6. Anakreontische Ode

[12] Ich kann kein Haller werden

Und in erhabnen Liedern[12]

Von hoher Weisheit singen;

Ich kann nicht, muntres Scherzen

Mit Wissenschaft zu zieren,

Nach Hagedorns Exempel,

Viel lesen und viel denken;

Ich kann mit Schlegels Fleiße,

Mit Schlegels großem Geiste

Kein Trauerspiel erfinden;

Ich kann nicht Fabeln machen,

Wie Gellert zärtlich fühlen,

Wie Gellert edel denken;

Ich kann nicht, kühn wie Klopstock,

In prächtgen neuen Tönen

Die Mädchen ernsten Tiefsinn,

Die Stutzer Andacht lehren.

Viel minder wie die Zyrcher

Patriarchaden schaffen;

Auch kann ich nicht wie Lessing

Von Thieren, Pflanzen, Steinen,

Von Türken und Gespenstern,

Selbst Weisen zum Ergötzen,

Sind sie nur keine Alten,

Sind sie nur keine Türken,

Sind sie nur keine Steine,

Anakreontisch scherzen.


Was Henker soll ich machen,

Daß ich ein Dichter werde?

Gedankenleere Prose,

In ungereimten Zeilen,

In Dreyquerfingerzeilen,

Von Mädchen und von Weine,

Von Weine und von Mädchen,

Von Trinken und von Küssen,

Von Küssen und von Trinken,

Und wieder Wein und Mädchen,

Und wieder Kuß und Trinken,

Und lauter Wein und Mädchen[13]

Und lauter Kuß und Trinken,

Und nichts als Wein und Mädchen

Und nichts als Kuß und Trinken,

Und immer so gekindert,

Will ich halbschlafend schreiben.

Das heißen unsere Zeiten

Anakreontisch dichten.


Quelle:
Abraham Gotthelf Kästner: Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Theil 1 und 2, Teil 2, Berlin 1841, S. 12-14.
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