36. Zykel

[181] – – Wäre der Lehnpropst von Hafenreffer nicht, sondern nur meine Phantasie: so würd' ich gewiß in meiner Historie fort fahren und der Welt als wahr berichten (und das ganze romantische Schreibgelag ließe sich darauf totschlagen), Albano sei am andern Morgen blind und taub hinter der breit vorgebundenen Binde des Bandagisten Amor dortgesessen – er habe nicht mehr über fünf zählen können, außer abends an der Glocke, um nachher das Froulaysche Wasserhäuschen magisch zu umkreisen wie einer, der das Feuer besprechen will, das sich ihm nach schlängelt – aus den beiden Blaselöchern, womit sentimentale Walfische sich öffentlich ausweinen in Buchläden, hab' er beträchtliche Ströme aufgespritzt – übrigens hab' er kein Buch[181] mehr angesehen (ausgenommen einige Bogen im Buche der Natur) und keinen Menschen mehr (einen blinden ausgenommen) – – »und unter diesen meinen Wundzettel erotischer Wundfieber« (würd' ich am Schlusse meiner Lüge sagen) »setzt wohl offenbar die Natur ihr Sekrets-Insiegel.«

Das tut sie nicht, sagt Hafenreffer; – nichts wie verdammte Lügen sinds; die Sache ist vielmehr so:

Zesara schlich kein zweitesmal mehr in Froulays Garten; eine stolze Schamröte überflog ihn schon bei dem Gedanken an die peinliche, mit der er das erstemal einem mißtrauischen oder fragenden Auge aufgestoßen wäre.

Aber auf diese Weise blieb ihm vor der Heilung die liebe Seele verhüllt wie ihr der Mai; und er quälte sich still mit Berechnungen ihrer Leiden und mit Zweifeln an ihrer Kur. Er schämte sich der Freude während ihrer Trauerzeit und verbot sich den Genuß des Frühlings und den Besuch von Lilar; ach er wußte ja auch, es würde durch den liebenden Frühling und durch das Lilar, wo sie so viele Freuden und die letzte Wunde empfangen, sein Herz zu unbändig werden und zu voll.

Sein Durst nach Wissen und Wert, sein Stolz, der ihm bei dem Vater und seinen beiden Freunden in einem rühmlichen Lichte zu stehen gebot, trieben ihn in seine Laufbahn hinein. Mit allem ihm eignen Feuer warf er sich über die Jurisprudenz und machte keinen andern Weg mehr als den zwischen dem Hörsaale und dem Studierzimmer. Zu diesem Eifer zwang ihn ein eigentümlicher Trieb nach Komplettierung; alles Unvollendete war ihm beinahe ein physischer Greuel; ihn schmerzten defekte Sammlungen abgebrochene Monatsschriften – eingeschlafne Prozesse – Bibliotheken, weil er sie nie auslesen konnte – Leute, die als Akzessisten starben, oder in Bau-Planen, oder ohne ein abgeründetes Denksystem, oder als Gesellen, Tuchknappen und Schuhknechte – und sogar Augustis Flötenblasen, ders nur so beiher mittrieb. Es war dieselbe Stärke, womit er Psyches Flügelpferde den Zügel straff hielt und womit er ihm das Spornrad einstieß; schon als Kind hatte er diese Stärke an der Zurückhaltung des Atems, oder am peinlichen Pressen einer wunden Stelle versucht[182] – und beim Himmel! figürlich tat er ja nun beides wieder. In ihm wohnte ein mächtiger Wille, der bloß zur Dienerschaft der Triebe sagte: es werde! Ein solcher ist nicht der Stoizismus, welcher bloß über innere Missetäter oder Hämlinge oder Kriegsgefangene oder Kinder gebeut, sondern es ist jener genialisch-energische Geist, der die gesunden Wilden unsers Busens dingt und bändigt, und der königlicher zu sich, als der spanische Regent zu andern, sagt: Ich, der König!

– Ach freilich – wie konnte seine warme Seele anders? – stand er oft in der Nachmitternacht am luftigen Fenster und schauete voll Tränen auf die weiße Madonna des ministerialischen Palastes, die der reine Mond versilberte. Ja am Tage zeichnete er oft in sein Souvenir (zufällig wars ein Springbrunnen und eine Gestalt dahinter, weiter nichts) – oder er las im Messias (natürlich fuhr er in dem Gesange fort, den er schon bei der Ministerin angefangen) – oder er belehrte sich über Nervenkrankheiten (war er bei seinem Studieren dagegen gedeckt?) – oder er ließ das Feuer seiner Finger über die Saiten laufen – ja er hätte nichts als Rosen gepflückt, obwohl mit Dornen, wäre ihre Blütezeit gewesen.

Und diese seufzende schwüle Seele mußte sich verschließen! O er war schon in Sorge, jede Taste werde eine Schriftpunze, das Klavier ein Letternkasten und alle Handlungen verräterisch-leserliche Worte. Denn er mußte schweigen. Die erste junge Liebe hat wie die der Geschäftsleute (die kursächsischen ausgenommen) keine Sprachwerkzeuge, höchstens eine tragbare Schreibfeder mit Dinte. Nur die Weltleute, die ihre Liebeserklärungen ebenso wiederholen wie Schauspieler, sind imstande – und aus gleichen Gründen –, sie ebenso zu publizieren wie diese. Aber in der heiligern Zeit des Lebens wird das Bild der geliebtesten Seele nicht im Sprach- und Vorzimmer, sondern im dunkeln stillen Oratorium aufgehangen; nur mit Geliebten spricht man von Geliebten. Ach er hörte über seine Himmelsbürgerin ungern sogar andre reden; und er entwich oft (mit dem innern Rauchopferaltar in sich) aus dem Zimmer, worin man für sie eine Rauchpfanne mehr voll Kohlendampf als Wohlgeruch herumtrug. –[183]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 181-184.
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