Dritter Akt

Die Warte. Im Palais des Prinzen. Der Hintergrund eine einstige große Glaswand, hinter der die Nacht heraufzieht. Ein paar astronomische Geräte. In der Mitte des Raumes ein breites Lager, mit weißen Fellen bedeckt, daneben ein Tischchen mit einer Kleinen elektrischen Stehlampe (rotseidener Schirm) und einem Samowar. In der Nähe ein einfacher Sessel. Rückwärts links ein amerikanischer Schreibtisch mit Telephonapparat. Tür links vorne. Die Seitenwände schmucklos weiß. Dämmerung. Der Himmel hat einen fahlgrünen Glanz, der bald erlischt.

Der Prinz auf dem Diwan, das Gesicht in Felle vergraben, unbeweglich.

Die Sängerin tritt ein. Sehr einfach, dunkel gekleidet. Sie bemerkt den Prinzen zuerst nicht, nimmt den Hut ab, streift die Handschuhe von den Händen. Ihre Hände sind rein von Ringen. Dann geht sie leise zu dem Ruhebett, sinkt in die Knie und streichelt leicht sein Haar.


DIE SÄNGERIN.

Lieber – – Lieber du – –

DER PRINZ wie aus tiefem Schlaf aufkommend, setzt sich auf.

Du bist da. Wie gut!

DIE SÄNGERIN sieht ihn lange an.

Willst du sprechen, sprich!

Willst du schweigen, schweig![105]

Tut meine Hand dir gut? Sonst nehm' ich sie von deiner Stirne.

Soll ich gehn, soll ich bleiben? Sprich, Kind!

Soll ich zu deinen Füßen einschlafen?

Gott hat uns für viele Freuden zu strafen.

Sei nicht traurig, weil wir traurig sind.

DER PRINZ hält ihre Hände fest.

Bleiben – bleiben! Nur warten – ein wenig warten.

Laß mich auftauchen. Ich war unten tief,

im verdammten Garten.

Meine Seele war müde, mein Leib entschlief.

Träume haben bös meine Stirne umgeißelt.

Sie brachen das Herz mir aus, einen weißen Stein, und haben Zeichen hineingemeißelt.

Ich muß sie lesen. Hilf mir! –

DIE SÄNGERIN.

Wie kann ich dir helfen. Ich bin nur du.

Leidest du, leide ich.

Ich habe nicht Rat, nicht Hilfe, nur ein Grenzenloses an Liebe für dich.

Einen Körper, von Urzeit für dich geboren,

eine Seele, ganz in die deine verloren.

Mach deine armen, geblendeten Augen zu.

Noch ist Tag. Sein Licht tut dir weh.

Du hast heute zu früh in sein graues Licht geschaut.

Schlaf ein! Ich will dir die Träume mit wachen Fingern von der Stirne jagen.

Wenn die Nacht unser hohes Zimmer eisigen Schauders durchblaut,

Will ich dir tausend liebe Worte sagen – –[106]

DER PRINZ sehr leise.

Wenn Nacht wird, höre ich aus den Armensünderzellen

tausend Schreie an die tauben Steine gellen.

Glaubst du, ich werde deine Worte hören?

DIE SÄNGERIN erhebt sich langsam, traurig.

Nein, du hast recht. Du bist schon so weit von mir.

Wie könnte dich meine Stimme erreichen!

Und könnte sie's, sie würde jenen Stimmen nicht gleichen,

die du hörst. Meine Stimme nicht mehr.

Aber sieh meine Hände, sieh mein Auge!

Wer hat Hände, die so kühl deine verbrannten Augen bedecken?

Wer hat Arme, die sich so sehnend nach dir strecken?

Von allen Unseligen, die du liebst, sag', wer?

DER PRINZ leise, traumhaft.

Ich sah einen, der trug seine Arme an den Rücken gebunden,

er hätte sie gerne nach meinem Nacken gestreckt,

seine Hände waren vom Schlagen an Gitter und Steine zerschunden,

seine Hände waren blutbefleckt.

