123. An Mademoiselle R.S.D.[39] 1

So soll ich dich, entzückend Fiekchen, missen,

Das Unschuld nur, sonst nichts, zum Kinde macht!

Und soll nicht mehr die zarten Lippen küssen,

Aus denen Witz von achtzehn Jahren lacht.

Dein sanfter Ernst, dein sittsam muntres Wesen,

Das allzu oft erwachsnen Schönen fehlt,

Der edle Trieb, mit so viel Lust zu lesen,

Als jener Fleiß groteske Tarocs zählt;[39]

Dein gütig Herz räumt, was es selbst begehret,

Großmüthig Kind! des Bruders Wünschen ein,

Fühlt seine Pflicht, eh' man sie ihm erkläret,

Braucht kaum belehrt und nie vermahnt zu seyn.

Was mahl' ich noch ein Bild, das mich nur kränket?

Wenn Zeit und Ort das Vorbild mir entzieht.

Sey dessen werth, was dir die Vorsicht schenket,

Dem so viel Reiz, beglückter Jüngling, blüht.

Fußnoten

1 Sie war 1756, als ich Leipzig verließ, etwa acht oder neun Jahre alt.


Quelle:
Abraham Gotthelf Kästner: Gesammelte poetische und prosaische schönwissenschaftliche Werke, Theil 1 und 2, Teil 1, Berlin 1841, S. 39-40.
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