[40] Diese Nacht wars besser gegangen.
Der dunkle Bettvorhang hatte sich nicht geregt. Einmal hatte sie wohl vermeint, das leise Knarren einer Thüre zu hören, aber das durfte in einem so großen Hause mit vielen Mietern nicht wundern.
Am Morgen sah sie lange in den feuchten Schacht hinab, der den Hof vorstellte. Die Fenster aller Korridore des Hauses mündeten hinein. Wenn nur die häßlichen langen Leitern nicht in der einen Ecke gestanden hätten!
Sie zog schauernd den Kopf zurück. Lieber nicht hinsehen. Sie konnte die Vorstellung nicht loswerden, daß in diesem Hause etwas Unheimliches vorging. Als sie das Fenster schloß, erblickte sie drüben ein fahles Gesicht. Gott bewahre mich, dachte sie, diese Magd wird mich noch durch ihre Häßlichkeit verrückt machen. Und schnell zog sie sich an und ging fort.
Sie frühstückte und machte dann einen längeren[40] Spaziergang. Jetzt, da sie frischen Mut gefaßt hatte, gefiel ihr die Stadt, gefielen ihr die Menschen besser. Bloß das ewige Angestarrtwerden war ihr widerlich. Im Innern wunderte sie sich über sich selbst. Wie kams eigentlich, daß sie, die stolzeste Befürworterin der Frauenfreiheit, unter den Blicken wildfremder sie fixierender Männer in Verlegenheit geriet? daß sie wie närrisch zu laufen begann, wenn es ihr schien, als verfolgten sie die Schritte eines Bewunderers? Stand sie denn nicht über all diesen Äußerungen einer braven Kleinbürgerin? Sie, die kühne Verächterin des anderen Geschlechts? Indem sie sich diese Fragen vorlegte, erkannte sie gemach, daß sie nichts weniger als selbstbewußt, mutig, sich selbst genügend war. Im Gegenteil. Sie mußte sich gestehen, daß sie eine größere Philisterin sei als die Frauen, die ruhig an ihrem häuslichen Herde walteten. Die hatten nämlich ein breites unaufgeschrecktes Gewissen, und wenn sich ihnen ein Galanter näherte, konnten sie ihm im Gefühl ihrer unantastbaren Würde ruhig ins Gesicht lachen. Was aber hatte sie der Kühnheit der Männer entgegenzusetzen? Ihre Persönlichkeit? Ihren Willen? Aber die ließen sie aus Angst vor der bloßen Zumutung eines Unrechts schmählich im Stiche. Wie kams nur, daß eine Frau allein – Thaten sich die Damen der Frauenbefreiung deshalb auch immer in Rudeln zusammen, weil sie das Alleingehen, -Stehen, -Handeln fürchteten?[41] Mit Vor- und Nachtrab war es sicherer, für eine Idee zu kämpfen.
Hildegard lief unter den Bäumen des Tiergartens dahin, als ihr diese Gedanken kamen. Jetzt, wo sie keinen Haushalt zu versorgen hatte, und nicht mehr das stumme Gesicht ihres Mannes vor sich sah, das so laut redete, wo keine Freundinnen ihr die Zeit zu stehlen kamen, mußte sie notwendigerweise auf allerlei Ideen kommen, die ihr früher ferne gelegen hatten. Ihre hauptsächliche Sehnsucht ging jetzt dahin, eine Gesinnungsgenossin zu finden, mit der sie zusammen wohnen konnte, um des trübseligen Alleinstehens, all der Verantwortlichkeiten enthoben zu sein, die eine für sich gehende Frau auf sich nimmt.
Nun, es würde sich hoffentlich noch alles nach ihrem Wunsche fügen. War es doch bisher auch so gewesen. Viel ruhiger, als die Tage vorher, ging sie diesen Abend nach Hause. Sie wachte sogar noch, als Fräulein Schulze heimkam, und sagte ihr guten Abend. Sie hatte das Bedürfnis, auf das viele Grübeln und Denken mit einem Menschen ein paar Worte zu reden.
»Das ist nett« sagte die Directrice und schüttelte ihr die Hand, »na, schon etwas gefunden?«
»Noch nicht, aber bald« meinte Hildegard.
»Ja wenn Sie praktisch wären, aber – na. Sie[42] sind jung und schön und mit der Stellung ist es Ihnen wohl nicht so bitterer Ernst?«
Hildegard fühlte heißes Rot ihre Wangen bedecken. Sie wollte ein hochfahrendes Wort erwidern, besann sich aber. Weshalb hatte sie sich mit dieser Dame in solche Vertraulichkeiten eingelassen, nun durfte sie darüber nicht erzürnen.
»Was meinen Sie denn, was ich thun sollte, wenn ich ›praktisch‹ wäre?« fragte sie mit leiser Ironie.
Fräulein Schulze tupfte sich etwas Puder auf ihre rötliche Nase.
»Vor allem würde ich mir an Ihrer Stelle ein Unterkommen in einem großen Konfektionshause suchen. Da sieht man und wird gesehen. Da macht man Bekanntschaften, und niemand kann einen Stein auf einen werfen, denn man hat ja eine Stellung. Na – wenn Sie mich nicht verstehn, thut's mir leid. Ich bin praktisch. War's all meiner Lebtage. Ich bitte Sie, wer hilft denn einer Frau, wenn sie alt ist? Keiner. Deshalb muß man, so lange man jung ist, zuschauen, sich etwas zurückzulegen. Ich jedenfalls bin immer fürs Praktische.«
Hildegard lächelte etwas gezwungen zu diesen ihr nicht ganz klaren Auseinandersetzungen und zog sich bald zurück. Es ist ja wahr, dachte sie bei sich, eine Frau, die sich allein ernährt, verdient alle Achtung, aber[43] ob Fräulein Schulze das wirklich that? War sie wirklich so praktisch? Hildegard wußte nicht recht was, aber etwas in dem grauen gutmütigen Gesichte ihrer Hauswirtin ließ sie nicht recht an deren praktischen Sinn glauben. Es lag irgendwo in ihren Zügen ein Leichtsinn versteckt, ein über vieles Hinweggleiten, das Hildegard nicht gefiel. Sie schlief gut, von dem frohen Gedanken eingewiegt, daß in zwei Tagen Sonnabend war, an dem sie mit angenehmen Menschen zusammenkommen würde.[44]