DIE SÄNGERIN ihm ganz nahe, in höchster, schmerzlichster Verführung.

Wenn meine Hände dich nicht mehr finden können,[107]

sieh meinen nackten Mund nach dir bluten und brennen!

Du hast noch nie meine Lippen geküßt –

Küß mich!

DER PRINZ ganz wach, in unsäglicher Qual.

Mein Mund ist verdorrt und wüst,

seit jenes Mörders Mund auf ihm brannte,

seit meine Seele, seit mein Geschlecht

jenen verdammten Leib erkannte,

seines Sterbens Schmach, seines Lebens Recht,

kann dein heiliger Mund mich nimmer verführen,

können meine verdurstenden Lippen

keines Weibes segnenden Mund mehr berühren!


Er kauert sich verzweifelt in den Sessel.


DIE SÄNGERIN läßt sich müde auf den Diwan nieder.

Ja, ja, ich weiß. Ich wußte es, ehe ich herkam.


Pause.


Mein armer, kleiner Freund. Nun sind wir wieder ganz allein,

jeder für sich.

Und diese Nacht sollte für uns die Nacht aller Nächte sein,

heilig wie unsere Sterbenacht.

DER PRINZ wieder leise.

Unser Sterben ist unheilig auf Erden,

Blutig wie unser Geborenwerden.

Denke, es kann geschehn,

daß zwei Menschen, zwei weibentbundene, einander in die Augen sehn,[108]

daß die Ferne fällt, die ihr Blut sonst scheidet,

daß sie miteinander auf die gärende Erde sinken,

daß sie auseinander

Lust und Tod und den Gottrausch trinken –

und daß dann einer dem andern den Hals abschneidet.

DIE SÄNGERIN bedeckt ihr Antlitz.

Entsetzlich!

DER PRINZ.

Denk' das doch aus! – Das kann geschehen!

Ich habe es heute erfahren,

Ich habe heute noch vieles erfahren.

Du tatest es nicht, ich auch nicht.

Aber gab es nicht Augenblicke, wo

vielleicht nicht wir – aber in uns einer daran dachte?

Woher kommt all das Böse in uns?

Aus welchen schwarzen, abgründigen Quellen steigt es in unser Blut herauf?

Mit welchen Ketten, an welche Höllen sind wir gebunden?

Sie sagen »Mord« und »Mörder«. Sie sprechen von Gerechtigkeit,

Aber bis einer zum »Mörder« wird – was kommt denn über ihn?

Wir sind nicht schlecht. Wir sind nicht schlecht!


Mein Bruder, das Tier heute, sagte »Mutter« zu mir, wir drängen uns nach Güte, Liebe tut uns wohl. Wir morden nicht, wenn man uns lieb hat.

Und dennoch kann es geschehen.

Denke, wie einer dasitzen muß im äußersten Dunkel[109] und alles Böse heraufkratzen muß mit seinen Nägeln, bis er so weit ist. Denke, wieviel Liebe an ihm vorbeigegangen sein muß, bis er die Liebe anfällt und mordet Wieviel Güte man ihm aus den Händen geschlagen hat, bis solche Bosheit über ihn kam. Kannst du das denken?

DIE SÄNGERIN. Hast du früher nie daran gedacht?

DER PRINZ. Nein! Das ist der Fluch! Das ist das Grauen! Als du mich gestern etwas Ähnliches fragtest, verstand ich dich nicht. Ich war ein Götze, ein blindes Gestirn. Ich habe nichts gewußt von dem Schweiße der Heizer auf unsrem Schiff. Ich ging in Bordelle und habe die Angst der Dirnen nie gespürt. Wenn ich nachts auf Beute durch die unbeleuchteten Hafengassen strich, gellten Schreie zu mir. Ich habe nicht gefragt, ob sie von Liebenden, von Kreißenden, von Sterbenden kamen.

DIE SÄNGERIN. Du warst ein Gott, ein schöner Stern.

DER PRINZ wendet die Augen langsam dem Fenster zu. Es ist ganz Nacht geworden. Der Himmel beginnt von Gestirnen zu glühen. Ja, ich war etwas Ähnliches. Meine Mutter war eine Göttin. Die dort Er weist nach den Sternen. waren meine Brüder. Nicht, die hier unten lebten und starben.


Himmel, durch die ich flog,

Erglühten in tausend Farben[110]

Um mich, der einsam – Sternadler – seine großen Kreise zog.

Nur du warst noch. Meine Bahn lief dir entgegen.

Aber nicht Suchen, nicht Sehnsucht war in mir.

Ich konnte geruhig des Nachts mit meinen Sternbrüdern Zwiesprache pflegen,

ohne zu fragen nach dir.

Du mußtest doch kommen. Oh, daß ich dich nun verlor!

Denn nun hat mich die Erde mächtig angezogen,

meine kosmische Bahn hat sich herabgezogen

und ich stürze – ein schwarzer, rauchender Meteor.

DIE SÄNGERIN.

Und hier, sag' hier –

kann hier mich nichts mehr dir verbinden?

Kann in der Hölle, in der wir sind,

nicht einer zum andren finden?

DER PRINZ schmerzlich.

Es sind so viele zwischen dir und mir,

es sind so viele Münder vor deinen Küssen,

aus denen Schrei und Fäule gellt,

es sind so viele Augen aufgerissen,

in die mein Blick fällt,

daß er eh' auf dem Weg erblindet,

eh' er zu deinen geliebten Augen findet.

DIE SÄNGERIN senkt das Haupt.

Ja, nun sind wir entzweit,

und schienen eins, einander geschenkt für die Ewigkeit.[111]

Und statt daß aus unsrem reinen Blute

Freuden gewitternd einander entgegenblitzen,

wird vielleicht in der nächsten Minute

der Haß zwischen uns sitzen –!

DER PRINZ entsetzt. Nein, nein! Das nicht! Das nie! Bitte, mach Licht, wir erfrieren im Dunklen!


Der Schein der kleinen elektrischen Lampe wirft ein warmes, rötliches Licht um beide.


DER PRINZ Schweigen. Dann ganz leise, innigst. Wir haben einander doch lieb. Das ist doch geblieben. Sie geht scheu wie ein Kind zu ihm, kniet nieder, küßt seine Hände. Sie sehen sich wieder lange an, ihre Lippen berühren sich nicht.

DIE SÄNGERIN steht auf, geht zum Tisch. Ganz ruhiger Ton. Darf ich dir den Tee bereiten?

DER PRINZ ebenso. Bitte. Mich friert ein wenig. Ich war den ganzen Tag draußen. Es hat stark geregnet. Sie zündet den Samowar an, gießt dann den Tee ein, und so weiter.

DER PRINZ grübelnd. Wir wollen nachdenken. Wir wollen zueinander sprechen. Es liegt vielleicht nur daran, daß ich nie über diese Dinge gesprochen habe. Seit jener Stunde, da ich als Knabe um dich sterben wollte, war ich wie gebannt in den Kreis meines Selbst. Niemand[112] trat herein. Nie trat ich heraus. Die Leute, die mit mir redeten, sprachen in fremden Zungen – und Madonna sprach nie. Vielleicht ist es nur das. Du bist klug. Du bist weise. Du hast gelitten. Du warst nicht fünf Jahre allein auf dem Meer. Dich hat nicht das fremde Leiden angefallen wie ein reißender Panther, der einem an die Kehle springt. Stück für Stück war es dir bloß, Maske auf Maske nahm sich die Menschheit vor deinen Augen ab und es blieb immer noch ein Gesicht übrig, wo ich nur enthäutetes, blutiges Fleisch sehe. Sprich du zu mir!

Ich bin heute, nachdem ich von dort kam, durch die Straßen gegangen. Nicht durch verrufene, ungewöhnliche, in denen das letzte Elend hockt und zuckt, durch ganz ruhige Straßen. Man schlug Pferde, in den Fleischerläden hing Geschlachtetes, in reichen Geschäften bedienten unausgeschlafene Kommis unbarmherzige Damen, kleine Beamte eilten nach Hause und in ihren Gesichtern stand Ärger und Hunger, nicht Liebe nach heimischem Tisch, Arbeiter brachen trotzig aus Fabrikstoren und ließen das Werk wie einen Fluch hinter sich zurück, junge Männer sprachen Ladenmädchen an und ihr Blick mühte sich nicht, Bosheit und Geiles zu verbergen. An einem Orte machte ein Homosexueller mir Anträge. In einer einzigen ruhigen Straße war soviel Hölle, daß Dante verstummt wäre.

Warum ist das so?

DIE SÄNGERIN leise, nachdenklich. Wir sind nicht gut genug zueinander.[113]

DER PRINZ lebhaft. Aber warum nicht? Was hindert uns? In jedem von uns ist süßeste Güte. Und auch, der selbst nichts Gutes zu tun vermag, sehnt sich nach Güte, weiß also von ihr, wir sind nicht schlecht!

DIE SÄNGERIN. Nein. Wir tun ja oft Gutes – große, gute Taten – mit prunkenden Gebärden. Aber wir unterlassen sooft das Kleine, wir versäumen soviel gegen einander. Wir unterdrücken Worte, Liebkosungen, Gebärden, weil uns der Ort nicht richtig scheint, die Zeit unangebracht. Und diese unausgegebene Güte, die wir feig erspart haben, fehlt dann irgendwo in der Welt. An ihre Stelle tritt Leeres und im Chaos brütet das Böse. Und mehr noch – diese unverbrauchte Güte, diese angebrachten Opfer werden Bodensatz in uns, kehren sich gegen uns, wandeln sich in fressenden Eiter, verbitterte Reue, – endlich Haß – –

DER PRINZ. Ja, daran ist etwas Wahres. Schwer. Also sind wir Verdammte.

DIE SÄNGERIN. Nein, das glaube ich nicht. Nur noch nicht Erlöste.

DER PRINZ. Noch nicht Erlöste. Früher einmal muß Urhaß gewesen sein. Menschen fraßen einander, Brüder schlugen Brüder tot, Söhne die Väter, Männer die[114] Weiber. »Sie erkannten einander.« Und da kam der Haß über sie. Noch waren ihre Augen trübe, sie erkannten einander schlecht. Und ungeheure Brocken Haß, ererbte Sünde schwimmen von damals zwischen uns. Wer erlöst uns vom Haß, wie wir lieben wollen? Was erlöst uns vom Haß?!

DIE SÄNGERIN ganz einfach. Ich denke, daß wir gut zueinander sind, mein Geliebter – an allen Orten, zu jeder Zeit.

DER PRINZ unruhig. Nein, nein, das ist es noch nicht. Kam nicht Einer, der war gut – zu jeder Zeit, an allen Orten, zu den Lebendigen und den Toten? Ja, seine Güte war so stark, daß sie im Grimm den Tod in die Knie zwang. Lazarus kam aus dem Grabe! Und wir sind nicht erlöst.

DIE SÄNGERIN. Daß wir alles Leid auf uns nehmen, aller alles Leid, die uns begegnen – ist das nicht genug?

DER PRINZ. Nein. ER nahm alles Leid auf sich. Er stöhnte im Ölgarten und schrie nach Engeln um Hilfe. Er wand sich an der Säule unter Geißelhieben. Er blutete auf Golgatha unter Nägeln und Dornen. Und wir sind nicht erlöst.

DIE SÄNGERIN. Ich weiß nicht. – Als Kind las ich oft in der[115] Passion. Und in meinem Gebetbuch stand: »O agnus Dei, qui tollis peccata mundi.«

DER PRINZ langsam. Der du die Schuld der Welt trägst. Er steht auf, preßt die Hände auf sein Herz. Lange Stille. Er trug sie nicht. Erkennend. Er trug sie nicht! Fast jauchzend. Er trug sie nicht!! Sehr hastig, zitternd vor innerer Erregung. Er hat unsre Schuld nicht auf sich genommen. – Höre, als Kind – später dachten wir nicht mehr daran – als Kind erschien es dir noch ungeheuer sinnlos, daß wir erlöst sein sollten, weil wir einen Unschuldigen ermordet haben! Weil ein Unschuldiger sich ermorden ließ? Wir haben ein Lamm geschlachtet! Wir haben uns die Hände nur blutiger gemacht. Seither waren Morde, Kriege – Scheiterhaufen brannten, Städte verkohlten, Fabriken explodierten, Pogrome wurden abgehalten! Wir haben ein Lamm geschlachtet! Halleluja! Er fällt, am ganzen Körper zuckend, in den Sessel zurück.

DIE SÄNGERIN. Geliebter! Geliebter!

DER PRINZ.

Nein, nein. – Laß mich das zu Ende denken.

Hier ist kein Zurück mehr.

Die Schuld, die Schuld, die von Urzeit her,

– vom Weibe, vom Manne, was weiß ich von wem? –

sie blieb ungetilgt, blieb finster und schwer,

Galle in unseren Seelen zurück.

Ihm war sein Sterben ein brennendes Glück![116]

Er hing am Kreuz – doch als Gott ihn verlassen,

da konnte er es – der Reine – nicht fassen,

er forderte Gott, er zwang ihn zu sich.

Seine blendende Stirn den Engeln glich,

die ihn umflogen, die ihn umrauschten,

deren Gewande im Winde sich bauschten.

ER hat die Schuld nicht auf sich genommen?


Leise, grübelnd, in dynamischer Steigerung.


Es müßte einer kommen,

der die Schuld ausbräche, den finsteren Stein,

das Böse, den Haß aus den Menschenherzen,

der unter tausend Schmerzen

aussaugte aus unserem Blute

der Sünde giftigen, schäumenden Wein,

er müßte – wie ER ein Gütiger, Reiner,

ein Leidender, Liebender wie keiner –

nicht nur die Geißeln, die Nägel, die Plagen,

er müßte ruchlose, unsühnbare Schuld

in seiner Seele ertragen.

Er müßte, in Gottes ewigen Anblick versunken

verzweifelt sich bäumen von den Knien,

zerreißen müßt' er die donnernden Harmonien,

die seine schaudernde Seele getrunken.

Er dürfte in seiner letzten Stunde

nicht ein Gerechter Gott anrufen,

nicht über feurige Stufen

der Qual zu Gott empor

schreiten mit reiner, leuchtender Wunde –

sondern befleckter, schuldiger als alle

aller Schuld zum Richtplatz tragen

und im letzten grausigen Falle

entweihte Stirne an schmutzige Steine schlagen,[117]

ein der Versuchung erleg'ner Versuchter,

ein vom Fluch in die Hölle Verfluchter,

ein Schächer, ein Mörder, ein Ausgespiener,

von sich selbst, von den Menschen ans Kreuz Geschriener,

um den Hals den Strick, die Augen aufschlagen

und zu allem – schweigen und wissen, nicht sagen:

Für euch! Für euch!

DIE SÄNGERIN in allen Tiefen erschüttert.

Und die Schuld, die Schuld, die er beginge –?

DER PRINZ mit unheimlichem Lächeln.

Eine, die Hals und Seele

auf ewig in drosselnder Schlinge finge.

DIE SÄNGERIN.

Gibt's eine?

DER PRINZ ausweichend.

's gibt viele.

DIE SÄNGERIN.

Nenn' eine!

DER PRINZ.

Schuld wider das Leben.

DIE SÄNGERIN.

Gott hat dem Schächer vergeben!

Sagtest du nicht selbst:

Wir sind alle am Leben schuldig geworden.[118]

Ich habe getötet – mit Haß und Tücke.

Gedanken – Taten – wo führt eine Brücke?

Die Liebe vergibt.

DER PRINZ.

Die Liebe ermorden.


Starres Schweigen. Sie schreit auf. Auf ihn zu.


DIE SÄNGERIN. Wo bist du? Wo bist du? Du hast mich töten wollen in diesem Augenblick. Mich! Wo hast du dein Messer? Gib her! Gib her! Sie ringt mit ihm, schreiend. Ich will nicht!! Zu Hilfe!! Ich liebe dich! Gib dein Messer!

DER PRINZ starr, geisterhaft, öffnet seine Hände. Ich habe kein Messer.

DIE SÄNGERIN läßt von ihm ab, plötzlich totmüde. Vergib!


Sie geht zum Lager, wirft sich müde nieder.

Lange Stille.


DER PRINZ unendlich traurig. Ich habe dich nicht töten wollen, Liebste!

DIE SÄNGERIN die Hände unter dem Kopfe kreuzend. Nein. Ich weiß. Ich war wahnsinnig vor Angst. Ich glaube, ich fiebere von deinen Worten. Vergib!

DER PRINZ mit der gleichen monotonen Traurigkeit, den Ton festhaltend bis zum Schluß. Aber weißt du nun, welche Schuld der Erlöser auf[119] sich hätte nehmen müssen? Es gab eine gute Dirne, Maria von Magdala, die ihn liebte. Wenn er sie eines Tages erschlagen hätte, glaubst du, er hätte noch fragen können: »Mein Gott, warum hast du mich verlassen?« Er hätte es dann gewußt Glaubst du nicht, daß wir dann erlöst wären, daß keine Schuld mehr wäre nach dieser?

DIE SÄNGERIN still. Ich weiß nicht. Ich will das Licht verlöschen. Es ist Nacht geworden.


Sie dreht, ohne steh aufzurichten, das Licht ab. Himmel. Sterne.


DER PRINZ. Wie in südlichsten Nächten flammt der Himmel. Zärtlich, traurig. Sieh, nun sind wir wieder ganz allein und die Gestirne kreisen um uns wie ehedem. Es ist kalt und klar geworden.

CHORUS DAMNATORUM leise.

Die wir im Dunklen wohnen,

in den Häusern der Schuld,

unsre Weiber sind welk,

unsre Männer sind müd,

unsre Kinder sind alt,

Väter und Mütter faulen.


Treibriemen zerschnitten sie,

Dampfhämmer zerschlugen sie,

Wasser schluckte sie gurgelnd

Lokomotive zerriß sie feurig,

und zeugten mich doch,[120]

gebaren mich doch,

in Liebe.


Unsre jungen Schwestern lernen huren,

unsre alten Schwestern müssen hungern,

unsre Brüder schießen nach der Scheibe

in Kasernen.


Um unsre schwarzen Häuser der Wind,

um die Häuser aus Eisenbeton,

rauschender Bote von Meer und Strom,

feuchter Engel bläst Krankheit durchs Fenster,

das scherbenzerschmissene.

Rote Duchent bauscht sich

ob uns weinend Gepaarten,

Kerze flackert in unsrem Husten,

Gasflamme ächzt im Rechaud.

Vorhang aus blauem Kattun,

Erbstück und Freude des Zimmers,

flattert schreiend hinaus.

Fahne und Angst in die Gassen.

Erbarmen, Erbarmer,

Erbarmen!

DER PRINZ unbeweglich. Nein, dort zieht Schwarzes herauf, Gewölk greift nach den Sternen. Bald wird es den Himmel gefressen haben. Bald wird es ganz finster sein.

DIE SÄNGERIN. Wie sanft deine Stimme ist! Sprich, du Dunkler, du Liebender, du Geliebter, mein Tod! Sing mich ein mit deinen sanften Worten! Sing mich ein und dann komme![121]

DER PRINZ näher an der Glaswand. Bald wird es ganz finster sein. Wolken droben, schwere, nasse Wolken. Als hätten sie alle Tränen getrunken. Von allen Menschenaugen alle Tränen. Bald regnet es Tränen – – –

CHORUS DAMNATORUM wachsend.

Höre, höre:

Wir treiben über die Meere,

Auswandererschiffe

sind unsre ewige Heimat.

Zwischendeck unsre Arche

über dem Meer, das sich nährt

vom Salz unsrer ewigen Tränen.


Höre, höre

wir wandern über die Erde,

Erde, die wir geknetet,

aus dem Lehm unsrer Herzen.

Wir sind der Grund der Städte,

aus unsren Herzen wachsen

Dome, orgeldurchdonnert,

Mörtel sind wir der Steine,

zu Fabriken getürmten,

drin unsre Enkel verkohlen.

Weh unser Samen, was haben

wir ihn in Weiber geschüttet,

statt ihn hinab zu den Vätern

in die Erde zu werfen,

daß er verdorr! Weh,

wehe, ich höre mein Blut[122]

rauschen in einem Sohne,

der mich verflucht, daß er lebt!

Erbarmen, Erbarmer,

Erbarmen!

DER PRINZ in unaussprechlicher Bewegung.

Menschen, weinende, – Mütter, Brüder, Schwestern,

Kinder, Frauen, – all

ihr weinenden,

geliebten, geliebten Menschen!

DIE SÄNGERIN sehnsüchtig.

Komm – – komm – –

DER PRINZ.

So viele weinen in der Nacht! Hörst du sie?

Schwerer, schwerer werden die Wolken.


Es dunkelt. Traurig lächelnd.


Wollen wir nun Hochzeit feiern?

DIE SÄNGERIN gehorsam.

Ja.


Sie steht auf, läßt ihre Kleider fallen, streift ihre Schuhe ab und legt sich ruhig wieder hin. Unterdessen.


CHORUS DAMNATORUM ganz leise, verhallend.

Wir sind hungrig, Herr.

Wir sind durstig, Herr.

Wir sind nackt, Herr.

Wir wohnen im Gefängnis.

Wir sterben allein im Spital.[123]

Oh setz' dich zu uns, Herr.

Wir brauchen nicht Brot.

Wir wollen nicht Wein.

Was sollen uns Kleider

aus Seide und Zobel?

Nur daß du bei uns bist.

Nur daß du uns ansiehst,

uns immer alleine.

uns spärlichst geliebte.

Erbarmen, Erbarmer,

Erbarmen!

DIE SÄNGERIN die Hände unter das Haupt gekreuzt.

Komm!

DER PRINZ.

Ich komme. Nun komm ich zu dir.


Im letzten Sternenlicht funkelt ein malayischer Kris in seiner Hand auf.


Über alles Geliebte,

Alles, was gut hieß, warst du.

Lächeln warst du. Mai meiner Seele.

Freude kam von dir.

Liebe kam von dir, schmerzlose, ewige.

Gesegnete.

Über alles Geliebte.


Er naht sich ihrem Lager. Die Nacht schlägt über ihnen zusammen.

Völlige Finsternis.

Ein kurzer, leiser Aufschrei.

Lange, endlose Stille.

Man hört seine Schritte durch den Baum schwanken. Er tastet sich zum Schreibtisch.

Wieder Stille.

Auf einmal schrillt das Telephon auf.
[124]

DER PRINZ. Hallo! Bitte, Fräulein, dringend. Verbinde. Sie mich mit dem nächsten Polizeikommissariat.

Hallo! –

Ja, Gutenbrunnstraße sieben telephoniert. Hier ist ein Mord begangen worden, Herr Kommissär! Ich habe einen Mord begangen.


Vorhang.


Quelle:
Hans Kaltneker: Dichtungen und Dramen. Berlin, Wien, Leipzig 1925, S. 103-125.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Auerbach, Berthold

Barfüßele

Barfüßele

Die Geschwister Amrei und Dami, Kinder eines armen Holzfällers, wachsen nach dem Tode der Eltern in getrennten Häusern eines Schwarzwalddorfes auf. Amrei wächst zu einem lebensfrohen und tüchtigen Mädchen heran, während Dami in Selbstmitleid vergeht und schließlich nach Amerika auswandert. Auf einer Hochzeit lernt Amrei einen reichen Bauernsohn kennen, dessen Frau sie schließlich wird und so ihren Bruder aus Amerika zurück auf den Hof holen kann. Die idyllische Dorfgeschichte ist sofort mit Erscheinen 1857 ein großer Erfolg. Der Roman erlebt über 40 Auflagen und wird in zahlreiche Sprachen übersetzt.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon