Ode an Psyche

[17] O Göttin! lausche diesem armen Lied,

Das lieb Erinnern, süßer Zwang geboren;

Verzeih, das dein Geheimnis es erriet

Und wiederkündet deinen eignen Ohren:

Ich träumte heut – denn sollte wacher Sinn

Wohl je die lichtbeschwingte Psyche schauen? –

In lichtem Walde schritt ich für mich hin,

Da plötzlich faßte mich ehrfürchtig Grauen:

Eng Seit an Seite lag ein schönes Paar

Ins Gras gebettet, über ihnen spann

Das Laub ein flüsternd Dach, ein Bächlein rann

Durchs Grün, kaum wahrnehmbar.


Auf blumiger Au, die bunt und silberklar

Und kühl und duftend in die Stille sann,

Sanftatmend lagen sie, die Flügel bogen

Sich aneinander und die Arme auch,

Die Lippen trennte nur ein Atemhauch,

Als halbe Schlummer Mund von Mund gezogen,

Als würden jungerwachte Liebeswogen

Zu neuem seligen Küssen sie beglücken.

Den Knaben kannte ich;

Du Taube doch, du lieblichstes Entzücken,

Warst Psyche sicherlich!


O letztgebornes lieblichstes Gesicht

Hoch über des Olymps verbleichter Pracht!

O schöner du als erstes Sternenlicht,

Das wie ein Glühwurm in den Abend wacht.

Ja schöner du! Obgleich nicht ein Altar

Noch Opfer dir geschichtet

Und nächtens keine süße Mädchenschar

Zu dir Gesänge richtet:[18]

Kein Wort, kein Flötenspiel, kein frommer Rauch,

Der sanft aus schwingenden Gefäßen wellte,

Kein Schrein, kein Hain, nicht ein inbrünstiger Hauch,

Der eines bleichen Priesters Träumen schwellte.


O Strahlendste! Zu spät für jene Zeit,

Zu spät, zu spät auch für leichtgläubige Leier,

Die heilig sprach des Waldes Einsamkeit,

Heilig die Luft, das Wasser und das Feuer.

Doch selbst in unsern Tagen, die so ferne

Von froher Frömmigkeit, erglänzt dein Flug,

Der über stürzenden Olymp dich trug,

Nun meinen Augen, und ich bete gerne.

So laß mich sein die süße Mädchenschar,

Die betet am Altar,

Dein Wort, dein Flötenspiel, dein frommer Rauch,

Den dir ein schwingend Weihgefäß entsendet,

Dein Schrein, dein Hain und dein inbrünstiger Hauch,

Den eines bleichen Priesters Traum dir spendet.


Ich will, dein Priester, dir den Tempel richten

In meiner Seele unbegangnem Hain:

Verschlungene Gedanken sind die Fichten,

Die flüsternd schützen deinen heiligen Stein,

In dunklen Gruppen sollen all die Bäume

Die steilen Bergesklüfte dicht befiedern,

Und schlummernde Dryaden wiegt in Träume

Der Wind, der Strom, der Wald mit seinen Liedern.

Und in der Mitte dieser weiten Stille

Baut dir ein rosiges Heiligtum mein Wille

Mit allem, was inbrünstiges Hirn ersinnt,

Umrankten Gittern, seltnen Blütenglocken.

Im Blumenhain, den Phantasie dir spinnt,

Ist alles Blühen ewiges Frohlocken,[19]

Und dort ist dein allsüße Seligkeit,

So weit wie Träume fassen,

Und Fackel nachts und Fenster, das bereit,

Die Liebe einzulassen.

Quelle:
Keats, John: Gedichte. Leipzig [1910], S. 17-20.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Auswahl)
Gedichte. Englisch / deutsch.
Auf eine griechische Urne: Gedichte. Zweisprachig
Auf eine griechische Urne: Gedichte. Zweisprachig (insel taschenbuch)
Gedichte: Auswahl

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Lotti, die Uhrmacherin

Lotti, die Uhrmacherin

1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.

84 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon