Vierte Viertelstunde
Höhere Würdigung des philosphischen Tollseins auf dem Katheder und des dichterischen auf dem Theater

[497] Ich wüßte unter den Schriftstellern niemand als Poeten und Philosophen, welche sich auf dem Papiere dem Tollsein überlassen[497] dürften, das im gemeinen Leben allen vernünftigen Menschen verstattet ist. Im Handel und Wandel sieht man mit Recht das gewöhnliche Tollsein und Leben der Menschen bloß für eine sanftere Wasserscheu an, worin der Patient gesunde Vernunft genug hat und umhergeht in seinen Geschäften, bis der Anfall erscheint und der Patient beißt. Wir sollten überhaupt weniger hart beurteilen und uns alle mehr für höhere edlere Wasserscheue ansehen, zumal da wir die Anfälle unserer Leidenschaftlichkeit wohl tausendmal überstehen, und noch öfter als gemeine Wasserscheue, eh' diese schäumen und anpacken, unsern Nächsten warnen und uns aus dem Wege zu gehen raten.

Doch zu Poeten und Philosophen zurück! Da die Philosophen in eine Schule der Ästhetik nicht als Gegenstände und Schüler gehören, sondern als Lehrer, so berühr' ich ihr Tollsein nur im Vorbeigehen und bemerke, daß die Wasserscheu sich in ihren Schriften mehr als Wassersucht offenbart und folglich, da sie nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopfe arbeiten, an diesem als Wasserkopf, der nach Gall schon als physischer oft ein Zeichen eines geistreichen Gehirns an Kindern gewesen. Natürlich wird hier unter dem Wasser nichts anders sinnbildlich verstanden als jene philosophische Auflösung alles Stoffs durch fortgesetztes Abstrahieren in durchsichtige Form, wiewohl für den tiefen Philosophen schon der Form als Grenze der Unterschiede zu viel Stoff anklebt; weshalb er sogar das Sein als zu enge und dem Verstande zu unfaßbar zuletzt in das Weiteste, Reinste und Begreiflichste, in das Nichts auflösen muß. Und was meint denn der alte Cicero anders als dieses Wasser oder Wasserstoffgas, wenn er versichert, es gebe nichts so Ungereimtes, was nicht irgendein Philosoph einmal behauptet hätte!

Wenn jeder Philosoph Herr ist in seinem Irrenhause und die Weltweisen als die Irren uns für Irrige ansehen können: so sind es noch mehr die feurigen Dichter in ihrem Schauspielhause, und sie können da machen, was sie wollen, nicht nur einen und den andern Hofnarren, sondern auch jeden Narren und Tollen überhaupt. Man lass' es mich hier nur im Fluge anerkennen, daß der Schauspieldichter der eigentliche regierende König unter den andern[498] Dichtern ist. Diese beherrschen mehr eine unsichtbare Kirche und nur Stille im Lande, jener aber eine sichtbare und die Lautesten im Lande. Das Schauspielhaus ist sein St. James und Louvre und Audienzsaal. Was ist das einsame Lese- und Vorlesezimmer der andern Poeten gegen das Oberhaus der Schauspieler und das Unterhaus sämtlicher Zuschauer und Zuhörer und gegen den Souffleurkasten, der den dirigierenden Minister des Innern enthält! Wenn ein anderer Dichter etwan einen einzelnen Deklamator als seinen Proklamator anwirbt, so stellt der Theaterdichter, der als Generalissimus sein stehendes Heer von stehenden Truppen befehligt, mehr als ein Dutzend oder eine ganze Sprechmannschaft von Deklamatoren auf einmal hin, die noch dazu nicht bloß Sprecher, sondern auch Täter des Wortes sind. Kurz der Theaterdichter versammelt und vereinigt, wenn man Logen, Parterre und Galerie recht abwägt, um seinen Thron gerade die drei Stände, wovon der letzte und breiteste, der dritte oder die Groschengalerie, den andern Poeten abgeht.

Um desto wichtiger wird durch den hohen Stand des Bühnendichters jedes Reden, Lispeln, Stammeln, Schnauben, ja Husten desselben; – und hier gelangen wir endlich zur Tollheit. Poeten suchen und pflegen sie sehr, und die tragischen würden gern, wenn sie dürften, ganze Stücke hindurch im Wahnsinn sprechen, anstatt daß man ihnen dafür bloße Leidenschaft als Surrogat vergönnt. Zum Glücke hat der neuere Dichter den Ausweg erfunden, im Stücke eine oder ein paar Personen anzustellen, welche toll sind. In diesen kann der Tragiker bequem leben und weben; ihm als König werden, wie in England, die Reden nicht zugerechnet, die er durch seinen Bühnen-Minister halten läßt. Wie ein Mann im Mittelalter Campionen oder Champions oder Geschäftträger haben konnte, die statt seiner fochten und schwuren, ja die statt seiner tranken: so ist ein Wahnsinniger ein guter Champion des Poeten, und er kann sich durch ihn aussprechen, so daß ihm ein oder ein paar Tolle im Stücke wohl so gut als dem Mittelalter die Narren- und Eselfeste und die Fastnachttollheiten zuschlagen, diese bekannten Ableiter und Abführmittel angehäuften Tollheitstoffs. Wenn Schiller, Goethe keine Wahnsinnige,[499] und Shakespeare nach Verhältnis seiner Stücke-Zahl nur wenige aufzeigt: so braucht der neuere Tragiker davon keine Anwendung auf sich zu machen, er kann ihrer nicht genug auf- und unterstellen, und könnt' er sich in jedem Akte eine närrisch gewordne Rolle, wie sonst in Frankreich jedes Schweizerregiment einen Regiment-Hanswurst, halten: desto wohltätiger wirkte es auf ihn, ja auf den Spieler selber, er müßte denn gar noch etwas Besseres, nämlich das Beste erringen. Und dies wäre ein Trauerspiel, worin lauter Verrückte aufträten und kein einziger vernünftiger Mensch; aber dahin hat die Kunst noch weit. Begnügen wir uns mit den Tollen, die wir wirklich besitzen. Auch diese wenigen erleichtern dem Dichter und dem Spieler das Darstellen sichtbar, da der Wahnsinn eine Unzahl Linien, der Sinn hingegen nur eine bestimmte zu wählen und zu treffen gibt, und da wieder diese eine jedem zum Beurteilen bekannt ist, jene aber nicht allen, so wie einer ähnlichen Unbekanntschaft wegen ein Baumschlag leichter zu zeichnen ist als ein Menschen-Angesicht.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 497-500.
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