[212] Paulus war triumphierend von Moskau zurückgekehrt. Er brachte eine lange Namenliste von Personen mit, die der Genossenschaft beigetreten waren und »Wahrheitssucher und -Finder« werden wollten. Auch Geld und schmeichelhafte Briefe an den Meister brachte er mit.
Eines Tages traf es sich, daß er mit Johanne allein war. Angelus und Johannes waren nach außen, einige Stationen weit, zu einem Freunde des Meisters gefahren. Johanne schrieb, während Paulus im Zimmer auf-und niederschritt und scheinbar über ein tiefes Problem brütete. Plötzlich flog die Thür auf und eine große, schwarzgekleidete Frau trat herein. Johanne stieß einen Schrei aus, ließ die Feder fallen und flüchtete in Paulus' Nähe.
»Was willst du?« herrschte er die Dame an. Sie richtete ihre dunklen, unheimlich glühenden Augen auf ihn.
»Nicht dich. Johannes und Jakob. Wo ist Jakob? Ihr habt mir ihn gestohlen. Gebt mir ihn wieder«.[212]
Paulus trat zu ihr, sah ihr in die Augen und legte seine Hand auf ihre Schulter. Die schwarze Ledertasche, die sie trug, glitt ihr aus den Fingern. Er hob sie auf, streifte den Ring über ihr Handgelenk und sagte: »Geh augenblicklich«.
»Nein«. Sie stampfte mit den Füßen auf. Plötzlich lehnte sie sich an die Wand und erbleichte. Paulus faßte sie, führte sie hinaus und schloß die Thür ab.
»Entsetzlich« stammelte Johanne.
»Was denn?«
»Die Frau«.
»Sie ist halb irrsinnig; ich wollte wetten, sie verbarg in der Tasche irgend eine Waffe, sich oder einen Andern zu töten«.
»Womit hast du sie plötzlich so ruhig gemacht?«
»Durch meinen Blick«.
»Kannst du das wirklich?«
»Wenn der Andere sich nicht sträubt, ja«.
»Dann ists ja keine Kunst« wagte Johanne einzuwerfen; »wenn er sich aber sträubt.«
»In den meisten Fällen auch dann, du weißts ja von dir selbst«.
»Ach ja, damals ...« sie senkte die Augen und fuhr verwirrt fort: »Wer war die Unglückliche?«
»Eine Frau, die sich von ihrem Mann scheiden ließ, um Jakob zu heiraten. Sie gingen eine zeitlang zusammen,[213] – er war damals noch keiner der Unseren – da erkannte er, daß sie nicht zu ihm tauge. Ein echter Wahrheitssucher läßt sich nicht durch Fesseln erniedrigen. Was braucht er die Ehe; jedes Weib ist sein, das er sich wünscht; ›im Geiste natürlich‹«, setzte er trocken hinzu. »Wir halfen ihm, sich von ihr loszulösen. Seither haßt sie uns«.
Johanne schlich nach der Thür, schloß sie auf und sah vorsichtig hinaus. Die Frau war verschwunden.
»Die Arme« hauchte das junge Mädchen. Paulus fixierte sie.
»Du redest recht thöricht. Es giebt Menschen, die zur Finsternis bestimmt sind, wie andere zum Licht. Man soll kein Mitleid mit solchen haben«.
»Du bist hart«.
Johanne setzte sich in den Armsessel am Schreibtisch. Ihre Lippen zitterten.
»Warum bist du so aufgeregt?« fragte er. »Deine Pupillen sind ganz groß und starr. –« Er näherte sich ihr. »Ich glaube, augenblicklich wärst du – willst du eine Sekunde dich zurücklehnen und dich bemühen, an nichts zu denken?«
Er brachte seine Hände an ihre Stirn und sah sie an. Sie spürte die Säume seiner weiten Aermel auf ihren Schläfen. Sie brannten sie förmlich; sie fühlte, wie ihr alles Blut nach dem Herzen schoß; dann schloß sie[214] die Augen. Mein Gott, wenn nur Jemand käme, war ihr letzter Gedanke; dann schwand ihr für einen Augenblick das Bewußtsein.
Paulus neigte sich über sie und preßte einen wahnsinnigen Kuß auf ihre Lippen. Sie hatte die Empfindung der Menschen, denen ein Amputeur den nackten Knochen berührt. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Was er wohl weiter thun mochte? Er war einige Minuten ganz still, dann sagte er, und sie fühlte, wie er seine Hände von ihrer Stirne zurückzog:
»Johanne, ich befehle dir, erwache«.
Sie schlug die Wimpern auf.
»Hast du geträumt?« fragte er und blickte ihr in die Augen.
Sie sah ihn entsetzt an. Seine Brauen wulsteten sich. »Warum willst du es leugnen? Du bist unwahr, du schrakst auf. Was sahst du? Gestehe«.
»Mir war, als hättest du mich –« sie stockte.
»Was?« herrschte er sie an.
»Geküßt«.
Er lachte. Zum ersten Mal sah sie ihn lachen.
»Du Närrin, nein, du bist wirklich zu kindisch; man kann in der That mit dir noch nichts anfangen. Ich befahl dir doch, du solltest an nichts denken, und nun dachtest du während des Einschlafens das Dümmste. Nun«.[215]
Er verließ sie achselzuckend.
Sie legte den Kopf in die Hände.
Mein Gott, das war kein Traum, keine Einbildung. Sie fühlte noch das Mark in sich schauern bei der Berührung seiner Lippen. So lebendig kann kein Traum wirken. Wenn es aber kein Traum war, dann, dann war er ein Betrüger, ein Lügner: Er, der Schüler des Meisters. Konnte dieser eine solche Brut großgezogen haben, er der Ehrliche, Kindliche? Oder wäre – nein, nein, er war ehrlich, rein, groß. Was konnte er dafür, wenn sich unter seinen Jüngern ein Judas befand?
Mein Gott, er mußte ja ehrlich sein. Ihre Seele war verloren, wenn auch dieser Glaube sich als falsch erwies. Wenn sie auch diesen Halt verlor! Nein, nein! ... Sie faltete zitternd die Hände; dann wandte sie sich wieder ihrer Schreiberei zu. Er würde ja noch vor Abend zurücksein. Dann wollte sie ihm alles mitteilen, alles ... Später kamen mehrere Personen, die Johannes suchten. Zur Essenszeit war er da. Er machte ein sehr heiteres, vergnügtes Gesicht und war während der Mahlzeit redseliger als sonst. Nach Tisch zog er sich, wie immer, für eine Stunde auf sein Zimmer zurück. Johanne war des Glaubens, er schliefe ein wenig. Sie kannte seine Milde. Er würde ihr sicher vergeben, wenn sie einmal seinen Schlummer störte. Sie wartete ein[216] Weilchen – Paulus und Angelus waren in freundschaftlichen Streit über irgend etwas entbrannt – entfernte sich leise, pochte schüchtern an Johannes' Thür und trat ein. Der Meister saß vor einem gebratenen Hühnchen und zerlegte sich eben den einen Flügel. Vor ihm auf dem Tische stand eine Flasche Wein und ein Glas.
»Johanne« fuhr er bei ihrem Eintritt bestürzt auf; dann lächelte er gleich. »Siehe, wozu mich heute der Gehorsam verdammt. Mein Arzt befahl mir, dies Gericht einzunehmen, das ich so sehr verabscheue«.
Was ging sie an, was er aß?
»Ach, Meister!« rief sie, vor ihm auf die Kniee sinkend, »was kümmert mich deine Nahrung? Sag mir lieber, was ich in meiner Verzweiflung denken soll«.
Er schob den Teller zurück und legte die Hand auf ihr Haupt.
»Was hast du denn, Kind?«
»Erstens hab ich mich der Lüge vor dir anzuklagen. Paulus wollte mich vor einiger Zeit in magnetischen Schlaf versetzen. Er wurde zornig, als ich ihm einige Male bei seinen Voraussetzungen nicht recht gab, zuletzt log ich, um seine Zufriedenheit zu erhalten. Ich behauptete, Dinge zu sehen, von denen ich keine Spur sah«.
»Ist das alles?« fragte Johannes.
»Dann glaube ich nicht im mindesten, daß ein Mensch einen andern bewußtlos machen könne und –«[217]
»Das ist dumm von dir« unterbrach sie Johannes. »Zufällig trifft sichs, daß heute Abend im Verein ›Seele‹ Sitzung ist. – Wir wollen alle hingehen. Ich will auch dich mitnehmen. Du wirst dich überzeugen, daß jemand in Trance zu bringen, etwas durchaus gewöhnliches ist, was alle Tage vorkommt und von dem kühlsten Skeptiker nicht mehr angezweifelt wird«.
»Ich bitte dich, nimm mich nur gewiß mit« bat sie mit glänzenden Augen.
»Was hast du sonst noch?« fragte er.
»Paulus – ach –«
»Nur weiter, weiter« drängte er mit leiser Ungeduld.
»Paulus hat mich vorhin, als du fortwarst, einschläfern wollen. Aber es gelang ihm nicht. Er –«
»Nun?«
»Er aber glaubte, es sei ihm gelungen, und –«
»Und?«
»Küßte mich«.
Einen Augenblick schwieg Johannes, ohne eine Miene seines Gesichtes zu verziehen, dann sagte er ruhig: »Du hast geträumt, Kind, sicher. Ich kenne Paulus zu gut. Ihm ist jedes Mädchen gleichgültig, er hat keinen andern Gedanken, als unserer Sache zu dienen. Glaub es mir. Du warst aufgeregt und hast geträumt«.
Er sah sie überzeugt an, daß ihr gesunder Verstand[218] zu wanken anfing und sie langsam an die Möglichkeit eines Irrtums von ihrer Seite zu glauben begann.
Still schritt sie ins Arbeitszimmer zurück.
»Warst du bei Johannes« fragte Angelus erregt.
Sie bejahte.
»Das darfst du nie wieder« sagte er eifrig. »Der Meister schläft um diese Zeit, und verbot uns, ihn da zu stören«.
»Ich wills nicht wieder thun« sagte sie kurz, »aber geschlafen hat er nicht«.
Sie wußte nicht warum, sie spürte einen galligen Geschmack auf der Zunge und kalte Schauer gingen ihren Rücken hinab. Später kam Johannes und arbeitete mit ihr. Angelus rechnete wie gewöhnlich und Paulus ging ab und zu.
Einmal entfernte er sich, von Johannes gefolgt. Nach einer Weile kehrten beide mit ruhigen Gesichtern wieder zurück. Aber auf Paulus' braunen Wangen dünkte Johanne einen Schimmer von Röte zu entdecken.
Nach dem Abendessen ging sie mit Johannes nach der in ihrer Nähe gelegenen Straße, in der der Verein »Seele« sein Lokal hatte.
Paulus und Angelus waren vorausgegangen.
»Wir vermeiden es« bemerkte Johannes, »öffentlich miteinander auszugehen; mehrere von uns erregen Aufsehen, einer verliert sich leichter im Straßengedränge«. Trotzdem[219] zog er die Blicke der Leute mächtig an und fast jeder Vorübergehende blieb stehen und sah dem seltsam gekleideten Manne nach. Sie hatten bald das Haus erreicht.
»Nun paß auf, habe keine widerstrebenden Gedanken und warte bis die Sitzung beendet ist, ich will dich wieder hinausbringen« sagte er und öffnete Johanne die Thür des Saales. »Geh auf die andere Seite« fügte er hinzu, nach den Stuhlreihen rechts deutend, während er selbst zu seinen beiden Schülern schritt.
Es dauerte lange, bevor die Sitzung begann. Johanne sah sich indessen etwas im Saale um.
Es waren etwa zwei- bis dreihundert Menschen anwesend, meist jüngere Leute, dunkel gekleidet. Man sah, keiner wollte die Aufmerksamkeit auf sich lenken, jeder wünschte den Vorgängen auf dem Podium möglichst zu folgen. Johanne bemerkte, daß alle diese Menschen eine grünlich fahle Gesichtsfarbe hatten, daß alle, wie sie sich in ihrer Naivität zurechtlegte, »unausgeschlafen« aussahen. Das mochte wohl von der Wucht der Ideen herrühren bei diesen Auserwählten, die die Thore anderer Welten sich zu öffnen bemühten. Und das junge Mädchen spähte in diesen Gesichtern nach den Charakteren, deren Larven sie waren. Aber jemehr sie Umschau hielt, umso krampfhafter zog sich ihr Herz zusammen. Diese[220] ausgehöhlten Wangen, diese eingesunkenen, glanzlosen, trüben Augen, diese Münder mit ihren schlaffen Winkeln, ihrer blassen Farbe, von erhebenden Erfahrungen redeten die nicht. Schöne reine Visionen mußten doch hell und stolz auf die Mienen wirken. Diese Menschen da sahen aus, als wühlten sie in Verwesung, als verzerre ein Krampf ihre Muskeln. Sie hatten alle etwas Nächtliches an sich, etwas Scheues, Geducktes, Unehrliches. Und Johanne schien plötzlich, als ginge ein Modergeruch von ihnen aus; eine faulige Süße schwamm in der Luft, ein krankes, heißes, fieberndes Begehren nach einer Erfüllung, die sie in der realen Welt des Genusses nicht mehr fanden. Der Atem wurde ihr schwer; es schien ihr, als stünden lauter glotzende Ungeheuer um sie herum und erwarteten ein unerhörtes Etwas, von dem sie sich keine Vorstellung machen konnte.
In diesem Augenblick trat ein Mann auf das Podium und verkündete, daß Miß Lanster, das Medium, keine Sitzung halten könne, sie fühle sich noch von der letzten her zu angegriffen. Er würde statt dessen einen Vortrag halten, mit dem die geehrte Gesellschaft heute fürlieb nehmen müsse. Er würde über das Geschlechtsleben der Geister reden.
Der Mann besaß eine zurückweichende Stirn, harte, an den Schläfen hinaufgezogene Brauen und eine heisere Flüsterstimme. Die Anwesenden, um ihre Erwartungen[221] für den heutigen Abend gebracht, murmelten einen Augenblick unter sich, dann spannten sich ihre Mienen; sie setzten sich auf ihren Stühlen zurecht und beugten sich nach vorn, um dem Redner zu lauschen.
»Das Geschlechtsleben, liebe Damen und Herren« begann der Vortragende, da erhob sich Johanne, und ohne nach rechts oder links zu blicken, verließ sie den Saal. Draußen schöpfte sie tief Atem. Und die – diese kranken, blassen, verkommenen Gestalten sollten mit den Geistern Anderer verkehren können? diesen Ohren sollten sich die Chöre himmlischer Sphären mitteilen? diesen neugierigen, hungrigen, trüben Augen die heiligen Bürger des Totenreiches sich enthüllen? Das glaub ich einfach nicht, sagte sich Johanne. Warum sah sie nicht einen Gesunden unter ihnen? Warum nicht Männer und Frauen mit freien Stirnen und klugen, ehrlichen Augen? Warum diese Spitalgestalten mit ihren fahlen, ungesunden Farben? Wenn das gesund wäre, was sie hier erlebten, könnten sie dann davon erkranken? Nein, gesunde Menschen konnten diese Erfahrungen nicht machen. Man muß krank dazu sein, unwahr.
Sie lief in die kühle Märznacht hinaus. Und plötzlich überkam sies: wie, wenn auch er ein Unehrlicher wäre? Wenn seine Lehren andern Absichten dienten, als er vorgab?
Mit müdem Gesicht erschien sie am nächsten Tag[222] im Bureau. Auf Johannes' Frage, warum sie gestern so plötzlich verschwunden sei, gab sie an, sich unwohl gefühlt zu haben. Er betrachtete sie mit prüfenden Augen.
»In der That, du siehst elend aus. Vielleicht strengt dich das Schreiben zu sehr an, die ungewohnte Kost –«
»Ach Meister« lächelte sie schwach, »das alles macht mich nicht krank. Laß nur«.
»Ich will dir etwas sagen« meinte er freundlich, »gehe du jeden Tag nach Tisch eine Stunde spazieren. Hier in der Nähe liegt der botanische Garten, laufe ein bischen drinnen herum; ich wünsche, daß du es thust«.
Sie fühlte sich gerührt über seine Güte. »Ja denn, wenn dus wünschest, will ichs thun« sagte sie. Dann sprachen sie nicht weiter darüber. Sie schrieb einen Aufsatz für ihn ins Reine, er sah sie dann und wann von der Seite an. Es wäre ihm peinlich gewesen, dieses junge, brave, ehrliche Mädchen, das ihn wie einen Gott verehrte, so genügsam, so fleißig, so anspruchslos war, zu verlieren.
Nach einer Weile sagte er:
»Uebermorgen Abend halte ich in den Sälen von Sommers Brauerei einen Vortrag über die Rückkehr zur Natur. Es wird mich freuen, dich in der ersten Reihe zu erblicken«.
Sie dankte ihm für seine Einladung. Endlich[223] würde sie ihn vor versammeltem Volke reden hören, endlich den Mut bewundern dürfen, mit dem er seine Anschauungen vor der Welt vertrat. Sie brannte vor Ungeduld. Sie bat ihm im Stillen ab, daß sie einen Augenblick den Schatten eines Zweifels an der Lauterkeit seiner Bestrebungen in sich hatte auftauchen lassen; er war doch der gütigste, reinste, herrlichste Mensch von allen. Sie gehorchte seiner Weisung schon heute und trieb sich ein halbes Stündchen draußen umher.
»Siehst du« sagte er als sie widerkam, »deine Wangen haben schon Farbe erhalten«. Sie lächelte. Vom Spazierengehen sicher nicht. Aber durfte sie ihm sagen wovon? Am liebsten hätte sie ihr Haupt auf seine Füße gedrückt und gestanden: weil ich meinen Zweifel gegen dich überwunden habe, mein Herr und Meister.
Am übernächsten Abend ging sie hochklopfenden Herzens nach den Sälen der Brauerei. Er, Angelus und Paulus waren schon eine Stunde vorher hingegangen.
Als sie eintrat, sah sie an der Thür Angelus vor einem großen Tisch sitzen, der mit Stößen von Bildern des Meisters bedeckt war.
»Was machst du da?« fragte sie überrascht.
»Ich verkaufe sein Bild; das Stück für zehn Pfennig«. Seine Augen leuchteten glücklich.
Johanne entgegnete nichts und ging nach vorn.[224]
Sie fand kaum ein Plätzchen mehr in der fünften Bankreihe. Der große Saal war gedrängt voll Menschen. Und in jedem Augenblick kamen noch neue Gruppen gezogen. Endlich erschien Johannes.
Seine Blicke glänzten; er schien schlanker, blasser, magerer als sonst. Sein schlichtes Christushaar fiel lang auf die Schultern herab. Er begann zu sprechen. Leise, fast zaghaft, voll demütiger Bescheidenheit. »Ich spreche zu den Armen, Unglücklichen, zu den Stiefkindern dessen, was die Welt Glück nennt. Je verachteter Einer unter euch hier ist, umso heißer umarmt ihn meine Seele als Bruder, umso mehr Anrecht besitzt er auf meinen Rat, auf meine Liebe«. Seine Augen überflogen das Publikum. Es waren meist Leute aus dem Arbeiterstande. Sehr viele Frauen. Auch Einige, die dichte Schleier verhüllten. Aber die Mehrzahl bildete das unruhige, nach Besserung seiner geistigen und physischen Lage hungernde Element des vierten Standes. Die Frauen waren andächtig wie in der Kirche. Manche hatten Thränen in den Augen. Der bloße Anblick dieses frierend aussehenden Christusmannes mit den nackten Füßen und dem edlen blassen Gesicht ergriff sie schon.
Er wolle ihnen allen helfen, sagte er. Seine Rede war nicht geistreich, wirkte aber durch ihre Herzenswärme und die ungeheuer kluge Einfalt sehr packend.[225]
Es war eine Rede, genau wie diese Leute sie brauchten. »Ich könnte es besser haben« sagte er unter anderm, »aber ich will nicht. Ihr darbt, warum soll ein Bruder von euch schwelgen? Freilich, es thun dies Hunderttausende, aber die – Herr verzeih ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun – die kennen nicht euer Elend, euere Notlage. Sie würden sonst weinen und euch helfen, wo sie können, glaubt mir das. Ich aber will von Haus zu Haus gehen und an die Herzen der Mächtigen, an die Herzen derer pochen, die bei den Gesetzen mitzusprechen haben.
Ich will meine Schüler in alle vier Winde aussenden, daß sie die Lehren von der Liebe aussäen«. In diesem Tone gings fort. »Ich selbst bin ja ein Armer, gleich euch. Ich habe nichts, was ich mein nenne. Ich wünsche auch nichts, als der guten Sache zu dienen, möge ich selbst im Dunkel vergehen«.
Und warum läßt du hundertweise deine Bilder verkaufen? Wie darfst du das zulassen, wenn du so demütig, so bescheiden bist? riefs in Johanne. Sie horchte nur noch halb hin. Sie wäre ihm am liebsten mitten hineingefahren in seine Rede, um ihm dies und jenes vorzuhalten, was ihr mißfiel. Sie vernahm ein großes lindes Schmeicheln aus seinen Worten heraus, das sie verdroß. Er warb um den Beifall dieser Menschen. Und Christus hatte sie doch mit Stricken hinausgetrieben,[226] die ihm nicht gefielen. Sollten diese Leute hier, die er so demütig anredete, wirklich lauter Auserwählte sein?
Johanne atmete erleichtert auf, als der Vortrag beendet war, der übrigens nicht das aufgestellte Programm einhielt. Ueber die Rückkehr zur Natur war kein Wort gefallen.
Das laute Beifallsgeschrei am Schluß der Rede zeigte, daß er den Geschmack der Leute getroffen hatte.
Als Johanne zum Ausgang gelangte, standen Dutzende von Menschen um den Tisch und kauften die Bilder des Meisters. Angelus strich das Geld lächelnd in die Lade.
»Ist das ein süßer, kleiner Kerl« hörte sie eine ältere Frau zu einer anderen sagen. Sie wandte den Kopf weg und trat, so rasch sie konnte, hinaus.
Vor der Thür draußen stand Paulus, eine Sammelbüchse in der Hand. ›Zur Erhaltung des Heims unseres Meisters‹ stand darauf.
Paulus mit seiner finster abweisenden, herben Miene sah aus wie ein entthronter Herrscher. Die Weiblein starrten ihn an und ließen, je nach ihren Vermögensverhältnissen, einige Geldmünzen in die Blechbüchse in seiner Hand gleiten.
Mit brennenden Wangen eilte Johanne nach Hause. Auf ihrem Bettrande saß sie lange Stunden und grübelte vor sich hin. Ihre Brauen waren schmerzhaft zusammengezogen. – – – –[227]
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