Nr. 52. Ausgestopfter Fliegenschnäpper

[927] Vornehmes Leben


Nachdem er am Morgen die feinste Anrede an den Hofagenten in den Kopf gebracht hatte, woraus sie ohnehin noch nicht gekommen[927] war: trat er vor Neupeter, der ihn in der Schreibstube neben einem brennenden Lichte mit dem Petschaft am nassen Maul und mit der Nachricht empfing, es sei Posttag. Während der Kaufmann fortsiegelte, hielt er hinter dessen Rücken leicht seine Rede voll Zärte, bis dieser, da er ausgesiegelt hatte, das Licht ausputzte und fragte: »Was gibts?« Zerfahren war dem Notar der ganze Sermon.

Kein Mensch kann dieselbe Rede zweimal nacheinander halten; in der Eile mußte er nur darauf denken, aus dem Gesagten einen dünnen Bleiextrakt zu liefern. Der Hofagent ersuchte ihn aber, »mit solchen Schnurrpfeifereien den Leuten vom Halse zu bleiben«.

Alle möglichen Sünden im neuen Amt hätt' er lieber getragen als dieses harte Türzuschlagen vor demselben. – Jemanden nun ferner Ordensketten durch geschenktes Vorkaufsrecht der Wohnprobewoche überhängen zu wollen, fiel ihm nicht mehr ein: sondern wo ein armer, aber guter Teufel, mit welchem sich mehr Tränen- als Himmelsbrot, z.B. ein elendes Wohnloch teilen ließe, anzutreffen und zu beglücken wäre, darnach ging sein Sehnen, nicht sein Fragen; denn besagter Teufel war längst da, Flitte aus Elsaß. Walt ging auf den Nikolai-Turm und trug, aber furchtsam, Flitten den Vorzug an, daß er bei ihm die erste Probewoche halten wolle. Der Elsasser umhalste ihn erfreuet und versicherte, er ziehe diesen Tag noch vom Turm herab, weil er ganz hergestellt sei und der frischen Turmluft weniger bedürfe. »Ich miete für uns ein paar kostbare garnierte Zimmer beim Cafetier Fraisse; pardieu wir wollen leben comme il faut«, sagt' er. Walt wurde zu selig. In einer halben Stunde hatte Flitte ein- und darauf ausgepackt; denn mit seinem Geräte hatt' er, wie eine Raupe und Spinne mit ihrem Fadengespinste, gewöhnlich den Gang durch seine Wechselwohnungen bedeckt und bezeichnet; gleichsam mit schönen Haarlocken, die zum Andenken ausgerauft werden; und hatte sich, wie gedacht, wie Weltkörper durch Umlauf kleiner eingeschliffen. Er wagte es jetzt, aus seinem Turm – seiner bisherigen Bastei und Grenzfestung gegen Gläubiger – herabzurücken in ein unbefestigtes Kaffeehaus, weil er[928] teils sein eignes Testament beerbet hatte, nämlich den Kredit davon, teils das Kabelsche, in dessen Gütergemeinschaft ihn Walts neueste Fehler vor der Stadt einzusetzen schienen, teils die zehn Tannenstämme, Walts Klage-Eichen. Der »ausgestopfte Blaumüller« Nr. 51 erwähnte schon weitläuftiger, mit welchem Gepränge er die durch Walt gesäete Fehler-Ernte von Steinobst und Kernhäusern aufgeknackt und ausgekernet hatte, um sich der Stadt zu zeigen.

Walt schied am schönsten Nachsommer-Morgen halb wehmütig aus seiner leisen Klause; ihm war, als brauche sie ihn und habe dann so leer und allein Langeweile, besonders sein Sessel. Aber wie fuhr er, da er beim Cafetier Fraisse eintrat, vor der Garnitur der Zimmer, vor den langen Spiegeln voll Zurückfahrern, vor den Ei-Spiegeln an den Wandleuchtern und vor der Rest-Pracht zurück! – Er erschrak. Flitte lächelte – Fremden wollte Walt ein Ersparer sein; – daß der gute Elsasser solche Paläste von Stuben miete, bedacht' er und stöhnte sehr. Denn er hielts für Aufwand seinetwegen, weil er nicht voraussetzte, daß Flitte unter die wenigen sogenannten Verschwender gehöre, die wie der deutsche Kaiser schwören, nichts auf die Nachkommen zu bringen, Reich oder Reichtum, und welche wie hohe Staatsbediente Athens zum Zeichen ihrer Vaterlandsliebe nichts hinterlassen als Nachruhm und Schulden.

Walt zog ohne weiteres das aus der Kabelschen Operationskasse für die Probewoche bewilligte Goldstück hervor und legt' es mit den Worten auf den Tisch: »Dies bestimmte der Testator; ich wollte gern, es wäre mehr.« – Wenige Menschen wurden noch so stark angefahren als er von Flitten, der ihn fragte, ob er denn beim Henker nicht sein Gast sei.

Aber nun hatt' er noch einen feinern Punkt, nämlich den testatorischen Zweck seines Wohnens zu besprechen. Er nahm folgende Wendung: »Es wird ordentlich schwer, in diesen kostbaren heitern Zimmern und bei Ihnen an etwas so Juristisches wie das Testament und dessen Haupt-Klausel zu denken; da ich aber meine Freude nicht meiner Obliegenheit gegen meine Eltern opfern darf: so – darf ich eben schwerlich, sondern ich muß Sie[929] um den Vorschlag dessen bitten, worin ich etwa Fehler begehen könnte. Wahrlich, es wird mir schwerer zu fragen als zu handeln.«

Der Elsasser faßte ihn nicht sogleich mit seinen Feinheiten: »Pah!«, sagt' er, »was ist zu sakrifizieren? Wir parlieren und tanzen zusammen; das geht den alten Kabel nichts an.« – – »Parlieren und tanzen?« versetzte der vom Notariat zusammengescheuchte Walt. »Und zwar beides zusammen? – Ich kann hier nichts sagen, als daß schon eines von beiden einen unabsehbaren Spielraum zu Fehlern auftäte, geschweige – Wahrlich, an und für sich oder für mich, lieber Herr Flitte – aber...« – – »Sacre –! wovon reden wir denn eigentlich? – Wird denn ein Mensch auf der Erde prätendieren, daß man zum langnasigen Bürgermeister läuft und ihm es vorsingt, wie man lustig gewesen ist?« – Walt faßte schnell die Hand und sagte: »ich vertraue«; und Flitte umarmte ihn.

Sie frühstückten unter freudigen Gesprächen. Die langen Fenster und Spiegel füllten das geglättete Zimmer mit Glanz; ein kühler blauer Himmel lachte hinein. Der Notar verspürte sich in vornehmer Behaglichkeit; das Glücksrad dreht ihn, nicht er das Rad, und er brauchte es nicht wie ein Wagenrad erst rot zu malen. Flitte las ihm zwei für den Reichs-Anzeiger in wenigen Tagen ausgearbeitete Inserate vor; – im ersten forderte er einen Generalkriegszahlmeister, Hrn. von N. N. in B., auf, ihm die Summe von 960 Albustalern für Wein innerhalb 6 Monaten zu bezahlen, wenn er nicht gewärtig sein wolle, daß er ihn öffentlich an den Pranger in dem Reichs-Anzeiger stellte. Dem Notar entdeckte er gern den Namen des Mannes und der Stadt; indessen war an der Sache nichts. Das zweite Inserat enthielt mehr ungefärbte Wahrheit, nämlich die Nachricht, daß er einen Compagnon mit 20000 Tlr. zu einem Weinhandel suche und wünsche.

Walts Gesicht glänzte von Freude, daß der gutmütige Mensch so viele Mittel habe, und erhob dessen vergoldete Wetterstangen des Lebens recht stark.

Flitte aber versetzte: »Sagen Sie mir aufrichtig, ob keine Stil- Fehler darin sind. Ich warf die Dinge in der Zeit einer kleinen Stunde hin.« Walt erklärte, je kleiner eine Anzeige sei, desto schwerer werde sie; er wolle leichter einen Bogen für den Druck[930] ausarbeiten als dessen 1/24 Bogen. »Schadet wohl überhaupt Lukubrieren viel? An der Makrobiotik sahen mich oft die Nachbarn bis 3 Uhr aufsitzen«, sagte Flitte, nicht ganz unwahr, da er bisher durch seine Nachtmütze auf einem Haubenstock und durch ein Licht daneben einen makrobiotischen Leser auf die leichteste und gesündeste Weise vorgestellt hatte. Darauf schnürte er vor dem Notar, dessen herzliches aufrichtiges Bewundern und einfältiges Vertrauen ihn mit süßer Wärme durchzog, ein Bündel seiner Liebesbriefe an sich auf, worin er, sein Herz und sein Stil sehr geschätzet wurde. Der Elsasser hatte das Paket von einem jungen Pariser, an den es geschrieben war, zum sichern Verschlusse bekommen.

Walt wußte sich so wenig zu lassen vor Beifallklatschen über den Stil der schönen Schreiberin, daß der Elsasser am Ende beinahe selber glaubte, die Sache sei an ihn geschrieben; aber jener tats sehr deshalb, um nicht über die Liebe selber viel zu reden. Da er als ein unerfahrner verschämter Jüngling noch glaubte, die Empfindungen der Liebe müßten hinter dem Klostergitter, höchstens in einem Klostergarten leben, so sagt' er nur im allgemeinen: »Die Liebe dringt wie Opferrauch, so zart auch beide sind, doch im dicken Regenwetter durch die schwere Luft empor« – wurde aber ungemein rot. »Surement«, sagte der Elsasser, »die Liebe strebt jeden Tag immer weiter.«

Flitte ging noch weiter und zeigte sich seinem Gaste gar gedruckt; er wies ihm nämlich die feinsten Liebes-Madrigale, die er, wie er sagte, drucken lassen in Centesimo-Vigesimo-Format und nie über einen 1/20 Bogen stark; es waren Verseblättchen, aus Pariser Zuckerwerk ausgeschält, wahre Süßbriefchen, deren Plagiat Flitte sich dadurch erleichterte, daß er den süßen Einband aufaß. Warum lässet die deutsche Poesie der französischen den Vorzug der süßesten Einkleidung; warum wollen wir nämlich, wenn die Franzosen Zucker und Gebäck um ihre Verse wickeln, es umkehren und mit den unserigen Zucker und Gewürz einkleiden und einpacken? – könnte man hier fragen, wenn es der Ort wäre, hier zu antworten. – Walt pries unmäßig; der Elsasser schwamm auf Freudenöl, ertrank beinah in Lobes-Salböl.[931] Über jeden Genuß, den man den Menschen wohlwollend zubereite, waltet der Zufall der Aufnahme, des Gaumens, des Magens, der ihn verarbeitet; hingegen für den Genuß eines aufrichtigen Lobes hat ohne Ausnahme jeder Mensch zu jeder Stunde Ohr und Magen aufgetan; und er sagt außer sich: »Lob ist Luft, die das einzige ist, was der Mensch unaufhörlich verschlucken kann und muß.« Flitte nicht anders; neuerfrischt zog er den Notar auf die Stadtgassen hinaus, um ihm einige Freuden zu machen und sich Platz. Nämlich die alten Gläubiger jagten ihm so eifrig nach als er neuen; da er nun die Maxime der Römer kannte, welche nach Montesquieu so weit als möglich vom Hause Krieg führten: so war er selten zu Hause. Beide durchstrichen die Morgenstadt; und Walten wurde sehr wohl. Da Flitte der Stadt sich zeigen wollte – nämlich den Kabels-All-Erben Harnisch in der Probewoche –, so sprach er mit vielen ein Wort; und der Notar stand glücklich dabei. Vor jedem Parterre-Fenster – »par-terre«, sagte Flitte, »sprechen die Deutschen ganz falsch aus«, klopft' er wie an einer Glastüre an und sagte dem aufmachenden Mädchenkopfe, dem noch die halbe Aurora des Morgenschlafs anschwebte, hundert gute Dinge, und die Tochter in der Morgenkleidung mußte am Fensterrahmen fortnähen. Oft gab er ohne weiteres Fragen Küsse von außen hinein – was Walt für einen Grad von Lebensart hielt, den nur einige Günstlinge Frankreichs erreichten. Rauchte ein ansehnlicher Mann in der Schlafseide mit der Pfeife aus dem zweiten Stock herab: so sprach oder ging Flitte hinauf, und Walt tats mit. Jener kannte jeden lange; denn bei dem Hochbürgerstande lehrte er die Kinder tanzen und beim Adel die Hunde; letzterem ging er auch auf heiligern Wegen nach, nämlich zur Altar-Partie. Denn da der Haßlauer Adel, wie bekannt und sonst gewöhnlich ist, in corpore öffentlich auf einmal als eine heilige Tischgesellschaft und Kompaniegasse das Abendmahl genoß: so war er hinterdrein und der letzte Mann, wie hinter den Bürgerlichen der Scharfrichter; das einzige Mal ausgenommen, wo er wie ein Schieferdecker es bloß nahm, weil er einen Turm bestiegen. Walt betrat nie mehr Zimmer als an diesem Morgen. Sprengte ein Herr vorbei: Flitte wußte ein Wort[932] über den Gaul nachzuschicken, etwa dieses: er hinke. Stand ein Wagen fahrfertig: Flitte paßte, bis man einstieg, und verhieß nachzukommen aufs Landgut. Kehrten verspätete Kaufleute von der Leipziger Messe zurück: Flitte ließ sie auf die Meß- Neuigkeiten von Haßlau nie so lange warten, bis sie unter Dach und Fach waren, sondern er packte aus, während sie auspackten.

Walt wurde aller Welt vorgestellt und redete mehrmals.

Es wäre schwer zu glauben, daß beide an einem Morgen so viele Besuche abgestattet haben, wäre nicht die Gewißheit da. Sie gingen zu dem Spitzen- oder Klöppelherrn Hrn. Oechsle und besahen die Sachen und die hübschen Klöpplerinnen aus Sachsen und viele Knöpfe aus Eger, in welche Vögel halb mit Farben, halb mit eigenen Federn gefasset waren. Walt hatte dessen schöne Fußtapeten ganz mit Stiefelspuren verschont durch einen einzigen tapfern Weitschritt, den er über sie sogleich in die gebohnte Stube tat.

Sie gingen ins Gartenhaus des Kirchenrat Glanz, wo Flitte seine Latinität an dem Kupferstich eines Kanzelredners schwach zu zeigen suchte, indem er die darunter gesetzten lateinischen Verse und Notizen fertig und mit gallischer Aussprache ablas, ausgenommen bis zu den Worten mortuus est anno MDCCLX. Denn wer solche fremde Zahlen-Zeichen mehr in eigner als in fremder Sprache ablesen muß, weil er diese nicht versteht, fällt halb ins Lächerliche bei aller sonstigen Gelehrsamkeit. –

Er ging mit Walt zum Postmeister, bloß um, wie er gewöhnlich tat, nach Marseiller Briefen vergeblich zu fragen. Dem Postsekretär las er eine schwere französische Aufschrift vor. Walt pries dessen Accent und Prononciation aufrichtig. Auf der Straße macht' ihm nun Flitte zehn vergebliche Male vor, wie er wenigstens beide Worte zu akzentuieren und zu prononcieren habe. Walt gestand, daß ihm mehr Ohr als Zunge fehle, drückte ihm die Hand mit dem Bekenntnis, daß er die meisten Franzosen gelesen, aber noch keinen gehört, und daß er deswegen so eifrig auf jeden Laut von Flitte horche; indes berief er sich auf den General Zablocki, ob er nicht vielleicht eine erträgliche Hand von Schomaker[933] davongebracht. Darauf zeigte ihm Flitte gegenseitig Germanismen der Phrasen, die ihm noch anklebten.

Sie gingen zur Stückjunkerin, bei welcher Walt neulich Saiten aufgezogen hatte. Diese sprach von dem Tode ihres Mannes und der Einäscherung eines Palastes, den sie im belagerten Toulon gehabt, aus welchem sie nichts gerettet, als was sie zur Erinnerung ewig aufbewahrte, einen Nachttopf aus feinstem Porzellan. Der Zug entzückte den Notar durch den vornehmen Zynismus, womit er im Hoppelpoppel Leute von Welt kolorieren konnte. Selten sieht ein romantischer Anfänger einen alten General oder jungen Hofjunker im Zwielicht z.B. pissen, ohne sich an den Schreibtisch niederzusetzen und niederzuschreiben: »Herren vom Hofe stellen sich gemeinhin im Zwielicht in Ecken.« Man sprach viel französisch; und Walt tat, was er konnte, und sagte häufig: comment? – Flitte zeigt' ihm nachher den Germanismus in der Frage.

Sie gingen in die weibliche, ihm durch Vult bekannte Pensions- Anstalt, worin noch mehr Gallizismen und noch mehr Schönheiten regierten. Flitten war nicht nachzufliegen im freien Artig- sein; doch wars ihm genug, nur nachzublicken und zwischen den Beeten voll Seelenlilien eng die eine Fußzehe an die Ferse der andern anzuschienen. »Ach ihr Lieben!« sagte sein Herz. Was er nur hörte, erklang ihm so zart; »aber«, dacht' er, »sind denn Frauenzimmer anders? Mitten im unreinen männlichen Weltleben, das alle Ströme und Leichen aufnimmt, sind sie ja abgesondert voll eigner Reinheit; im salzigen Weltmeer kleine Inseln voll frischen klaren Wasser; o diese Guten!« –

Als er heraustrat, wurden ihm auf einem goldnen Eßgeschirr des regierenden Fürsten leichte Farschen, Rouletten und Frikandellen aufgetischt – für die Freßspitzen der Phantasie. Das Geschirr – das Geschenk eines alten Königs – wurde nämlich jährlich zweimal öffentlich auf dem Markte abgescheuert und geputzt unter den Augen eines kleinen Kommandos zu Fuß, das seine Waffen hatte, um es gegen ungeratene Landeskinder zu decken.

Sie gingen zum Galanteriehändler Prielmayer und ließen sich von der Pracht der weiblichen Welt umgeben.[934]

Ein so freier, leichter, alle Stände mischender Vormittag war Harnischen noch nie vorgekommen; ein Musenpferd nach dem andern wurde seinem Siegeswägelchen angeschirrt, und es flog. Flittens Leben hielt er von jeher für ein tanzendes Frühstück und für einen thé dansant; sein eignes hielt er jetzt für ein eau dansant. Er genoß ebensosehr in Flitten – den er sich wie sich begeistert dachte – als in sich selber hinein; die elsassischen Sonnenstäubchen vergoldete und beseelte er zu poetischem Blütenstaub. Zuletzt macht' er, neben ihm gehend, heimlich folgende Grabschrift auf ihn:


Grabschrift des Zephyrs


Auf der Erde flog ich und spielte durch Blumen und Zweige und zuweilen um das Wölkchen – Auch im Schattenland werd' ich flattern um die dunkeln Blumen und in den Hainen Elysiums. Stehe nicht, Wanderer, sondern eile und spiele wie ich.


Um 10 Uhr bracht' ihn Flitte dem Hofe näher: »Wir gehen in die champs élysées und nehmen ein déjeuner dinatoire.« Es war ein bejahrter Fürstengarten, welcher den Weg zur ersten Chaussee im Lande gebahnt hatte. Unterwegs fingen zwar Warnungstafeln gegen Kinder und Hunde an; aber in den champs élysées wurde erst ordentlich alles verboten, besonders die elysischen Felder selber – in keinem Paradies gab es so viele verbotene Bäume und Frucht- und Blumen-Sperren – auf allen Gängen blühten oben oder keimten unten Kerker-Diplome und Aus- und Einwanderungsverbote – unter Expektanzdekreten der Züchtigung durchkreuzte jeder als ein lustwandelnder Züchtling das Eden und feierte Petri Kettenfeier im Gehen und strapazierte sich hinter seinem Rücken – mehr wie eine Wallfahrt durch Dantes Höllenkreise (der Himmel blieb nirgends als über dem Kopfe) denn als ein katholischer Bußgang durch Christi Leidens-Stationen kam jedem unter dem schriftlichen Anschnauzen aller fluchenden Bäume und Tempel sein Lustwandeln vor – – ja der Mensch verstimmte sich zuletzt in den champs und kam fatigiert heraus.[935]

War Walt je froh und frei: so wars in diesen Feldern; sein innerer Mensch trug ein Thyrsus-Stäbchen und rannte damit. Von allen diesen Warnungstafeln war nämlich nichts mehr da als die Tafel, das Holz, Stein, Blech; die Warnung aber war gut vermooset, verraset, versandet. Köstliche Freiheit und Freilassung beherrschte nun Eden, wie ihm Flitte beschwur und bewies. Die ganze Sperrordnung war bloß in jenen Zeiten an der Tagesordnung gewesen, wo große und kleine Fürsten – ganz anders als jetzt die großen – (höflich zu sprechen) etwas grob gegen Untertanen waren, und wo sie als Ebenbilder der Gottheit – welche darin eben nicht von dem Maler geschmeichelt wurde –, dem mehr jüdischen als evangelischen Gotte der damaligen Kanzeln ähnlich, öfter donnerten als segneten. »Was die Herrschaft jetzt etwa im Parke sehr lieb und gern hat«, sagte Flitte, »dies ist schon besonders recht eingezäunt, so daß ohnehin niemand hinein kann.«

Beide nahmen ihr déjeuner dinatoire, Morgenbrot und Morgenwein, in einem offenen und lustigen Kiosk, unweit des Gartenwirts. Der Notar war erwähntermaßen selig; – den auf- und absteigenden Tag- und Nachtgarten samt dem leichten, wie herabgeflogenen Lustschlosse, das ein versteinerter Frühlingsmorgen schien, ferner die Wäldchen, woraus bunte Lusthäuschen wie Tulpen herauswankten, desgleichen die gemalten Brücken und weißen Statuen und die Regelschnüre vieler Hecken und Gänge – – das konnt' er dem Elsasser, dem ers zeigte, gar nicht feurig genug vorfärben, je länger er trank. Diesem gefiels natürlich; denn gewöhnlich führte er seine Claude-Lorrains nur mit dem einzigen Wort und Striche wacker aus: süperb! – Jeder aber hat seine andere Hauptfarbe der Bewunderung; der eine sagt: englisch! – der andere: himmlisch! – der dritte: göttlich! – der vierte: ei der Teufel! – der fünfte: ei! –

Walt aber sagte, obwohl zu sich: »Dies ist von Morgen an, oder ich irre entsetzlich? das wahre Weltleben Eleganter. Bin ich nicht wie in Versailles und in Fontainebleau; und Louis quatorze regiert zurück? Der Unterschied ist schwerlich erheblich. Diese Alleen – diese Beete – Büsche – diese vielen Leute am Morgendieser[936] lichte Tag!« – Walten war nämlich, der Himmel weiß von welchen Frühblicken des Lebens, eine so romantische Ansicht von der Jugendzeit des galanten, liberalen, Länder, Weiber, Höfe besiegenden Ludwigs XIV. nachgeblieben, daß ihm dessen Jugend mit ihren Festen und Himmeln wie eine eigene Vorjugend schön als sanftes Feuerwerk in den Lüften vorschwebte und wie der freie frische Morgen eines im Negligé spazierenden Hofs – so daß ihn jeder Springbrunnen nach Marly warf, jede geschniegelte Allee nach Versailles und hohe Fontange-Kupferstiche an Schränken-Wänden ins damalige Königsschloß, ja sogar die ausgeschnittenen aufgepappten Bildchen auf seinem Schreibtische flogen mit ihm in jene lustige Hof-, wenn auch nicht lustige Völkerzeit. – »Ist nicht das Leben der Hofleute – hatt' er sich mehrmals gesagt – fortgehende Poesie (wenn anders die französischen Mémoires nicht lügen), ohne pressende Nahrungs-Qualen und in geflügelten Verhältnissen, und die Hofmänner können sich an jedem Musik-Abend verlieben und dann am Garten-Morgen mit den herrlichsten Geliebten spazieren gehen? O wie ihnen die Göttinnen blühen müssen im frischen schminkenden Morgen rot!«

Dadurch genoß er im Garten einen ganz andern, schon beerdigten; als Feuerwerk hing das phantastische Nachbild über dem liegenden Vorbild. Glücklicherweise tat ihm Flitte – der in jeder Gesellschaft stets eine neue suchte – den Gefallen, daß er mit dem Garten-Restaurateur in ein Gespräch geriet und ihn dadurch mit der köstlichen Einsamkeit zu einigen träumerischen Streifzügen beschenkte. Wie freudig tat er diese! Er sah alles und dabei an- die grünen Schatten, von Sonnen-Funken durchregnet – die fernen Seen, einige wie dunkle Augenlider des Parks, einige wie lichte Augen – die Barken auf Wassern – die Brücken über beide – die weißen hohen Tempel-Staffeln auf Höhen – die fernen, aber hell-herglänzenden Pavillons – und hoch über allen die Berge und Straßen draußen, die kühn in den blauen Himmel hinaufflogen – Sein Vormittag hatte sich stündlich geläutert, aus reinem Wasser zur Zephyr-Luft, diese oben zu Äther, worin nichts mehr war und flog als Welten und Licht. Den Bruder hätt' er gern hergewünscht[937] – Winas Blick unter dem Wasserfall sah er am hellen Tage. Er war selig, ohne recht zu wissen wie oder warum. Seine Fackel brannte mit gerader Spitze auf in der sonst wehenden Welt, und kein Lüftchen bog sie um. Nicht einmal einen Streckvers macht' er, aus Flucht des Silbenzwangs, es war ihm, als würd' er selber gedichtet, und er fügte sich leicht in den Rhythmus eines fremden entzückten Dichters.

In diesem innern Wohlklang stand er vor einem sonderbaren Garten im Garten und zog fast nur spielsweise an einem Glöckchen ein wenig. Er hatte kaum einige Male geläutet: so kam ein reich besetzter schwerer Hofdiener ohne Hut herbeigerudert, um einigen von der fürstlichen Familie die Türe aufzureißen, weil das Glöckchen den Zweck einer Bedientenglocke hatte. Als aber der vornehme Mensch nichts an der Türe fand als den sanften Notar: so filzte er den erstaunten Glöckner in einer der längsten Reden, die er je gehalten, aus, als hätte Walt die Sturm- und Türkenglocke ohne Not gezogen.

Diesem war indes sein Inneres so leicht und fest gewölbt, daß das Äußere schwer eindringen konnte, nicht mit einem Tropfen in sein leichtes fliegendes Schiff; zu Flitten kehrte er sogleich zurück. Sie gingen heim. Die großen Eßglocken riefen die Stadt zusammen, wie zwei Stunden später kleinere den Hof; dies wirkte auf den satten Notar, der jetzt nicht zum Essen ging, sehr romantisch. Gibt es einen wahren Mann nach der Uhr, der zugleich die Uhr selber ist, so ists der Magen. Je dunkler und zeitlicher das Wesen, desto mehr Zeit kennt es, wie Leiber, Fieber, Tiere, Kinder und Wahnsinnige beweisen; nur ein Geist kann die Zeit vergessen, weil nur er sie schafft. Wird nun dem gedachten Magen oder Manne nach der Uhr seine Speise-Uhr um Stunden voraus- oder zurückgestellt: so macht er wieder den Geist so irre, daß dieser ganz romantisch wird. Denn er mit allen seinen Himmels- Sternen muß doch der körperlichen Umdrehung folgen. Das Frühstück, das ein Spätstück gewesen, warf den Notar aus einem Gleise, worin er seit Jahrzehenten gefahren war, so weit hinaus, daß vor ihm jeder Glockenschlag, der Sonnenstand, der ganze Nachmittag ein fremdes seltsames Ansehen gewann. Vielleicht[938] macht daher der Krieg den disziplinierten Soldaten durch die Verkehrung aller Zeiten in unordentlichen Ebben und Fluten des Genusses romantisch und kriegerisch.

Um die Vesperzeit erschien ihm der Schattenwurf der Häuser noch wunderlicher, und in Fraissens Zimmer wurd' ihm die Zeit zugleich eng und lang, weil er wegen seiner untergrabenen Sternwarte nichts voraussehen konnte. Er wollte wieder Monde und begleitete Flitten in ein Billardzimmer, wo er verwundert hörte, daß dieser die Bälle nicht französisch zählte, sondern deutsch. Hier entlief er bald aus dem magern Zuschauen allein hinaus an das schöne Ufer des Flusses. Als er da die armen Leute erblickte, welche an diesem Tage nach den Stadtgesetzen fischen durften (obwohl ohne Hamen) und Holz lesen (obwohl ohne Beil): so erhielt er plötzlich an ihren heutigen Genüssen eine Entschuldigung der seinigen, die ihm allmählich zu vornehm und zu müßiggängerisch vorgekommen waren: »Auch ich habe« dacht' er, »heute vornehm genug geschwelgt und kein Wort am Roman geschrieben; doch morgen soll ganz anders zu Hause geblieben werden.«

Die langen Abend-Schatten am Ufer und die langen roten Wolken legten sich ihm als neue große Schwingen an, welche ihn bewegten, nicht er sie.

Er durchstreifte allein die dämmernden Gassen, bereit zu jedem Abenteuer, bis der Mond aufging und seine Mond-Uhr wurde. Da war der Wirrwarr gelichtet, und der Magen wußte, welche Zeit es sei. Vor Winas schimmerndem Hause trug er das vielfach erregte Herz auf und ab; da sank ihm in dasselbe eine stille Sehnsucht wie vom Himmel nieder, und den lustigen Erden-Tag kränzte die heiligste Himmels-Stunde.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 927-939.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
Flegeljahre; Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie
Flegeljahre. Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie (insel taschenbuch)
Flegeljahre: Roman (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon