13. Hundposttag

[669] Über des Lords Charakter – ein Abend aus Eden – Maienthal – der Berg und Emanuel


Über den Lord muß ich drei Worte sagen, nämlich drei Meinungen.

Die erste ist ganz unwahrscheinlich: er hält nach ihr wie alle Welt- und Geschäftmänner das Menschengeschlecht für einen Apparat zu Versuchen, für Jagdzeug, für Kriegsgeräte, für Strickzeug – diese Menschen sehen den Himmel nur für die Klaviatur der Erde und die Seele für die Ordonnanz des Körpers an – sie führen Kriege, nicht um die Kränze der Eichen, sondern um ihren Boden und ihre Eicheln zu erbeuten – sie ziehen den Glücklichen dem Verdienstvollen vor und den Erfolg der Absicht – sie brechen Eide und Herzen, um dem Staate zu dienen – sie achten Dichtkunst, Philosophie und Religion, aber als Mittel; sie achten Reichtum, statistischen Landesflor und Gesundheit, aber als Zwecke – sie ehren in der reinen Mathesis und in reiner Weibertugend nur beider Verwandlung in unreine für Fabriken und Armeen, in der erhabnen Astronomie nur die Verwandlung der[669] Sonnen in Schrittzähler und Wegweiser für Pfefferflotten, und im erhabensten magister legens nur den anködernden Bierkranz für arme Universitäten. – –

Die zweite Meinung ist wenigstens der ersten entgegen und besser: dem Lord ist, wie andern großen Menschen, die Laufbahn das Ziel, und die Schritte sind ihm die Kränze – Glück unterscheidet sich bei ihm von Unglück nicht im Werte, sondern in der Art, ihm sind beide zwei zusammenlaufende Rennbahnen zum Ewigkeit-Ringe der innern Erhebung – alle Zufälle dieses Lebens sind ihm bloße Rechenexempel in unbenannten Zahlen, die er durchmacht, aber nicht als Kaufmann, sondern als Indifferentialist und Algebraist, welchem die Produkte und die Multiplikanden gleich lieb sind, und dem es einerlei ist, mit Buchstaben oder mit Zentnern zu rechnen.

Wahrhaftig, der Mensch hat sich fast ebensoviel vorzuwerfen, wenn er mißvergnügt, als wenn er lasterhaft ist; und da es auf seinen Gedanken-Ozean ankömmt, ob er aus ihm die unterste Hölle oder ein Arkadien-Otaheiti als Insel heben will: so verdient er alles, was er erschafft....

Gleichwohl ist die dritte Meinung die wahre und zugleich die meinige: der Lord, so sehr er ein indeklinabler Mensch zu sein scheint, der nach nichts geht, sondern ein Verbum in μι ist, hat doch folgendes Paradigma – (und so liegt umgekehrt im gewöhnlichsten Menschen der kurze Abriß zum sonderbarsten) –: er ist einer der unglücklichen Großen, die zu viel Genie, zu viel Reichtum und zu wenig Ruhe und Kenntnisse haben, um glücklich zu bleiben – sie hetzen Freude statt der Tugend und verfehlen beide und schreien zuletzt über jeden bittern Tropfen, der ihnen in einem Zuckerhut eingegeben wird – gleich der Silberfläche sind sie gerade in der Zerschmelzung durch Freuden-Feuer am geneigtesten, sich mit einer dunkeln Haut zu überziehen – ihr Ehrgeiz, der sonst durch Plane die Leerheit des vornehmen Lebens bedeckt, ist nicht stark genug gegen ihr Herz, das in dieser Leerheit verwelkt – sie tun Gutes aus Stolz, aber ohne Liebe dazu, sie spielen mit dem ausgekernten Leben wie mit einer Locke und halten es nicht einmal der Mühe wert, es abzukürzen – aber doch[670] halten sie es dieser Mühe wert, wenn ihnen, indes sie in diesem Nachtfrost der Seele dastehen, außen lächelnd und kalt, innen überglüht, ohne Hoffnung, ohne Furcht, ohne Glauben, entsagend, spielend und zugeschlossen, wenn ihnen ein Todesfall, ein großer Schmerz ins unglückliche Herz greift. – – Ach armer Lord! kann denn deines nicht eher als unter der Decke des schwarzen Marmors ruhen?

Ach armer Lord! wiederholte unaufhörlich sein Sohn, der nach Maienthal mit einer gepreßten Seele ging. Außen um ihn war der Himmel still; ein großes Gewölk überdeckte ihn ganz, aber es stand ringsum auf einem blauen Saum am Horizont. Hingegen in Viktors Brust zogen Luftströme gegeneinander und wirbelten sich zu einer Windhose zusammen, die Bäche auftrinkt und Bäume aufzieht. – Sein Vater hing bleich in diesem Sturm. – Viktors künftige Tage wurden hin- und hergeschleudert. – Sein künftiges Leben drängte sich in ein enges überflortes Bild zusammen und machte ihn ebenso ängstlich darüber, daß er es leben müßte, als wie er es müßte.

Am wehesten tat ihm gerade die sinnliche Kleinigkeit, daß sein Vater noch allein und verhüllt in der Insel geblieben war. Einmal fiel ihn die Vermutung an, ob nicht das meiste nur dramatische Maschinerie gewesen sei, die sein Vater (der in der Jugend ein Tragödiendichter gewesen) gebraucht habe, um seinem Gelübde der Verschwiegenheit mehr Festigkeit zu geben – aber sogleich ekelte ihn seines eignen Herzens. Warum sind die reinsten Seelen mit einer Menge ekelhafter, giftiger Gedanken gequält, die wie Spinnen an den glänzenden Wänden hinaufkriechen und die sie nur die Mühe totzudrücken haben? Ach unsre Kriege unterscheiden sich nicht ganz von unsern Niederlagen!

Es ist sonderbar, daß er den perspektivischen Gedanken an Klotildens Blutverwandtschaft mit Flamin am wenigsten verfolgte. –

Wenn der Mensch von der Vernunft keine balsamische Mittel erlangen kann: so fleht er die Hoffnung und die Täuschung darum an; und beide zerteilen dann gern den Schmerz. So wie heute nach und nach am Himmel durch lichte Fugen das Blaue durchriß,[671] und wie das Nebelmeer zu hängenden Seen einlief: so gingen auch in Viktors Seele die dunkeln Gedanken auseinander. – Und als die geschwollnen Wolkenklumpen im weiten Blau zu Flocken eingingen' bis endlich das blaue Meer alle Nebelbänke verschlang und nichts auf seiner unendlichen Fläche trug als die herunterlodernde Sonne: so reinigte sich auch Viktors Seele von Dünsten, und das Sonnenbild Emanuels, den er heute erreichen sollte, schien sanft und warm und wolkenlos in alle seine Wunden... Die Gestalt seines geliebten Dahore – die Gestalt seines geliebten Vaters – die Gestalt seiner verhüllten Mutter und alle geliebten Bilder ruhten wie Monde in einer wehmütigen Gruppe über ihm, und diese Wehmut und der heilige Schwur, tugendhaft zu bleiben und allen Wünschen seines Vaters zu gehorchen, wehten seiner entzündeten Brust einigen Trost über das väterliche Schicksal zu.

Er konnte heute noch die Sonne hinter Maienthals Kirchturm untergehen sehen.

Der weite ausgeheiterte Himmel macht ihn weicher – der Gedanke, heute an das Herz eines edeln Menschen zu fallen, dessen Seele über diesem blauen Dunstkreis wohnte, machte ihn größer – die Hoffnung, von diesem Menschen über das ganze Leben getröstet zu werden, machte ihn stiller. –

Er eilte, und sein Eilen zog den wehmütigsten Lautenzug seiner Seele. Denn er ging nicht über die Sommergefilde, sondern die Sommergefilde wandelten vor ihm vorüber – eine Landschaft nach der andern, Theater mit Wäldern, Theater mit Saaten flogen vorbei – neue Hügel stiegen mit andern Lichtern auf und hoben ihre Wälder empor, und andre sanken mit den ihrigen unter – lange Schatten-Steppen liefen zurück vor heranfließendem gelben Sonnenlicht – bald strömten Täler voll Blumen um ihn, bald erhoben ihn heiße leere Hügel-Ufer – der Strom rauschte nahe an sein Ohr, und plötzlich blinkten seine Krümmungen entfernt über Mohnfelder herüber – weiße Straßen und grüne Pfade begegneten und entflohen ihm und zogen um die weite Erde – volle Dörfer rückten mit glimmenden Fenstern vorbei und Gärten mit entkleideten Kindern – die gesenkte Sonne wurde bald erhoben,[672] bald vertieft, bald auf Gipfel der Wälder, bald auf Gipfel der Berge gezogen-

Dieses Vorüberfliehen der Szenen verdunkelte sein benetztes Auge und erhellte die innere Welt; aber das Stehenbleiben eines unaufhörlichen Tones, dieses über ihm bleibende Lerchenchor, dessen streitende Rufe in seiner Seele zu einem zerflossen, dieses entfernte Getöne aus Wäldern und Büschen und Lüften, diese Harmonika der Natur machte, daß er zu sich sagte: »Warum halt' ich in dieser Einsamkeit jeden Tropfen an, der fallen will? Nein, ich bin ohnehin heute zu weich, und ich will mich erschöpfen, eh' ich den geliebten Menschen sehe.«

Endlich stieg er den breiten Berg hinauf, der sich vor das zu dessen Füßen grünende Maienthal mit seinen zerstreueten Baumsäulen und grauen Quadern stellt.... Da klang die vom Ewigen gestimmte Erde mit tausend Saiten; da bewegte dieselbe Harmonie den in Gold und Nacht zerstückten Strom und den sumsenden Blumenkelch und die bewohnte Luft und den durchwehten Busch; da standen der gerötete Osten und der gerötete Westen wie die zwei rosataftnen Flügeltüren eines Flügels aufgespannt, und ein hebendes Meer quoll aus dem geöffneten Himmel und aus der geöffneten Erde...

Er ergoß sich in Freuden- und Trauertränen miteinander, und die Zukunft und die Vergangenheit bewegten zugleich sein Herz. Die Sonne fiel immer schneller den Himmel herab, und er bestieg schneller den Berg, um ihr länger nachzusehen. Und hier sah er in das Dörfchen Maienthal hinab, das zwischen feuchten Schatten glimmte....

Zu seinen Füßen und an diesem Berge lagerte sich, wie ein bekränzter Riese, wie eine versetzte Frühlings-Insel, ein englischer Park. Dieser Berg gegen Süden und einer gegen Norden waren zu einer Wiege zusammengerückt, in der das stille Dörfchen ruhte, und über welche die Morgen- und die Abendsonne ihr goldnes Gespinst hindeckte. In fünf blitzenden Teichen schwankten fünf dunklere Abendhimmel, und jede aufhüpfende Welle malte sich im darüberschwebenden Sonnenfeuer zum Rubin. Zwei Bäche wateten in veränderlichen Entfernungen, von Rosen[673] und Weiden verdunkelt, über den langen Wiesengrund, und ein wässerndes Feuerrad trieb wie ein gehendes Herz das vom Abend gerötete Wasser durch alle grünende Blumengefäße. Überall nickten Blumen, diese Schmetterlinge unter den Gewächsen – auf jedem bemoosten Bachstein, aus jedem mürben Stocke, um jedes Fenster wiegte sich eine Blume in ihrem Duft, und spanische Wicken überzogen mit blauen und roten Adern einen Garten ohne Zaun. Ein durchsichtiges Wäldchen von goldgrünen Birken stieg in hohem Gras drüben den nördlichen Berg hinan, auf dessen Kuppel fünf hohe Tannen als Ruinen einer gestürzten Waldung horsteten.

Emanuels kleines Haus stand am Ende des Dorfes in einem Gestrick von Jelängerjelieber und in der Umarmung eines Lindenbaums, der es durchwuchs... Sein Herz quoll auf: »Sei gesegnet, stiller Hafen! den eine Seele heiligt, die hier gen Himmel sieht und wartet, um ins Meer der Ewigkeit zu gehen!« – Plötzlich warfen die Fenster der Abtei, wo sich Klotilde erzogen hatte, die Flammen des Abendrots auf ihn – und die Sonne ging sanft wie ein Penn nach Amerika – und die dünne Nacht legte sich über die Natur herüber – und die grüne Klause Emanuels hüllte sich ein .... Da kniete er einsam auf dem Gebirge, auf dieser Thronstufe, nieder und sah in den glühenden Westen und über die ganze stille Erde und in den Himmel und machte seinen Geist groß, um an Gott zu denken....

Als er kniete: war alles so erhaben und so mild – Welten und Sonnen zogen von Morgen herauf, und das schillernde Würmchen drängte sich in seinen staubichten Blumenkelch hinab – der Abendwind schlug seinen unermeßlichen Flügel, und die kleine nackte Lerche ruhte warm unter der federweichen Brust der Mutter – ein Mensch stand auf dem Gebirge, und ein Gold- Käferchen auf dem Staubfaden... und der Ewige liebte seine ganze Welt. – –

Sein Geist war jetzt gemacht, einen großen Menschen zu fassen, und er sehnte sich nach der Stimme eines Bruders.

Er wankte ohne Steig ins Dorf hinab, umzogen von den großen Kreisen des Kibitzvogels und von den kleinen des Maikäfers. Am[674] Fuße des Berges war der Zwittertag dunkler – am Sternenhimmel hob sich der Vorhang auf – der Dampf des Abends, der heiß aufgezogen war, fiel kalt, wie Menschen, in die Erde zurück: noch eine laute Lerche drehte sich als das letzte Echo des Tages über dem Berge.

Endlich hört' er Emanuels Linde. – Er hätte ihn lieber unter dem großen Himmel als unter der engen Stubendecke umarmt. Hinter dem Fenster sah er einen außerordentlich schönen Jüngling stehen, der auf der Flöte blies. Dieser zog aus ihren Himmelpforten ein fliehendes schwebendes Elysium; Viktor hörte ihn lange an, um sein schlagendes Herz zu stillen; endlich ging er mit tränenvollen Augen um das Haus und wollte sprachlos und blind an den Jüngling und an Emanuel fallen. Als er vor dem Fenster vorbeiging, erwiderte der Jüngling den Gruß nicht – als er die Haustüre eröffnete, fing ein sanftes Glockenspiel zu tönen an. Sogleich kam der Jüngling heraus und fragte ihn freundlich, wer da sei; denn er war blind. Viktor trat in ein Allerheiligstes, da er in die mit Linden ausgelaubte Stube ging, die den geflügelten Menschen umgab, der jetzt außer derselben unter der großen Nacht Gottes war. Gegen Mitternacht sollte Emanuel zurückkommen. Das Zimmer war offen und rein – einige Blätter von genossenen Früchten lagen auf dem Tisch- um alle Fenster glühten Blumen – ein Sternrohr lehnte an der Wand – Reste einer orientalischen Kleiderkammer verkündigten den Indier. – –

Die Stimme des schönen Jünglings hatte etwas unaussprechlich Rührendes für ihn, weil sie ihm bekannt vorkam; sie zog tief in sein Herz hinein, wie die Melodie eines Liedes, das aus der Kindheit heraufklingt. Er durfte frei mit dem steten Blick der Liebe auf dem in eine ewige Nacht gerichteten Angesicht ruhen; er wollte die kindlichen Lippen voll Melodien küssen und zögerte noch; – aber da er wieder aus dem Hause ging, um Emanuel zu suchen, und da das Glockenspiel wieder anfing – denn es tönte, wenn die Tür auflief, um dem Blinden alles anzumelden –, so konnt' er sich nicht mehr halten unter dem lieblichen Getöne, sondern er berührte den Mund des Blinden, da er am offnen Fenster lehnte, mit einem weichen Kusse wie mit einem Hauch.[675] »Ach Engel! bist du denn wieder vom Himmel herunter?« sagte der Blinde, der ihn mit irgendeinem bekannten Wesen verwechselte.

Wie war draußen alles so gut! Die Abendglocke des Dorfes rief über die entschlummerten Fluren, und eine entfernte Seele neigte sich vielleicht nach ihren verwehten gebrochnen Tönen herüber. Der Abendwind rauschte mit Gipfeln voll grüner Früchte darein. Der Abendstern – der Mond unserer Dämmerung – ruhte freundlich auf dem Wege der Sonne und des Mondes und schickte seinen Trost zwischen die Abwesenheit von beiden. – »Wo wirst du jetzt sein, mein Emanuel? Ruhest du vielleicht vor dem Abendrot – oder schauest du in das Sternenmeer – bist du in der Entzückung, die wir ein Gebet nennen – oder...«

Jetzo blitzte in ihm auf einmal der Gedanke, sein Emanuel sei, da heute nachts der Johannistag anfing, vielleicht am Genusse des Abends verschieden... Er suchte ihn mit den Augen eifriger unter jedem Baume, in jedem tiefern Schatten, er blickte zu den Bergen auf, als könnt' er ihn da sehen, und zu den Sternen, als dürft' er ihn da suchen. – Er umging das Dorf, dessen Ringmauer eine Fruchtschnur von Kirschbäumen war, die mit einer herabgeworfnen Milchstraße von längst gefallnen Blüten den grünen Umkreis versilberten, und eilte über die Ruinen der Häuser, die die Kinder am Tage erbauet hatten, gegen die ausglimmenden Fenster der Abtei zu, die sich am südlichen Berge, wovon er hereingestiegen war, in die Höhe richtete. Denn der Blinde hatte ihm gesagt, daß dieser Berg Emanuels Sternwarte sei, und daß er jede Nacht dahin komme. Die grüne Treppe, die mit Terrassen und Moosbänken absetzte, und an der ein Treppengeländer von Buschwerk hinaufwuchs, führte ihn einem Berge zu, der sich erhaben im Äther mit einer hohen Trauerbirke schloß. Mit jedem Rasenplatz hoben sich, wie aus einem Bade, neue Glieder der dunkeln Natur heraus er zog gleichsam von einem Planeten in den andern. Über das aufsteigende verhüllte Gefilde strömte der Nachtwind und zog einsam von Wald zu Wald und spielte kräuselnd am Gefieder des schlafenden Vogels und des schwirrenden Nachtschmetterlings. Viktor sah hinüber zur Abendröte, die die Nacht wie eine Vorsteckrose[676] vor den Busen, an dem die Sonnen liegen, vorgenommen hatte. Das Meer der Ewigkeit stand in Gestalt der Nacht auf dem Silbersand der Welten und Sonnen, und aus dem Meeresgrund blinkten die Sandkörner tief herauf.

Um die Trauerbirke nahm ein unbekanntes melodisches Tönen zu, das er schon heute auf der Insel gehört: endlich stand er oben unter der Birke, und das Tönen, wie das einer Harmonika, das erst über Paradiese und durch Blumenhecken geflossen ist, war laut um ihn; aber er sah nichts weiter als einen hohen Grasaltar (die Geburtstätte von Emanuels Brief) und eine tiefe Grasbank. Aus welcher unsichtbaren Hand, dacht' er schauernd, gehen diese Töne, die von Engeln abzugleiten scheinen, wenn sie über die zweite Welt fliegen, von vereinigten Seelen, wenn eine zu große Wonne sich zum Seufzer ausatmet und der Seufzer sich in verwehtes Getön zerlegt? Es ist ihm zu vergeben, daß er an einem solchen Tage, der seine Seele in immer größere Erschütterungen setzte, in diesem Schauder der Nacht, unter diesem melodischen Trauerbaum, an diesem Allerheiligsten des unsichtbaren Emanuels, daß er endlich glaubte, dieser sei an diesem Abend aus dem Leben geflohen, und seine Seele voll Liebe fliege noch in diesen Echos um ihn und sehne sich nach der ersten und letzten Umarmung. Er verlor sich immer mehr in die Töne und in die Stille rings um sie – seine Seele wurde ihm zu einem Traum, und die ganze Nachtlandschaft wurde zum Nebel aus Schlaf, in dem dieser lichte Traum stand – die Quelle des unendlichen Lebens, die der Ewige ausgießet, flog weit von der Erde im unermeßlichen Bogen mit den stäubenden Silberfunken der Sonnen über die Unendlichkeit, sie bog sich glimmend um die ganze Nacht, und der Widerschein des Unendlichen bedeckte die dunkle Ewigkeit.

O Ewiger, wenn wir deinen Sternenhimmel nicht sähen, wie viel wüßte denn unser in den Erdenkot untergesunknes Herz von dir und von der Unsterblichkeit?

Plötzlich wurde in Osten die Nacht lichter, weil der zerflossene Schimmer des Mondes an den Alpengebirgen, die ihn bedeckten, heraufschlug – und auf einmal wurden die unbekannten Töne lauter und die Blätter und der Nachtwind. Da erwachte Viktor[677] wie aus einem Traume und Leben und drückte die harmonischen zerrinnenden Lüfte an die schmachtende Brust und rief unter den vorquellenden Tränen, die ihm das ganze Gefilde wie eine Regenwolke einhüllten, außer sich aus: »Ach Emanuel, komme! – ach ich dürste nach dir. – Töne nicht mehr, du Seliger, nimm dein abgelegtes Menschenangesicht und erscheine mir und töte mich durch einen Schauder und behalte mich in deinen Armen!«...

Siehe! als der dunkle Tränentropfen noch auf dem Auge lag und der Mond noch hinter den Alpen verzog: da stieg den Berg herauf eine weiße Gestalt mit zugeschlossenen Augen – lächelnd verklärt – selig – gegen den Sirius gewandt – –

»Emanuel, erscheinst du mir?« rief bebend Horion und riß seine Tränen herab. Die Gestalt schlug ihre Augen auf. Sie breitete ihre Arme aus. Viktor sah nicht und hörte nicht, er glühte und zitterte. Die Gestalt flog ihm entgegen, und er gab sich hin: »Nimm mich!« Sie berührten einander – sie umschlangen einander – der Nachtwind riß durch sie – das fremde Getön klang näher – ein Stern zerschoß – der Mond flog über die Alpen herauf....

Und als er mit seinem Edenlicht die Wangen der unbekannten Erscheinung begoß: erkannte Viktor, daß es sein teurer Lehrer – Dahore war, der heute in den Spiegel der Insel seine Gestalt geworfen. Und Dahore sagte: »Geliebter Sohn, kennst du deinen Lehrer noch? Ich bin Emanuel und Dahore.« Da wurde die Umarmung enger – Horion wollte den Dank für eine ganze Kindheit in einen Kuß zusammenpressen und lag aufgelöst in den Armen des Lehrers und in den Armen der liebenden Wonne.

Umschlinget euch fest, ihr Glücklichen, drücket eure gefüllten Herzen bis zum Tränen-Erpressen an einander, vergesset Himmel und Erde und verlängert die erhabne Umarmung! – Ach sobald sie zerfallen ist, so hat dieses schlaffe Leben nichts Stärkeres mehr, womit es euch verknüpfen kann, als den Anfang des – zweiten....

Emanuel trat endlich aus der Stellung der Liebe heraus und schauete abgebogen, wie eine Sonne, groß und offen in Horions Angesicht und begegnete mit Entzückung dem veredelten Geiste und Angesicht seines blühenden Lieblings. Dieser sank vor dem Blick der Liebe mit aufgehobenem Angesicht unwillkürlich auf[678] die Knie und sagte: »O mein Lehrer, mein Vater – o du Engel, liebst du mich denn noch so sehr?« – Aber er weinte zu sehr, und seine Worte waren unverständlich und erstarben im Herzen.....

Ohne zu antworten, legte Emanuel die Hand auf das Haupt des knienden Schülers und wendete sein verklärtes Auge gegen den schimmernden Himmel und sagte mit feierlicher Stimme: »Dieses Haupt, du Ewiger, weiht sich heute dir in dieser großen Nacht. – Nur deine zweite Welt fülle dieses Haupt und dieses Herz aus und die kleine dunkle Erde befriedig' es nie! – O mein Horion! hier auf diesem Berge, auf dem ich über ein Jahr aus der Erde ziehe, beschwör' ich dich bei der großen zweiten Welt über uns, bei allen großen Gedanken, womit dir jetzt der Ewige in dir erscheint, beschwör' ich dich, daß du gut bleibst, auch wenn ich lange gestorben bin.«

Emanuel kniete zu ihm nieder, hielt den Erschöpften und neigte sich an sein erblassendes Angesicht und sagte leiser und betend: »Mein Geliebter! – mein Geliebter! wenn wir beide tot sind, in der zweiten Welt scheid' uns Gott nie, nie mich und dich!« – Er weinte nicht, aber konnte doch nicht mehr sprechen; ihre zwei Herzen ruhten verknüpft aneinander, und die Nacht umhüllte schweigend ihre stumme Liebe und ihre großen Gedanken.....

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 669-679.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon