III

[341] Die Pfingstzeit des Jahres 1524 war für die in den Kirchen zu Stadt und Land versammelte Bilderwelt kein liebliches Fest geworden; denn infolge einer weiteren Disputation und daherigen Ratsbeschlusses wurde, unter Zustimmung des Volkes, alles Gemalte, Geschnitzte und Gemeißelte, Vergoldete oder Bunte von den Altären und Wänden, Pfeilern und Nischen genommen und zerstört, also daß der Kunstfleiß vieler Jahrhunderte, so bescheiden er auch in diesem Erdenwinkel war, vor der Logik des klanglosen Wortes erstarb; allein die eigentlichen Religionen dulden keine Surrogate; entweder gehen sie in denselben unter, oder sie verzehren sie wie das Feuer den Staub. Trotz allem Schonen und Zögern brach es los wie ein Gewitter, und unter dem Rufe: »Fort mit den Götzen!« ging es an ein Hämmern, Reißen, Abkratzen, Übertünchen, Zerschlagen und Zerspalten, daß in kurzer Frist die ganze kleine Farben- und Formenwelt vom Tageslicht hinweggeschwunden war gleich dem Hauch auf einer Fensterscheibe.

Ein Jahr später, an einem schönen Herbsttage, fand das Nachspiel statt, als im Chorherrenstift zu Zürich der Kirchenschatz ausgehoben und zu Handen des Staates genommen wurde. Von[341] den in Silber und Gold gebildeten Heiligtümern trennten sich die geistlichen Hüter nicht so leicht, und sie wichen schließlich nur dem bestimmten Befehl, als die Abgeordneten des Rates in die Sakristei drangen. Hansli Gyr war zu Schutz und Wache beigegeben und wunderte sich, indem er das zudringende Volk in Schranken hielt, selber über die verjährte Kostbarkeit, die nun durch die verödeten Kirchenhallen in den hellen Sonnenschein getragen und zunächst in das gegenüberliegende Kaufhaus gebracht wurde, welches ein grauer alter Ritterturm war.

Voran schwankten die silbernen Bilder der Schutzheiligen Zürichs, der Märtyrer Felix, Regula und Exuperantius, welche trotz aller Reformation zur Stunde noch, die Häupter in den Händen, das Zürcher Staatssiegel bilden. Dann folgte ein sechzig Pfund schweres Muttergottesbild von purem Golde, dann eine Reihe goldener und silberner Kreuze, schwere gotische Monstranzen, gleich kleinen Münsterkirchen einherwandelnd, ein dichter Schwarm goldener Kelche und anderer Gefäße, von den ältesten byzantinischen, dann gotischen Formen bis zur neuesten Gestaltung im Stil der Renaissance; Rauchfässer und dergleichen begleiteten die Reliquienkasten, Plenarien und andere Behältnisse der Heiligtümer, das goldene Gebetbuch Karls des Kahlen und ähnliche Raritäten, alles mit Edelsteinen und Perlen mannigfach übersäet; das alles schimmerte auf dem kurzen Wege im letzten Sonnenblick, eh es in den düstern Hallen des Turmes verschwand.

Sogleich folgte aber ein noch farbenreicheres Schauspiel, das mehr von einem fröhlichen Geräusch begleitet war, als die unabsehbare Menge der Meßgewänder und Paramente, der Kirchenfahnen, Altartücher, Teppiche und Buntgewebe aller Art erschien, von Schülerknaben und anderer Jugend getragen und geschwenkt. Dieser Zug ging aber nicht in den Kaufhausturm, sondern bewegte sich wie ein Katarakt von Seide, Gold- und Silberfäden, Leinwand und weißen Spitzengeflechten die Münstertreppe[342] hinunter auf das im Flusse stehende Helmhaus, ein offener Estrich, wo die Trödler und Krämer saßen und allerhand Schacher getrieben wurde. Dort hielt man nun einen Markt über alle die Stoffe und Gewebe von zum Teil sehr alter Abkunft und kunstreicher Arbeit; ein Haufe eitler oder leichtsinniger Weiber und Dirnen eilte aus seinen Schlupfwinkeln herbei, worin die alte Zeit noch ihr Wesen trieb, ehe sie völlig überwunden war, und es begann ein Feilschen und Bieten um die schimmernden und glitzernden Stoffe. Nicht nur Frauensleute wühlten und zupften darin herum und suchten möglichst bunte Zeugstücke für ihres Leibes Putz heraus, um sie für wenig Geld zu erstehen, sondern auch hie und da ein unverbesserlicher Kriegsgeck zog eine Decke oder ein Gewand von vielleicht sarazenischer Wirkerei hervor, das er zu einer stattlichen Jacke zuzuschneiden gedachte.

Hans Gyr betrachtete das unruhige und ungewohnte Schauspiel mit Verwunderung und entdeckte sogar den Schneck von Agasul, den Winkelpropheten, wie derselbe an einer uralten Dalmatika zerrte, welche von Löwen und Adlern in roter und gelber Seide bedeckt war und sich zur Umwandlung in ein Offizierskleid des neuen Jerusalems zu eignen schien. Dabei bemerkte Hansli, wie jener in der Hast einen schön gewirkten länglichen Teppich zur Seite warf; er hob ihn auf, breitete das Tuch auseinander und sah eine anmutige Schilderei sich entwickeln. In einem Walde, der durch einige auf bläulichem Grunde stehende Ebereschenbäume angedeutet war, haschte eine Drossel, auf dem Aste sitzend, nach dem blutroten Beerenbüschel, sich daran zu letzen. Ein Fuchs lauerte gierig auf den arglosen Vogel, nicht ahnend, daß hinter ihm ein junger Jäger den Bogen nach ihm spannte, während dem Jäger schon der Tod nach dem Genicke griff, zuletzt aber der Heiland durch den Wald kam und den Tod an dem Reste des Haarschopfes packte, der ihm hinten am kahlen Schädel saß. Da diese Decke oder Tapete für keinerlei Gewandstück zu brauchen war, so achtete niemand[343] weiter darauf, und Hansli Gyr, dem sie gefiel, kaufte dieselbe und faltete sie sorgfältig zusammen. Beim Anblicke des Schnecken war ihm nämlich unversehens die Ursula durch den Sinn gefahren und sodann der Wunsch erwacht, ihr den Teppich für den Haushalt zu schenken, den er immer noch mit ihr zu führen hoffte; schon ging es nun ins dritte Jahr, daß er aus dem Kriege heimgekehrt war, ohne doch zu Hause zu sein, wo der Wahnwitz ihn fernhielt.

Gerade in diesen Tagen sollte auf einer Bergmatte, welche ihm gehörte, eine Versammlung der jetzt zur Wiedertäuferei offen gewendeten Schwärmer jener Gegend stattfinden. Ursula hatte im Sommer das Gras gemäht und mit Mühe auf einen Haufen gebracht, da sich sonst niemand darum kümmerte und bei aller Verfinsterung der Seele sie doch unbewußt nicht lassen konnte, was dem Hansli nützte. Denn obgleich ihr Vater zunächst den Nutzen bezog, so gewährte es ihm doch ein boshaftes Vergnügen, Hanslis Sache verderben zu lassen, abgesehen davon, daß ihn das schwärmerische Treiben und Spekulieren schon vielfach von der nötigen Arbeit abzog. Knechte aber konnte er schon seit einem Jahre nicht mehr finden, weil jeder ihm gleich sein und keiner ihm gehorchen wollte.

Ursula fürchtete, daß der Heuschober, den sie mit soviel Arbeit im jener Matte errichtet, von dem versammelten Volke zerstört und zertreten werden könnte; sie ging daher am frühen Morgen des betreffenden Tages mit Rechen und Gabel hinauf, um das Heu möglichst auf die Seite zu schaffen, und tat ihr Vorhaben niemandem kund. Die Wiese war so gelegen, daß sie von drei Seiten mit Wald umgeben und nach der vierten Seite hin offen, aber nur in der Ferne sichtbar war, von wo man etwa mit Fernröhren hätte erkennen können, was darauf vorging, wenn es damals solche gegeben.

Wie sie nun in der Morgensonne und in der Bergeinsamkeit schaffte und sich mühte, wurde das blasse und freudelose Gesicht sanft gerötet und von frohem Mute belebt. Während der[344] Herbstnebel die Täler deckte, war es hier oben so warm wie im Mai oder Brachmonat; sie warf daher im holden Eifer Kopf- und Halstuch zur Seite und blühte jetzt wie eine junge Rose, während sie für Hansli Gyr sich regte und sein Goldreif an ihrer Hand schimmerte. Denn sooft sie sich des Nachts schlafen legte oder des Tages allein war, steckte sie sogleich den Ring an den Finger. Manchmal sah sie sich mit leuchtenden Augen um, bald in die duftige Ferne, in welcher die Gebirgshäupter gleich bläulichen Schatten sich reihten, bald in die nahen Waldsäume, die mit purpurner und goldener Farbe sie umgaben, so geheimnisvoll, als ob jeden Augenblick der geliebte Mann aus den Bäumen hervortreten sollte.

Da schien plötzlich ein Teil des Laubes, ein rotgelber Busch selber lebendig zu werden und heranzuwandeln; es war der Schneck von Agasul, der die Dalmatika in eine Art Talar verwandelt, mit Ärmeln versehen und angezogen hatte, um darin vor dem zu erwartenden Volke aufzutreten und eine hohe Stellung einzunehmen. Auf dem Kopfe trug er einen alten Hut von blauem Sammet, den er mit Goldschnüren in die Höhe gebunden und zu etwas Undeutlichem geformt hatte, und alle seine Finger waren mit gläsernen Juwelen besteckt, welche in der Oktobersonne schwächlich glänzten wie falsche Redensarten.

Mit angenehmer Überraschung bemerkte er die einsame Ursula und beschleunigte seine Schritte, bis er sie erreichte, deren unbewachter Liebreiz seine Augen blendete.

»Ich finde dich zu guter Stunde, Töchterlein Zions!« rief er; »es ist Zeit, daß man dich zu Ehren zieht, und längst habe ich dich ausersehen, an meiner Seite zu sitzen auf den Stühlen des Gerichts und zu liegen an meiner Seite auf der Liegerstatt der ewigen Herrlichkeit! Heut ist ein großer Tag, und ehe die Sonne wieder aufgeht, muß vieles vollendet sein!«

Ohne Zögern wollte er sie packen und an sich ziehen; doch die aus süßem Träumen Aufgeschreckte wehrte den Andringenden[345] mit ihrer Heugabel ab und stieß mit derselben so heftig nach ihm, daß die Zinken sich in dem Mummenschanz verfingen und der übel zusammengesetzte Talar, als der Prophet sich befreien wollte, in verschiedenen getrennten Stücken ihm vom Leibe fiel und er in schäbigen und beschmutzten Unterkleidern dastand. Da zugleich fremde Schritte nahten, las er fluchend die Fetzen zusammen und lief in das Gehölze zurück, um seine Blöße zu decken und das Herrschergewand wiederherzustellen, so gut es ging.

Auf ihre Waffe gestützt, blickte ihm Ursula aufatmend und erschrocken nach wie einem unholden Gespenst, das uns aus einem Traume geweckt hat; aber schon schrie sie noch erschreckter auf, als sie sich von zwei Armen umfaßt fühlte. Sich umdrehend, ersah sie den Mann der Gelassenheit, Jakob Rosenstil, den Unbeweglichen, der aber jetzt ganz rührig war, ein Glücklein zu erhaschen. Er griff mit beiden Händen fortwährend nach der Abwehrenden und mit großer Schnelligkeit, wodurch er das Aussehen eines Hundes gewann, der im Wasser schwimmt; Ursula wies ihn jedoch mit ebenso großer Sicherheit mit nur einer Hand ab, indem sie aufs neue erstaunt den merkwürdigen Mann betrachtete, den sie nicht für so gefährlich gehalten hatte.

»Du hast recht«, sagte er schnaufend, »daß du den, der dort wegflieht, nicht willst! Er ist zu scharf und zu hitzig für dein sanftes Gemüt, trotz deiner Heugabel! Teile mit mir meinen lieblichen Seelenstillstand, die Ruhe unter den Palmen; da ist volles Genügen und stille Zeit, bis der Herr kommt und sagen wird: ›Aha! die zwei sind nicht dumm gewesen, die haben das Paradies schon zum voraus gehabt!‹«

»Geh, ich will dich nicht«, rief Ursula, »ich weiß schon meinen Engel und Herren, auf den ich warten muß; der ist schlank und schön, hell und sauber von Angesicht und nicht so schlumpig wie du! Pfui Teufel, mach dich fort, du Aschensack! Schäm dich, es kommen ja Leute!«[346]

In der Tat näherten sich mehrere Gruppen von Männern und Frauen und begannen sich zu sammeln. Gleichzeitig kam aber der alte Enoch herzugelaufen und schrie »Fort, fort! Der Landvogt von Grüningen ist auf dem Weg mit Spieß und Schwert! Wir sind verraten!«

Alle flohen waldeinwärts und verloren sich so geschwind wie ein Luftzug; die Bergmatte war still und leer, nur Ursula kehrte von der Seite, wohin sie schon vorher unbemerkt entwichen, zurück, um unbekümmert ihre Arbeit fortzusetzen, da sie das Heu erst zur Hälfte an eine geschütztere Stelle gebracht hatte. Ihre Gedanken irrten aber, von dem Abenteuer und der eingetretenen Stille gedrängt, vom Ziele ab; ohne es zu wissen, setzte sie sich auf den halb abgetragenen Heuschober, stützte den Kopf in beide Hände und versank in tiefes Sinnen.

Indessen war der Landvogt von Grüningen, welchen Enoch von weitem gesehen und der von dem Vorhaben der Täufer nichts wußte, sondern einfach mit seinem Gefolge auf die Jagd ritt, eine andere Straße gefahren und aus der Gegend wieder verschwunden. Was seinem kleinen Zuge das Ansehen einer amtlichen oder militärischen Unternehmung gegeben hatte, war das zufällige Voranschreiten des Hansli Gyr gewesen. Wie es in Zeit und Umständen lag, ging er bewaffnet als Soldat auch auf diesen friedlichen Wegen, auf denen er mit der erworbenen Tapezerei die Ursula suchte, und er hatte so einer spähenden Vorhut allerdings nicht ungleich geschienen, als er die Höfe von Menschen verlassen gefunden und in die Höhe gestiegen war, nach ihnen zu sehen. So gelangte er, während die Baptisten im Walde herumhuschten, auf seine Matte und ging langsam über dieselbe weg, die er jetzt seit Jahren nie mehr betreten hatte. So wird man fremd auf seiner eigenen Scholle, dachte er, und weiß selbst kaum, warum!

Aber wer macht sich denn hier noch mit Heu zu schaffen? fuhr er in seinen Gedanken fort, als er den Schober bemerkte, die Person, die auf demselben saß, und den Rechen nebst der[347] Gabel. Er schritt ungehört auf die unerwartete Erscheinung zu und stand nun in seiner ganzen Länge vor der in sich zusammengesunkenen Ursula, welche eingeschlummert war. Da er vor der Sonne stand, so bedeckte er sie mit seinem Schatten, so daß ein leichter Schauer über ihre bloßen Schultern flog. Aber erst als er sie beim Namen rief, wachte sie auf und sah seine hohe Gestalt, die sich dunkel von der leuchtenden Fernsicht abhob und nur auf den Achseln vom beglänzten Eisen schimmerte. Aber so stattlich er anzusehen war, so verblaßte doch seine soldatische Pracht und Herrlichkeit vor dem seltsamen Schönheitsstrahle, der ihr Gesicht verklärte, als sie ihn plötzlich erkannte. Und zwar entstand diese Schönheit sozusagen in Abwesenheit des Geistes wie der Sonnenblick, der über ein stilles Wasser läuft. Zitternd stand das arme Mädchen auf und streckte dem Manne lächelnd die Hände entgegen; doch wankten ihr die Knie, und sie sank wieder zurück, und zugleich ward sie erst jetzt ihrer halb entblößten Brust gewahr, bedeckte sie mit den Händen und schlug schamrot die Augen nieder.

»Ursula, was schaffst du hier?« sagte Hans Gyr; »komm, gib mir die Hand und deck dich nicht so ängstlich!«

»Nein, das schickt sich nicht!« flüsterte sie; »ich bin nicht so liederlich!«

Hansli sah ihre Tücher liegen, holte sie und ließ sich bei ihr nieder, indem er ihr half, dieselben umzulegen. Dann nahm er sie in den Arm und küßte sie.

»Und was tust du hier im Heu?« fragte er sie wieder.

Sie schaute ziemlich lange zu ihm auf, das Haupt auf seinem Arme zurücklegend, eh sie antwortete. Doch dann besann sie sich.

»Ei, was wollt ich tun? Euer Heu besorge ich, wie es meine Pflicht ist, o schönster Herr Engel Gabriel! Wißt Ihr denn nicht, daß Ihr hier eine Matte habt, und keine von den schlechtesten!«

»Wie sagst du mir? Gabriel?«[348]

»Herr Gabriel, freilich! Herr, Herr, Herr, sag ich, nicht so grobweg Gabriel!«

»Kennst du den Hansli Gyr nicht mehr?«

»Den Hansli? Wo ist er? Ach, ach! den hab ich ja ganz vergessen! Wie traurig ist doch die Welt! Und hab ich ihn doch so liebgehabt! Aber das kann ihm nun nichts mehr helfen und mir auch nicht; jetzt bin ich die Braut eines englischen Herren und himmlischen Barons, da hat Hansli das Nachsehen, der Ärmste! Freilich dauert er mich, wenn ich das Unglück recht betrachte! Drum küsse mich, Herr Gabriel, aber leise, daß er es nicht hören kann!«

Sie sagte diese Sachen so anmutig, daß Hansli sich nicht enthalten konnte, sie wieder zu küssen, und er sah ihr dabei tief und prüfend in die Augen; denn er wußte nicht, ob sie scherzte oder irreredete, und zwar über das Maß hinaus, das ihm bekannt gewesen. Er konnte aber nichts entdecken als eine unergründliche Flut von Liebe, Traurigkeit, Freude und Sorglosigkeit, was alles er eben nicht auseinanderzuhalten vermochte. Und doch war es ihm zu Mute, als ob er allein da wäre, der bei sich selbst sei, und keine zweite Person in der Nähe. Und doch lag sie warm genug in seinem Arm; auch fand er, als er mit ihrer Hand spielte, den Ring, den er als den seinigen erkannte.

»Woher hast du denn das Ringlein?« fragte er jetzt; »hast du es vom Engel Gabriel?«

»Wie kannst du so töricht fragen«, erwiderte sie, »du hast es mir ja selbst gegeben! Aber was ist das für ein Bündelein, das du da bei dir trägst?«

»Das ist ein gewirktes Tuch, das ich dir mitgebracht habe für deinen Haushalt. Schau, was zierliche Bilder drauf sind!«

Er breitete den Teppich auseinander, so gut er es vermochte; denn sie wollte ihm durchaus nicht soviel Freiheit geben und hielt sich fest an ihm. Sie betrachtete, ohne sich zu rühren, die Schilderei, jedoch aufmerksam und mit Verstand und sagte nachdenklich:[349]

»Das ist gar ein schönes Tuch, wie ich noch keines gesehen; man sieht wohl, daß es im Himmel gewoben ist, und du hast es mir gebracht wie einen Brief. Der ganze Lauf der Welt ist drauf zu lesen, eines jagt dem andern nach, und zuletzt kommt der Heiland und überwindet den Tod und alle Übel. Das gibt eine schickliche und feine Wiegendecke für unsern Haushalt! Bst! Schweig nur, du wilder Vogel mit deinen Rauscheflügeln, mit deinen klingenden Federn! Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es sehen, wozu das Tuch bestimmt ist!«

Hans Gyr ertrug das Spiel nicht länger, dessen Süßigkeit für ihn mit bitterer Galle gemischt war. Er vermochte nicht zu erkennen, ob Ursulas Reden sich nur in den gemeinsamen Wahnvorstellungen ihrer Genossen bewegten oder ob sie durch jene noch persönlich und vielleicht unheilbar in der Seele gestört sei. Er sprang gewaltsam in die Höhe, schüttelte sich, daß sein Rüstzeug klirrte, und mit bleichen Wangen rief er »Komm, Ursula, wir wollen zu den Häusern hinunter!«

Verschüchtert und demütig stand sie vor ihm. »Sogleich, liebster Herr Engel Gabriel, werde ich Euch folgen«, sagte sie; »ich kann ja die Arbeit hier später verrichten und was noch zu tun ist.«

»Laß das dürre Gras fliegen, wo es will, wie unsere armen Sinne«, rief er nochmals, »und komm!«

Er ergriff Rechen und Gabel, während sie ungesäumt das Tuch zusammenwickelte, es an sich drückte und still und eilfertig an seiner Seite den Berg hinunterlief. Zuweilen sah sie furchtsam zu ihm auf; wenn er aber ihren Blick mit leid- und liebevollem Aug erwiderte, faßte sie Mut, und da Land und Himmel immer sonniger und freundlicher wurden, kehrten auch die Vertraulichkeit und das Glücksgefühl der verwirrten Jungfrau zurück. Sie plauderte und erzählte dies und jenes und antwortete verständig auf die Fragen, die Hansli an sie richtete, wie der Weg, den sie gingen, es mit sich brachte.

Seine Behausung war die nächste, die sie erreichten. Verschlossen,[350] still, wie eine Wohnung Abgeschiedener lag sie da, der Boden vor der Türe mit gefallenem Laube bedeckt, das niemand wegräumte. Mit einem tiefen Seufzer blieb er stehen; leise raunte Ursula ihm ins Ohr:

»Was suchst du hier? Da wohnt mein alter Schatz, machen wir, daß wir weiterkommen!«

»Ist er denn zu Haus und sitzt da drin im Dunkeln?«

»Kann wohl sein! Er hat heitere blaue Augen, bei deren Licht er allerhand schaffen kann, selbst wenn alle Fensterläden geschlossen sind. Hörst du? Ich glaub, er klopft und hämmert was! Hu! es wird mir gruselig!«

»Wir wollen sehen, ob er drin ist!« sagte Hansli und ging gegen die Haustüre. Ursula kam ihm aber zuvor; sie horchte mit dem Ohr am Schlüsselloch. »Jetzt ist er mäuschenstill«, flüsterte sie; dann pochte sie mit dem gekrümmten Finger sachte und höflich an der Türe und rief halb furchtsam, halb schalkhaft »Hänslein?«

»Er ist doch nicht drin!« sagte sie herzhafter, als alles still blieb und man nur das Geräusch des Brunnens hörte, welcher unter den Bäumen unverdrossen sein Wasser in den Trog ergoß, auf den der bekümmerte Hansli sich gesetzt hatte. Er fühlte sich wie in zwei Teile gespalten und war auf sich selbst eifersüchtig, weil er in seinem einfachen Sinne den Irrwegen, die Ursulas Gedanken gingen, nicht folgen konnte und ein unbegreifliches Unglück vor sich sah. In dieser Not gedachte er des Evangeliums und des allmächtigen, barmherzigen Gottes, der ihn jetzt gewiß sehen und hören werde, und verrichtete ein stilles Gebet für die Ursel, welchem er das Unservater beifügte.

Sogleich wurde ihm leichter, als er sah, wie inzwischen Ursula den Rechen genommen hatte und mit fester Hand das gefallene Laub vor der Türe und auf der ganzen Hofstatt zusammenkehrte und zur Seite schaffte. Sie sah dabei so gesund und verständig aus wie jemals, bis sie fertig war und sagte: »So, nun kann er[351] doch ordentlich laufen, wenn er kommt, derselbige Schwartenmagen, und man muß nicht singen:


Traut Hänslein über die Heide reit

Er schoß nach einer Tauben,

Da strauchelt ihm sein graues Roß

Über eine Fenchelstauden!


Ach, so eine alte Lieb ist doch nicht ganz leicht auszureuten!« fuhr sie nachdenklich fort und setzte sich neben den Hansli, »auch ist die Untreu nichts Schönes, nein, und nichts Gutes, man mag sagen, was man will – und doch ist mir so wohl bei der Sache! Ich bin so leicht wie ein Vögelein in der Luft, wie das kleinste Fläumlein, das ein solches verloren hat und das nun stillsteht zwischen Himmel und Erde und nicht weiß, soll es steigen oder fallen!«

In diesem Augenblicke fielen ein paar Nüsse von den Bäumen. »Er kommt, er kommt! Fort, fort!« rief sie und eilte so schnell davon, daß Hansli sie kaum einholen konnte.

»Ist er's? Hast du ihn gesehen?« fragte sie, sobald er bei ihr war.

»Wen?«

»Ei, der dort wohnt!«

»Vergiß ihn jetzt, ich bin ja bei dir!«

»Ja, das ist auch wahr, und er kann mir nichts tun!«

Hansli ging nun mit ihr zu ihres Vaters Haus und sah mit Verwunderung, daß um dasselbe her eine fast ebenso große Verwahrlosung herrschte wie um das seine. Die Mutter saß auf der Türschwelle mit abgehärmten Zügen, mit düsterem, beinahe wildem Blicke, und schien sehr gealtert zu haben. Sie hielt ein Messer, ein Gericht Rüben zu schneiden, hatte aber beide Hände sinken lassen und den grauen Kopf brütend vornübergebeugt.

»Mutter! Sieh, wer da ist, die Herrlichkeit kommt!« rief ihr Ursula mit rosigen Wangen entgegen; »mach, steh auf, ich will nur hinein und einen süßen Hirsbrei rüsten! Den liebt Ihr doch,[352] Herr Gabriel? Ach bedenkt, wenn Ihr mit uns gehen wollt, so müßt Ihr eben vorliebnehmen!«

Sogleich eilte sie ins Haus und machte sich dort zu schaffen. Die Alte hatte erstaunt aufgeblickt; als sie den Soldaten erkannte, schrak sie leicht zusammen.

»Mein Mann ist nicht da«, sagte sie, »wenn du etwa mit ihm rechnen willst; er hat übrigens jetzt kein Geld; du mußt dich gedulden, bald wird's besser kommen!«

»Ich brauche kein Geld und kann warten«, versetzte Hansli, »aber zu rechnen hätt ich allerdings etwas und möchte fragen, was habt ihr mit euerer Tochter Ursula angefangen?«

»Wieso? Was weißt du von ihr?«

»Ich habe sie draußen getroffen und bin über zwei Stunden mit ihr gewesen; sie behauptet, ich sei der Engel Gabriel, und redet als eine Irrsinnige. Denn daß sie nur ein Spiel treibe, kann ich nicht glauben, es ist nicht ihre Art!«

»Das sind eben Sachen, die dir verschlossen und auch dem Kinde noch dunkel sind; aber es ahnt sie und ist davon erfüllt. Es gehen Dinge vor, und die Wunder werden dasein, ehe du dich dessen versiehst!«

»Sie werden ein Ende mit Schrecken nehmen, eh ihr euch dessen verseht; ich fürchte, der Enoch führt euch alle ins Unglück mit seinen Spitzfindigkeiten!«

»Im Gegenteil! Alles baue ich nur auf ihn und halte fest an ihm und seinem Geiste!« sagte die bedrängte Frau mit einem Tone, dem man wohl anfühlte, daß sie geheime Zweifel zu bekämpfen hatte und sie nur mit Mühe überwand, wenn sie sich selbst überlassen war. Mit unbewußter Vorsorge äußerte sie denn auch keine feindliche Gesinnung gegen den Hansli, noch brauchte sie harte Worte, noch dachte sie daran, ihm den weiteren Verkehr mit dem Kinde zu untersagen, obgleich sie wissen mußte, daß das gegen den Willen ihres Mannes ging.

»Ich weiß nichts zu tun«, sagte Hansli nach einigen Minuten stummen Sinnens, »als daß ich mich in Geduld fasse und die[353] Zeit abwarte, die diese Verwirrungen lösen wird. Aber es ist schad um die schönen Jahre, um die arme Jugendzeit! Ihr Alten hättet die Besessenheit während eueres eigenen Lenzen abspinnen können, wenn es so nötig war, so könnten die Jungen jetzt ihrer Tage froh werden!«

Ursula war allein guter Dinge; sie bereitete das Essen und holte den Hansli und die Mutter herein.

»Essen die Engel auch Hirsebrei?« sagte ersterer mit trübem Lächeln, während er doch ihr treuliches und geschäftiges Wesen und Treiben wohlgefällig bemerkte.

»Wenigstens essen sie Weizenkuchen und Kalbsfleisch«, rief sie fröhlich; »beim Erzvater Abraham im Hain Mamre sind sie zu Tisch gesessen drei Mann hoch und haben fest abgespiesen!«

Nur mit gepreßtem Herzen entschloß er sich, für diesmal wieder zu scheiden, brach aber dann plötzlich auf und machte sich, Abschied nehmend, auf den Weg. Ursula ging eine Strecke weit mit ihm; dann blickte sie ihm nach, bis er hinter einer Erdwelle verschwand, und als das geschehen war, kehrte sie mit entblühtem, fahlem Antlitz zurück, wie der Seele beraubt.

Ich bin doch froh, daß er dagewesen ist, um des Kindes willen! dachte die Mutter, es hat doch einmal wieder eine gute Stunde gehabt und sich etwas erholen können! Als sie aber die Ursula zurückkommen sah, rief sie aus »Um des Herren Christi willen, wie siehst du aus! Was für ein Elend ist das!«

Erst gegen Abend kam der alte Enoch nach Hause, aber nicht in guter Laune. Die Bewegung hatte sich stark verbreitet und schlug hohe Wellen; aber sie war aus den Händen der Winkelpropheten und in diejenigen der bekannten mehr oder minder gelehrten Führer geraten, welche die gröberen Narrheiten darniederhielten und bewußtere Ziele verfolgten. Sosehr sich Enoch überall hervortat mit Schreien und wildem Possenreißen, so vermochte er doch nicht obenauf zu kommen, sondern trug nur dazu bei, Verwirrung und Gefahr, Haß und Leidenschaft zu vergrößern.[354]

Bei allen drohenden Aufläufen und Kundgebungen war er einer der vordersten, zog in einem groben Sacke umher, streute sich Asche auf den Kopf und schrie »Zion! Zion!«

Dabei ließ er seine Augen fleißig umhergehen und spähte, was er sich nach dem Umsturz aller Dinge wünschen und aneignen solle. Die große Menge der Aufgeregten dagegen glich, wie es jeweilig die Weise dieses Volkes war, einem von leidenschaftlicher Grab- und Hackarbeit, von Schleppen und Tragen, Grübeln und Sorgen ermüdeten Mann, der plötzlich einmal aufwallt, sich über die eigene Sorge und Mühsal ärgert und den Spaten wegwirft, um ihn später von selbst wieder aufzuheben, nachdem das Trugbild entschwunden ist, das ihn gelockt hat.

Jedoch Regiment und Mehrheit behielten die Oberhand über das Wirrsal; es wurde abermals zum lebendigen Worte und zur Bibel gegriffen, die Wiedertäuferei zum öffentlichen Gespräch geladen, für überwiesen und besiegt erklärt und verurteilt, d.h. bei fernerem Beharren verfolgt, verbannt oder an Freiheit und Leben bestraft.

Enoch Schnurrenberger gehörte zu denjenigen, welche sich nicht fügen wollten oder stets rückfällig wurden; bald war er flüchtig und trieb sich in benachbarten Gebieten herum, bald kehrte er heimlich zurück und suchte neue Zusammenrottungen aufzubringen oder an solchen teilzunehmen. Auf allen diesen Fahrten eignete er sich immer neue Manieren, Gebarungen und Schaustücke an; er konnte Feuer essen, mit Gott durch das Dach reden, sterben und wieder auferstehen, sooft er wollte, obgleich ihm diese Künste bei zunehmendem Alter beschwerlich wurden, insbesondere das Sterben, wo er sich gewaltsam auf den Boden werfen und in Zuckungen verfallen mußte.

Eines Tages aber wurde er mit Frau und Tochter, die er elendiglich mitschleppte, gefangengenommen, als er sich in einem Holze eben am Ausüben von Taufhandlungen beteiligte, und mit einem ganzen Trupp anderer Schwärmer nach Zürich geführt. Es waren gegen zwanzig Personen, die zuerst im[355] Spital untergebracht, dann auf den Platz vor dem Rathause gestellt und hierauf in einen hohen Turm an der östlichen Ringmauer der Stadt, den seither so genannten Ketzerturm, geleitet wurden, wo sie auf Stroh liegend bei geringster Nahrung »ersterben« sollten, jeder, solang er nicht abschwur. In dem kleinen Aufzuge gingen auch der Schneck von Agasul und der gelassene Rosenstil, der sich ein für allemal an diese Gruppe gehängt hatte, weil er bei seiner Unbeweglichkeit so nie für ein Unterkommen sorgen mußte. Voran zog der Enoch mit gebieterischer Haltung, zuletzt kamen einige Weiber. Ursula stützte ihre Mutter und trug in einem Bündel etwas Kleider für dieselbe und für sich, in den gestickten Teppich Hansli Gyrs gewickelt. Sie schaute sich schüchtern mit suchenden Augen um; als aber das Volk am Wege den Zug mit mißbilligender, ja verächtlicher Miene besah, wagte sie nicht mehr aufzublicken, während die trotzigen Männer sangen und riefen »Hie Jerusalem, hie Zion!«

Hansli Gyr stand auch am Wege; sein Herz schlug ihm erbärmlich, allein er regte sich nicht. Wie er nur in Verständigkeit und Ordnung und klarer Luft zu leben vermochte, war ihm auch die bürgerliche Ehre notwendig zum Atmen. Da nun aber diese Betörten durch die Wendung der Dinge als Verbrecher und Verurteilte erschienen und wohl auch zu gutem Teil in Unehren dahinzogen, wendeten seine Gedanken sich schmerzlich ringend von seiner Neigung und von der Ursula weg, und er ließ sie ungesehen vorüberwandeln.

Im Turme erhoben die Gefangenen, besonders in stiller Nacht, einen unheimlichen Lärm mit Singen und Schreien, das zuweilen in ein weithin schallendes Geheul von furchtbaren Verwünschungen und Ausrufungen ausartete, von Angst und Not, Blitz und Donner, Jammer, Tod und Teufel, Untergang und Zerknisten, worauf zuweilen plötzlich wieder ein Siegesgesang ertönte.

Das ertrug Hansli doch nicht länger; er beschloß, wenigstens[356] die Ursula aus dem Turme zu ziehen, wenn es irgend anginge, und beobachtete einige Tage die Gelegenheit. Der Eingang des Turmes befand sich in einem kleinen angebauten Holzschuppen und war nicht bewacht, da der Hochwächter, der zuoberst im Dachstübchen saß, den Schlüssel inwendig abzog und mit sich nahm, während die Wiedertäufer ungefähr in der Mitte des Turmes lagen. Überdies waren keine besonders festen Schlösser angebracht, weil der Turm ursprünglich nicht zu einem Gefängnisse bestimmt gewesen.

In einer dunkeln Nacht nahm Hansli das nötige Geräte sowie eine kleine Laterne und begab sich an Ort und Stelle. Er öffnete leicht ein paar Türen und stieg die steilen Treppen hinan, nachdem er das Licht angezündet. Es fand sich, daß die Gefangenen auf einem Estrich lagen, der nur durch einen leichten Lattenverschlag abgesperrt war. Diesmal schliefen die Wiedertäufer oder verhielten sich wenigstens still. Männer und Weiber lagen blaß und verwahrlost durcheinander; Hansli zündete jedem ins Gesicht, ohne die Ursula zu finden. Endlich sah er, daß sie abseits in einer Ecke auf einem Bündel Stroh lag, über welches sie den Teppich mit dem Tod und dem Heilande gebreitet hatte. Sie schlief tief und fest wie jemand, der nach langem kummervollem Wachen endlich eine Stunde der Ruhe gefunden hat. Um jedes Geräusch zu vermeiden, rief er sie nicht an, sondern berührte nur leise ihr Kinn, und da sie hievon nicht erwachte, ergriff er ihre Hand, an welcher sein Ring im schwachen Laternenschimmer glänzte. Davon betroffen, schwankte er eine kurze Weile, ob er den Reif nicht vom Finger streifen und an sich nehmen sollte? In diesem Augenblicke aber schlug Ursula die müden Augen auf, und er wurde durch den unbeschreiblichen Ausdruck derselben an dem schnöden Vorhaben verhindert.

Wie im Traume eines Traumes erhob sie sich ungesäumt und schweigend, raffte die Decke zusammen und verließ an der Hand des Retters den schauerlichen Raum mit dem sichern[357] Tritte einer Nachtwandlerin; aber vor und hinter ihnen wischten und huschten gleich grauen Lemuren auf leisen Sohlen die munter gewordenen Mitgefangenen die langen Treppen hinunter und davon. Wie ein Nebelstreif vor dem Nachtwinde glitten sie an der Ringmauer dahin und stoben aus dem in Friedenszeiten offenstehenden unweiten Kronentore und verschwanden in Nacht und Nebel. Auch die Ursula war dem Hansli Gyr von der Hand gekommen, ohne daß er wußte, wie es zugegangen; sie selber kam erst mit anbrechendem Tage zu völligem Bewußtsein, und es war begreiflich, daß auf ihre Aussage hin die Entsprungenen ein Wunder vorgaben und im Lande herum verbreiteten, der Engel des Herren habe sie aus dem Gefängnis geführt. Zwei oder drei von ihnen wurden abermals rückfällig, wieder eingefangen und hingerichtet; Enoch Schnurrenberger irrte mit den Seinigen im St. Gallischen herum und kehrte erst später in seine Heimat zurück, wo er sich einstweilen still verhielt und unbehelligt gelassen wurde.

Hansli Gyr, der vor dem leeren Gefängnisse stehengeblieben war, hatte die Türen so gut als möglich zugemacht, sein Licht ausgelöscht und sich still hinwegbegeben. Das Aufblicken der erwachenden Ursula in dem Momente, wo er mit sich zu Rate ging, ob er ihr den Ring nehmen solle, hatte einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht, daß er viele Tage voll bitterer Reue zubrachte. Freilich konnte er glauben, Ursula sei ihm freiwillig entflohen, während er gehofft hatte, sie in der Stadt behalten und guter Pflege übergeben zu können. Dann aber war er wieder versucht, das Verschwinden unlauteren Kräften zuzuschreiben, besonders wenn er bedachte, wie es der alten Frau möglich geworden sei, mit so hexenhafter Schnelligkeit davonzukommen, zumal er von den Wirkungen solcher Seelenzustände, wie diejenigen der Entflohenen waren, keine Kenntnis besaß noch besitzen konnte.

Die Berichte von dem Treiben der Baptisten in den Gegenden, in welchen die Flüchtlinge sich jetzt aufhielten, von den[358] greulichen Verirrungen und Handlungen derselben waren so abstoßender Art, daß Hansli die Hoffnung auf eine Wendung zum Guten aufzugeben begann und zunächst eine Gelegenheit, die sich ihm bot, benutzte, um sein bescheidenes Besitztum am Berge Bachtel zu verkaufen.

Nach Abzug der Lasten, die darauf ruhten, erhielt er einen mäßigen freien Gewinn, durch welchen er nun von der Heimatflur so gut wie geschieden war.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 7, Berlin 1958–1961, S. 341-359.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Züricher Novellen
Züricher Novellen
Züricher Novellen
Züricher Novellen. Aufsätze. Zürcher Ausgabe
Züricher Novellen
Züricher Novellen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Fräulein Else

Fräulein Else

Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.

54 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon