickte etwas enttäuscht zu Frau von Werdern. Der stockende Vortrag mit einer Winselstimme gesprochen, die Hildegard nie bei ihr vermutet hätte – im Salon sprach sie leise – hatte ihr nicht gefallen. Frau Samrosch besaß ein besseres Organ; auch las sie ihre Rede brav vom Blatt ab, was das peinliche Stocken verhinderte.
Es kamen hochtönende Worte vor, wie: Gewaltsames Vorgehen, wenns friedlich nicht ginge, sich das Ziel erstürmen, Angriff auf die »Unterdrücker« der einen Hälfte der Menschheit, Krieg dem Vorurteil, mögen auch so und so viel alte Traditionen zusammenkrachen dabei.
Und all diese wilden leidenschaftlichen Tiraden wurden von einer sanften hohen Sopranstimme vorgelesen. Hildegard lächelte. Es ist reizend, dachte sie.
Knixend zog sich auch diese Rednerin zurück, der ebenfalls stürmischer Beifall folgte.
Fräulein Buturund trat vor. Wenn sie nur größer wäre und nicht einen so hübschen Lockenkopf hätte, dachte Hildegard. Der glaubt doch kein Mensch die »Unterdrückung«. Aber da hatte sie sich in der Harmlosigkeit des blonden Lockenkopfs geirrt.[85]
Mit mächtiger Baßstimme begann die Rednerin: »Dort rückwärts seh ich einige Männer stehn –« sofort flogen mehrere hundert Köpfe zurück – »ja es ist das Beste, verbergt euch!« Hildegard bedauerte die Männer, denen bei dieser unerwarteten Anrede wol die Kniee schlottern machten. »Verbergt euch! Wozu seid ihr anwesend? Um Einheit von uns zu lernen? Um Mut von uns zu borgen? Etwa um Einkehr in euch selbst zu halten?« Ein schmetterndes Lachen aus dem Munde eines der Angegriffenen machte die Rednerin einen Augenblick stutzig; aber gleich darauf fuhr sie weiter fort: »Die Physiologie lehrt uns, daß nicht die Quantität, sondern die Qualität des Gehirns bei der Intelligenz eines Geschöpfes den Ausschlag giebt. Meine Damen! Sie alle wissen, daß unser Gehirn viel kompliziertere und feinere Windungen und Nerven hat, als das der Männer. Lassen wir ihnen den Stolz auf ihre größere Hutweite. Die Wasserköpfe sind die am mächtigsten gebauten.« – »Bravo!« tönte es wieder von rückwärts. Die Rednerin schleuderte einen verachtungsvollen Blick zurück; dann entwickelte sie weiter, daß die Zeit der Umwälzungen auf allen Gebieten gekommen wäre – auch auf den rein menschlichen. Die Frau hätte Jahrtausende lang geschwiegen und im Stillen Kräfte gesammelt. Der Mann hätte sich inzwischen »ausgegeben«. Er befände sich in der Rückbildung. Die Zeit der Herrschaft des[86] Weibes sei angebrochen. Das sei klar wie das Einmaleins. Fräulein Buturund sprach anderthalb Stunden lang mit unvermindeter Kraft. Als sie schloß, durchbrauste frenetischer Jubel den Saal. Sie mußte sich unzählige Male verbeugen und schien nicht übel Lust zu haben, noch einmal von vorne zu beginnen. Nur das schnelle Hervortreten ihrer »Nachrednerin«, einer älteren Dame, die die Redelustige herausfordernd maß, hinderte sie daran.
»Geehrte Gesellschaft« begann Frau Sanghausen, und dann noch dreimal: »Geehrte Gesellschaft«, denn man jubelte noch immer fort, ohne auf sie zu hören. »Es ist eine schöne Sache um den Mut, aber eine noch schönere um die – Klugheit. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: meine gefeierte Vorrednerin scheint mir doch zu weit in ihren Auseinandersetzungen gegangen zu sein. Muß man denn stürzen, um frisch zu bauen? Nein, nein, und abermals: nein! Wir leben in dem Zeitalter des Friedens, wir verabscheuen den Krieg. Wir wollen kein Blut vergießen. Lassen wir den Männern ihre Daseinsberechtigung. Seien wir großmütig! Aber« – hier erhob die Rednerin ihre Stimme lauter, »nur unter der Bedingung, daß sie auch uns anerkennen! Daß sie in uns Gleichwertige, Gleichberechtigte erblicken. Wir wollen nicht auf sie herabsehen, aber wir wollen auch nicht hinaufblicken zu[87] ihnen.« (Minutenlanges Bravo.) »Schulter an Schulter wollten wir mit ihnen gehen. Dann wird das goldene Zeitalter seine Auferstehung feiern und aus dem letzten Rest der abgestreiften Sklavenkette wird sich ein Ring gestalten, ein goldener Reifen: der Ehering des Friedens und der Gerechtigkeit.«
»Das war die schönste Rede« rief später ein junges Mädchen hinter Hildegard und wischte sich die Augen.
Eine üppige Brünette trat vor und lächelte freundlich ins Publikum.
»Meine Lieben, die ihr da versammelt seid, ich –« Hildegard suchte auf dem Programm den Namen der Dame. Tinni Froßen: Uber einen unbeachteten Gesichtspunkt. – »Ich« begann die Vortragende, »schließe mich keiner meiner Vorrednerinnen an. Nicht über den Männern, nicht unter den Männern, jenseits der Männer ist mein Bekenntnis. Mögen sie von uns halten, was sie wollen, es schadet uns nicht. Mögen sie uns nur Eins lassen: die Freiheit, zu thun, was wir wollen. Keine Kontrolle unserer Thaten, ihr Herren! Auch wir wollen unsere Klubhäuser, unseren Sport, unsere kleinen Geheimnisse. Vor allem: wir wollen unserem eigenen Geschmack folgen. Wir haben schon so vieles regeneriert, nun wollen wir an das Allerwichtigste herantreten, an das, wovon unsere Gesundheit abhängt: an die Toilette. Meine Damen, fort mit dem[88] Korsett, fort mit dem langen Kleide. Das Beinkleid sei unser Motto. Denken Sie, wie viel Geld, Zeit und – Staub werden wir uns ersparen, wenn wir dem Männerschneider anstatt der launenhaften Modistin unsere Treue schenken.« Die Rednerin entwarf nun mit lebendiger Phantasie ein Bild von der Zukunftshose. – Nach Frau Froßen sprach noch eine Dame über dasselbe Thema. Die andern Damen, die sich noch zum Wort meldeten, wurden von Frau von Werdern für den nächsten Vortragsabend vertröstet. Für heute wäre es zu spät. Die Vorsitzende dankte dann noch in etlichen gefühlvollen Worten den lieben Gesinnungsgenossinnen für ihre Aufmerksamkeit und schloß die Versammlung.
»War es nicht amüsant?« fragte Elvira Kampfmann, indem sie an Hildegard herantrat.
»Amüsant? Ja.«
Die junge Frau, die mit ihrer Bekannten dem Ausgang zustrebte, betrachtete die Gesichter der Anwesenden. Alle strahlten, alle waren gerötet.
Eine freundliche Heiterkeit lag auf allen. Hildegard hörte zwei Worte um sich schwirren: Hose oder Rock! Darüber unterhielt man sich lebhaft. Im Hausflur war ein so großes Gedränge, daß man nur schwer vorwärts konnte. Vor Hildegard befanden sich zwei Damen.
»Die kompleteste Narrenkomödie« sagte die Eine mit absichtlich lauter Stimme. »Lauter Phrasen ohne[89] Wert. Stroh, das schon hundertmal gedroschen worden ist. Zuletzt sind sie natürlich auf die Kleider zu sprechen gekommen, wie kleine puppenspielende Backfische.« Hildegard stieß Elivra an. »Wer ist die Dame?«
Anstatt der Antwort sagte Fräulein Kampfmann laut: »Der Fehler ist, daß Krethi und Plethi nicht hereingelassen werden dürften. Ich habe schon einmal darum plädiert. Nun, es kommt hoffentlich auch bald dazu. Bei uns riechts weder nach Knaster, noch nach Schweiß. Wie sollte sich der Bebel da wol fühlen können?«
Die Umstehenden, die Elviras Bemerkung gehört hatten, brachen in schallendes Gelächter aus. Draußen auf der Straße sagte sie zu Hildegard:
»Das waren zwei wütende Sozialdemokratinnen. Sie schleichen sich immer in unsere Zusammenkünfte, um uns dann öffentlich lächerlich zu machen. Und doch sind sie die Lächerlichen. Sie haben sich von uns getrennt, weil wir ihnen zu zahm waren. Aber was kommt bei ihren Versammlungen heraus? Daß Eine oder die Andere einmal brummen muß, was sie auch mit besonderer Vorliebe thun, um den Glorienschein modernen Märtyrertums zu erhalten. Das Schönste geschah neulich. Etwa fünfhundert Frauen und etliche wenige Männer hatten sich versammelt. Frau Lippmann hielt eine brennende Rede gegen die Menschenschinder: die Fabrikanten, zu Gunsten der heiligen unterdrückten, im Schweiß ihres[90] Angesichts ringenden Arbeiter. Sie feierte die Helden vom Knaster und versprach ihnen bei einiger Geduld das Himmelreich und die – Vergeltung. Sie sagte in rührenden Worten, daß die andere Hälfte der Menschheit gemach ganz auf die Seite der Unterdrückten träte. So könne man auch in dieser Versammlung Frauen aus den ersten und allerersten Kreisen erblicken.
Während die Lippmann so gefühlvoll redet, meldet sich einer der anwesenden Männer zum Wort. Er springt aufs Podium und fällt über die Rednerin her. Hier im Saal der sozialdemokratischen Frauenversammlung brüllt er: den Frauen müsse der Kopf gewaschen werden, er, der Schneider Wachler sage das. Er hatte nämlich alles Gesprochene mißverstanden. Kanns eine bessere Illustration für den fortschrittlichen Geist des edlen verkannten Standes geben?« Hildegard lächelte schwach. Sie war totmüde. »Etwas Neues haben Sie mir da erzählt. Also die Emanzipierten schon in zwei Lager geteilt. Ich dachte ein gemeinsames Ziel mache einig.«
Dann verabschiedete sie sich von ihrer Begleiterin, ging nach Hause und begab sich zu Bette. Aber sie konnte keinen Schlaf finden. Sie hörte ununterbrochen die hohen Stimmen der Rednerinnen im Ohre, das Beifallsgeklatsche, das Gemurmel der sich ihre Bemerkungen zuraunenden Damen. Und dann dachte sie: Wozu war eigentlich diese Versammlung? Es wurde sehr viel geredet.[91] Aber hat man etwas Gutes gefördert, einen neuen Gesichtspunkt gefunden? Man hat geschimpft und getobt und immer das »Wir« ausgespielt. »Wir« wollen, »Wir« können, »Wir« streben. Das war eine Lüge. Wer ist »Wir«? Etwa die Mehrzahl der Frauen? Nein. »Wir« ist eine Handvoll anscheinend stärker mit Talenten Begabter von ihnen, die sich besondere Anerkennung verschaffen wollen. Wenn es aber nicht nur anscheinend Begabtere wären, wozu dann der ganze Aufwand von Pose und Theatralik? Zu keiner Zeit, in keinem Lande, unter keinerlei Lebensverhältnissen ist es wirklicher Begabung unmöglich gemacht worden, sich durchzusetzen. Hildegard durchflog in Gedanken die Welt- und Kulturgeschichte. Immer sah man, wie das starke Talent sich den Boden eroberte, den es zu seiner Entwicklung bedurfte. Denn das starke Talent besitzt den Mut zur Einsamkeit, zum Alleingehen. Das braucht weder Hinternoch Vordermänner. Es sagt nicht »Wir« sondern: »Ich«.
Würden sich einer wirklich groß veranlagten Malerin nicht die Thüren aller Akademien öffnen? Würden einer weiblichen Rechtsgelehrten, die nicht nur das Gewerbsmäßige ihres Berufes, den gedruckten Paragraphen in den gedruckten Gesetzbüchern erfaßt, sondern auch die Kunst des Denkens und geistigen Besitzergreifens einer Idee versteht, die Pforten der Gerichtssäle verschlossen bleiben? Mittelmäßige Begabung ist kein Anlaß, um[92] den Frauen bevorzugte Plätze in der Arena des Lebenskampfes einzuräumen, es giebt schon mittelmäßige Männer genug. Wozu also das Geschrei? Um des Geschreis willen. Hose oder Rock? Es lebe die Abwechslung und der Männerschneider!
Hildegard schlief ein.[93]
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