V

[371] Enoch Schnurrenberger war in letzter Zeit mit den Seinigen zurückgekehrt, nachdem man in den Nachbargebieten mit der Sache wegen zu großer Tollheit aufgeräumt hatte und diesseits die Sektierer längst still geworden und ihre Geschichten halb verrochen, die eigentlichen Häupter aber entweder tot oder verbannt oder eingekerkert waren.

Nur Enoch konnte sich nicht ganz zur Ruhe geben; je weniger er noch bemerkt und beobachtet wurde, desto weniger verließ ihn der Drang, eine Darstellung zu machen und eine neue Gestalt zu finden, in welcher die rechte Zeit und das Tausendjährige[371] Reich, wo er durchaus Vorsteher oder wenigstens Einnehmer werden wollte, abzuwarten sei.

Neuestens hatte er den Spruch »Wer sich nun selbst erniedrigt, wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich!« wörtlich auszulegen und auszuüben begonnen. So saß er denn schon am Vormittage des zehnten Weinmonats 1531, statt der Arbeit nachzugehen, mit dem Anhange, der ihm geblieben und ihm heimlich nachzog, auf seinem abgelegenen Hofe und spielte kleines Kindlein. Er war gebückt und eingefallen, hatte einen langen weißen Bart, der ihm fast bis zum Nabel ging. Mit nackten Beinen hockte er in einem roten alten Weiberrock, der ein Kinderröcklein vorstellen sollte, auf dem Stubenboden und baute ein kleines Fuhrwerklein von Brettchen, das er mit Spreuer belud und dazu mit Kinderlauten stöhnte »Lo lo lo, da da da!« wobei ihm die eingetretene Engbrüstigkeit zu schaffen machte. Der Schneck von Agasul hatte sich von Zaunstecken einen Laufstuhl gezimmert, in welchem er umherhumpelte, einen Lutschbeutel im Munde. Manchmal zog er diesen heraus und rief »Schneck heiß ich, ein Schneck bin ich und hole dennoch den geschwinden Herrgott ein, der auf der Windsbraut reitet!« Der kalte Wirtz von Goßau an seinem Orte hatte eine Schnur um einen Ofenfuß gebunden und peitschte den Ofen unablässig mit einer Kindergeißel, bald auf dem Boden kauernd, bald auf dem Ofen sitzend wie auf einem Pferde. Den besten Teil hatte Jakob Rosenstil erwählt; er lag auf einem Strohsack in der Ecke und stellte das Kind in der Wiege vor, indem er versuchte, die große Zehe des rechten Fußes zum Munde zu bringen, was wegen seiner Beleibtheit nicht wohl möglich war. Ein paar fremde Weiber zogen Tannzapfen an langem Faden in der Stube herum, weil sie kein anderes Spielzeug zu schaffen wußten oder solches ihren eigenen Kleinen abgesehen hatten.

Zuweilen vereinigten sich alle die bejahrten Leutchen, bildeten einen Ring und tanzten im Kreise, sangen Kinderliedchen, klatschten in die Hände und hüpften in die Höhe.[372]

Die alte Schnurrenbergerin stand in der Küche vor dem Herde, unter dem Arm eine von Lumpen gemachte Puppe haltend und ein blaues Kindermützchen, in welchem einst Ursula getauft worden, auf den grauen Haaren tragend, an welchen es notdürftig festgebunden war, doch so, daß es schief auf dem linken Ohre saß. Das machte eine unheimliche Wirkung bei dem Ausdruck von hoffnungslosem Kummer, der in ihrem runzlichten Gesichte nistete; denn sie fing an zu glauben, daß sie selber den Nutzen von ihres Mannes Klugheit doch nicht mehr genießen und er selbst den Sieg nicht mehr erleben werde. Sie kochte einen Haferbrei für die sämtliche Gesellschaft. Ursula saß vor dem Hause allein unter den Ahornbäumen, deren herbstliches schöngezacktes Laub einen goldenen, von blauer Luft durchwirkten Himmel über ihr ausbreitete. Sie selber sah nicht bunt oder sonnig aus, sondern sie war ganz düster und dunkel in braune und graue Zeugstücke und Kleider gewickelt vom Kopfe bis zum Fuße, wie sie dieselben hatte zusammenlesen können; die Füße waren mit starken Ackerschuhen bekleidet, und neben ihr auf der Bank lag ein gut eingeschnürtes Päcklein und lehnte ein Stab; denn sie sagte seit Wochen schon, sie werde mit dem Engel Gabriel davonwandern, sobald er gesund sei. Diesen hielt sie nämlich in Gestalt eines heiligen Sebastian, eines hölzernen Männleins von ungefähr anderthalb Schuh Länge, im Arm. Der Vater hatte das Bildchen einst beim Plündern einer Kapelle vom Altare genommen und nach Hause gebracht, um irgendeinen Scherz damit zu treiben, die Ursula es aber weggenommen und verborgen, weil es in ihren Augen dem Hansli Gyr oder vielmehr jenem Engel glich wegen der blonden Haare und der blauen Augen; denn das Holzbild war noch ziemlich frisch bemalt gewesen. Sie hatte ihm die Drahtpfeile, mit denen es besteckt war, sorgfältig ausgezogen und verband ihm nun täglich die rot angetupften Wunden mit weißen Leinwandstreifchen und wickelte den kleinen Herren Gabriel liebevoll ein, nachdem sie jedesmal vergeblich versucht[373] hatte, die auf den Rücken gebundenen Händchen loszulösen.

Sie beschaute den englischen Bräutigam immer nur, wenn sie sich ungestört glaubte, und wickelte ihn eben jetzt wieder in seine Binden und Tüchlein, indem sie die Figur mit aller Behendigkeit drehte und wendete.

Im Hause drin spielten sie nach ihrer Weise auch fort; zuweilen hielt der eine oder der andere eine kurze Predigt im Kinderton, dann aßen sie, was sie dürftig zusammengetragen hatten, und zankten sich scheinbar, wie die kleinen Kinder, um die größeren Bissen; Ursula dagegen holte sich etwas Nahrung und machte sich mit ihrem eingewickelten Schatze wieder beiseite. Als es aber gegen Abend ging, erhob sich Enoch plötzlich und sagte mit seiner gewöhnlichen unverstellten Stimme »Nun haben wir genug getan für heute, ihr Kinder! Nun wollen wir Feierabend machen und noch ein wenig zusammensitzen!«

Sogleich juckten alle mit einem Frohgefühl in die Höhe, so rasch sie es in ihren verschiedenen Altersjahren vermochten, dehnten ihre Glieder, kratzten sich die Beine und saßen dann unverweilt um den Tisch herum, wo sie, wie ehmals, mit nüchternem Ernste anhuben, Karten zu spielen.

Kaum hatten sie aber eine halbe Stunde die Köpfe zusammengesteckt und die Karten auf den Tisch geschlagen, so wurden die Türen aufgestoßen, und es stürmten zwei Männer in Waffen so aufgeregt herein, daß die Spieler zusammenfuhren und meinten, die öffentliche Gewalt breche wieder über sie los. Es war jedoch der benachbarte Landmann, der den Hof des Hansli erworben hatte, mit seinem Sohne.

»Hört ihr denn gar nichts, was in der Welt vorgeht?« riefen die Männer; »macht doch die Fenster auf! Der Rottmeister Gyr reitet wie der wilde Türst durch die Dörfer und rafft Volk zusammen! Die fünf Orte sind aufgebrochen und stehen in großer Zahl an der Grenze; alles muß nach Zürich! Hört ihr, wie der[374] Landsturm geht? Lasset euere Narrenspossen und wahret Haus und Hof, so gut ihr könnt, und eile mit, wer noch Kraft hat! Denn euch geht's erst recht um Leib und Leben!«

Damit liefen sie davon und den Berg hinunter. Die erschreckten Leute traten vor das Haus und hörten, wie es überall Sturm läutete, Trommeln tönten, und sahen die Feuerzeichen auf den Hochwachten weit ins Land hinaus.

Staunend schauten und horchten sie; allein es war jedes Gefühl und Verständnis für die Bedeutung des Augenblicks abhanden gekommen; fröhlich oder spöttisch gelaunt wurden sie gerade nicht, weil es ihnen keineswegs geheuerlich vorkam und sie zu erschrocken waren, und so gafften sie denn in Gottes Namen blöde in die erregte Nacht hinaus.

Ursula aber hatte im Ofenwinkel, wo sie saß und wachend träumte, bei den Worten der Nachbaren das Haupt erhoben, und als sie den Hansli nennen gehört, augenblicklich die Holzpuppe fallen gelassen, den Stab und das Bündel ergriffen und war still aus dem Hause entwichen. Sie spähte und lauschte eine kleine Weile in die dunkle Welt hinaus, sah die Feuer und hörte die Sturmglocken; dann schritt sie ohne Aufenthalt in der Richtung nach der tiefern Gegend, welche die beiden Bewaffneten eingeschlagen hatten. Im nächsten Dorfe sah sie einen kleinen Trupp Wehrleute, die sich bereits versammelt hatten; die zogen weiter und vereinigten sich auf dem Wege mit andern, und so ging es die Nacht hindurch, bis die zusammengeeilten Männer die Stadt erreichten, und immer wanderte und wanderte die dunkle Gestalt der Ursula ungesehen hinter den Scharen und gelangte unbehelligt mit ihnen durch das Tor.

Alle Straßen waren beleuchtet, und es wurde gerufen, befohlen, gerüstet und ab- und zugegangen. Die Vorhut war schon am Nachmittage nach Kappel gezogen; jetzt sammelte sich nur langsam das überraschte Volk. Es wurde eingereiht und abgezählt, gespiesen und getränkt, was da war; Ursula huschte[375] unter der wogenden Bevölkerung hin und her und sah den Hansli Gyr deutlich und genau, wie er im Fackellichte jetzt zu Fuß und ganz ruhig auf und nieder ging und die Züge ordnen half. Sie erkannte ihn, wie sie sich später erinnerte, jetzt zum ersten Mal wieder als ihn selbst, hütete sich aber, ihm unter das Gesicht zu kommen, und ebensosehr, ihn aus dem Gesichte zu verlieren. Erst als er nach Tagesanbruch in ein Haus ging, setzte sie sich unweit desselben mit verhülltem Kopfe auf einen Wehrstein und ruhte aus. Als aber gegen Mittag endlich das Banner abzog, war sie schon auf der Straße nach dem Albisberge vorausgegangen und schlüpfte längs derselben in den anstoßenden Wäldern unverdrossen dahin.

Mitte Weges ruhte sie wieder aus und sah durch die Bäume hindurch das unvollständige und in Verwirrung aufgebrochene Heerwesen vorüberziehen. Reiter, Geschütz, Fußvolk waren durcheinandergemengt; doch der tiefe Ernst, welcher über den Ziehenden schwebte, und das schöne, der Ursula ungewohnte Aussehen derselben, muteten sie wie eine reinere Luft an. Unter den stattlichen Männern, die in der Nähe des Banners ritten, war Ulrich Zwingli selbst, und sein sympathischer Anblick erhellte die Seele des unverwandt schauenden Weibes. Der schlanke Mann trug über dem langen Gelehrten- oder Predigerrocke einen guten Stahlharnisch, seinen Kopf schützte ein eigentümlicher runder Stahlhut mit breitem Rande, auf der Schulter lehnte eine halblange eiserne Halbarte oder eher Streitaxt von zierlicher Form, und an seiner linken Seite hing das Schwert. Aber trotz allen diesen Waffen lag auf seinem schöngeprägten Gesichte ein so ahnungsvoll trauriger, frommer und ergebener Ausdruck, die Lippen beteten leise vor sich hin, aber so sichtbar aufrichtig aus tiefstem Herzen herauf, daß von dieser Erscheinung ein lichter Strahl von Gesundheit und lindem Troste in ihre gequälte Brust hinüberzog und sie beinahe den Hansli übersehen hätte, der dem entschwindenden Reformator an der Spitze seiner rüstigen Rotten folgte.[376]

Sie rührte sich aber nicht und setzte ihren Weg erst wieder fort, als der Zug vorbei war und die Berghöhe überschritten hatte und sich zu sammeln begann. In weitem Bogen umkreiste die farblose Gestalt, vom braunen Erdboden kaum zu unterscheiden, alle Bewegungen des kleinen Heeres, das seine Hauptstärke erst noch erwarten sollte, während verbündete Kriegsmassen untätig fern im Westen lagerten, die feindlichen Brüder aber achttausend Mann stark heranzogen.

Sie stand jetzt vor jenem Gehölze zur Linken der Zürcher Stellung, welches zu besetzen diese versäumt hatten, und sah beide Heere; der Geschützkampf, der schon seit geraumer Zeit angefangen, scheuchte sie jedoch in das Innere des Waldes. Sie fand eine alte Buche, deren starke Wurzeln eine Bucht bildeten und überdies eine kleine Erdhöhlung umspannten; in diesen Schutzort schmiegte sie sich hinein und saß da wohlgeborgen, wie sie glaubte. Sie öffnete jetzt rasch ihr Reisebündelchen, da die Zeit gekommen war, sich zu stärken, und zog ein Fläschlein Wein und ein Stück getrockneten Fleisches mit Brot hervor, aß und trank und war ziemlich guter Dinge; atmete sie doch die gleiche Luft mit dem Manne, dem sie nachging.

Jetzt knisterte und schallte es aber auf einmal in den Bäumen und in ihrem Rücken; die wenigen Schützen von Uri, welche die Stellung und die hier mögliche Umgehung der Zürcher erkundeten, hatten das Gehölz besetzt und schossen aus demselben, worauf die Zürcher einen Teil ihres Geschützes herwendeten und ihre Kanonenkugeln über Ursulas Haupt in die Bäume schlugen.

Sie saß unbeweglich still, kein Auge sah das in sich geduckte graubraune Häuflein Menschenleben.

Dann wurde es wieder still um sie her; die Schützen hatten das Gehölz verlassen, um die bisher zum Angriff noch unentschlossene Hauptmacht der Katholischen heranzurufen. Dann nahte das Gewitter in Ursulas Rücken wirklich heran; zu vielen Tausenden brach der Gewalthaufe der fünf Orte durch Wald[377] und Gebüsch und zu beiden Seiten darüber hinaus, daß, wie der Chronist sagt, ein so gewaltiges Getöse, Prasseln und Brausen entstand, als ob die Erde erbebte und der Wald brüllte. Ursula duckte sich mit gefalteten Händen; aber es schien kein Ende nehmen zu wollen. Links und rechts stürmten unaufhörlich neue Scharen ergrimmter Männer an ihr vorüber, sie sah jedoch fast nur deren breite Füße, unter welchen der Waldboden samt dem Unterbusch sich bald in eine zerstampfte Heerstraße verwandelte. Zum Glücke zerteilte der alte Buchenbaum, in dessen Wurzeln sie saß, den Strom des wilden Heeres in ihrem Rücken; um so betäubender tönten die Landhörner, Trompeten und Trommeln ihr in die Ohren, und sie lehnte sich zuletzt halb ohnmächtig an das gute und sichere Baumfundament.

Endlich aber wurde es abermals still um sie her. Die letzten waren vorübergeeilt, die ganze Heermenge war nun zwischen ihr und der geringen Schlachtordnung der Reformierten, welche zudem eben im Vollzug einer Wendung begriffen war.

Jetzt hörte Ursula das Geschrei des Angriffs die Luft erschüttern, als die Rache für vermeintlich oder wirklich erlittene geistige Verachtung mit einem Sturme von Schmähworten eröffnet und der furchtbare Gruß mit ebenso lautem und bitterem Schelten erwidert wurde.

Hierauf hörte sie das Getöse eines heftigen Schlagens, das aber nicht lange dauerte, da die Schlacht von jetzt an den unglücklichen Verlauf nahm, der für die Zürcher in den Sternen geschrieben stand.

Die Sonne neigte sich zum Untergange; unter den Gefallenen der Walstatt lagen bis auf wenige die angesehensten Zürcher, die ausgezogen, gegen dreißig Ratsglieder, ebenso viele reformierte Seelsorger, vielfach Vater und Sohn und Brüder nebeneinander, Land- und Stadtleute. Zwingli lag einsam unter einem Baume. Er hatte nicht geschlagen, sondern war nur mannhaft bei den Seinigen im Gliede gestanden, um zu dulden, was[378] ihnen bestimmt war. Er war mehrmals gesunken, als die Flucht begonnen, und hatte sich wieder erhoben, bis ein Schlag auf und durch den Helm ihn an der Mutter Erde festgehalten.

Die sinkende Sonne glänzte ihm in das noch feste und friedliche Antlitz; sie schien ihm zu bezeugen, daß er schließlich nun doch recht getan und sein Amt als ein Held verwaltet habe. Wie die große goldene Welthostie des gereinigten Abendmahles schwebte das Gestirn einen letzten Augenblick über der Erde und lockte das Auge des darniederliegenden Mannes an den Himmel hinüber.

Vom Rigiberge bis zum Pilatus hin und von dort bis in die fernab dämmernden Jurazüge lagerte eine graue Wolkenbank mit purpurnem Rande gleich einem unabsehbaren Göttersitze. Auf derselben aber schwebten aufrechte leichte Wolkengebilde in rosigem Scheine wie ein Geisterzug, der eine Weile innehält. Das waren wohl die Seligen, die den Helden in ihre Mitte riefen, und zwar, wie er einst an König Franz 1. geschrieben, nicht nur die Heiligen des Alten und Neuen Testamentes und der Christenkirche, sondern auch die rechtschaffenen Heiden Herkules, Theseus, Sokrates, Aristides, Antigonus, Numa, Camillus, die Catonen und die Scipionen. Und auch Pindaros war da mit schimmernder Kithara, dem der Sterbende einst eine begeisterte Vorrede geschrieben.

Auch der Mann, welchem Ursula in ihrem ahnenden Wandertriebe nachgegangen war, lag reglos dahingestreckt, etwa fünfzig Schritte von der Stelle, wo der ehrwürdige Bannerherr über der geglückten Rettung des Banners gefallen. Hansli Gyr hatte sich mannhaft geschlagen und die ersten Anfälle wiederholt abwehren geholfen. Als die Verwirrung und Flucht eintrat und das Banner niedergelassen worden, hörte er, selbst im Strudel mitgerissen, Hilfe für das Feldzeichen rufen. Sich einigen zustürmenden Feinden entgegenstellend, kämpfte er mit Hieb und Stoß gegen die Andringenden, was er vermochte, mußte aber einen Schritt um den andern zurückweichen und stürzte, da er[379] nicht hinter sich sah, rücklings in den Graben, der für den Tag so verhängnisvoll geworden. Schwer gerüstet, wie er war, hatte er auch einen schweren Fall getan und lag, von der Erschütterung bewußtlos geworden, in der Tiefe, die Füße nach oben gerichtet.

Als die Nacht auf das Land herniedergestiegen und Ursula unterscheiden konnte, daß die Schlacht vorüber war, trat sie aus dem Gehölze hervor. Sie sah das Feld von den zahlreichen Feuern der Sieger bedeckt und hörte deren Jubel. Alsobald merkte sie wohl, wer gesiegt habe, besann sich aber keinen Augenblick, vorwärts zu gehen und über das Schlachtfeld. Es kümmerte sich auch niemand um sie, als sie nun wie ein Nachtgeist herumstrich; denn es liefen aus dem Trosse der Sieger noch manche Weibsbilder unter den Männern herum. Überall, wo sie sah, daß man um Tote oder Verwundete beschäftigt war, trat sie herzu, fand aber nicht, was sie befürchtete, und trachtete voll Hoffnung, allmählich aus den Katholischen hinauszukommen und die zürcherischen Trümmer zu erreichen. Aus einem der Wachtfeuer hatte sie unbemerkt ein hell brennendes Kienscheit gezogen und leuchtete sich unerschrocken durch diese seltsame nächtliche Welt voll Übermut, Freude, Elend und Todesschrecken. Schon wurde es dunkler und stiller, als sie an einen Steg gelangte, der über den Mühlegraben führte. Sie schaute wie zufällig seitwärts und sah, wie ein Lichtstrahl ihrer Fackel auf ein Waffenstück fiel, das in der Tiefe lag. Ohne Zögern kehrte sie um und stieg an dem buschigen Bord hinunter, wo unter Erlen ein Toter lag. Es war aber nicht Hansli; doch ging sie auf dem Grunde des Grabens, durch welchen sich das Wasser schlängelte, weiter und fand noch einen stillen Mann, aber auch nicht den rechten. Gleich der nächste aber, auf den sie stieß, war es. Sie erkannte ihn auf den ersten Blick. Augenblicklich begann sie, seine aufwärts am Bachbord liegenden Beine herunterzuziehen und ihm mit Mühe das Haupt zu erhöhen, und erst jetzt warf sie sich auf ihn und lauschte an seinem Munde. Er atmete noch,[380] gab aber sonst kein Lebenszeichen; doch auch von Blut war nichts an ihm oder um ihn zu sehen. Hastig nestelte sie an Helm und Panzer, ohne sie loszubringen, und fing laut an dabei zu seufzen, besonders nachdem ihr auch der Kienbrand ins Bachwasser gefallen und erloschen war.

Da erschienen oben zwei Männer mit einer Fackel und leuchteten hinunter. »Da unten liegt auch einer am Ausweben!« sagte der eine, und der andere »Wir wollen hinabsteigen, vielleicht ist's einer der Unsern!« – »Gotts Wunden! das ist ja ein Pärlein!« riefen sie, als sie unten anlangten.

»Den hab ich auch schon gesehen!« fuhr der eine fort, als er dem Gefallenen ins Gesicht leuchtete.

»Auch ich, aber ich weiß nicht, wo?« versetzte der zweite Kriegsmann, der aber, wie sein Kamerad, besänftigt und menschlich aussah.

»Wer ist der, der da liegt, und wer bist du selbst, du Nachtschatten?« fragten sie nun die Ursula.

»Es ist ein Rottmeister Hänslein Gyr und ein guter Mann«, erwiderte sie flehend; »habt Erbarmen, ihr Herren, und helfet ihm, denn er lebt noch!«

»So wahr Gott lebt, das ist jener Hansli!« und »Ein alter ehrlicher Kamerad! Wie die Jahre vergehen!« riefen nun die beiden voll Verwunderung aus. »Aber wer bist denn du selbst, und wie kommst du in diesen Graben?«

»Ich bin seine Nachbarin, Kindergespielin und gewesene Braut und ihm nachgelaufen, ohne daß er's weiß!«

»Nun«, sagte der eine, »wem der Herrgott ein so treues Mensch geschenkt hat, den darf man nicht verderben lassen! Komm her, du Feldgespenst, wir wollen dir helfen!«

Die Befehlshaber der Fünförtigen hatten eben mit Trommelschlag verkünden lassen, daß keine Verwundeten oder Gefangenen mehr getötet werden dürfen, und so hatte es für die zwei Gesellen, die Schwyzer waren, keine Schwierigkeiten, den Hansli aus dem Graben hinauszuarbeiten und ihn nach dem Kloster[381] Kappel zu bringen, dessen reformierter Abt auch auf der Walstatt lag und das mit Verwundeten angefüllt wurde.

Hansli geriet durch Vorsorge der braven Männer in eine kleine Mönchszelle auf ein ordentliches Bett; die Ursula wich nicht von seiner Seite und lauschte auf jeden seiner Atemzüge. Erst am dritten Tage kam er wieder zu sich selbst; in acht Tagen aber konnte er das Bett verlassen, und als er sich, da sich eine Verletzung sonst nirgends zeigte, völlig erholt und seine Gedanken wieder beisammen hatte, fand er die ebenfalls durch die Ereignisse auf wunderbare Weise genesene Ursula in seiner nächsten Nähe, so nah er es nur wünschen konnte.

Sie wußte durchaus nicht zu sagen, wie sie von Hause fortgekommen sei, und doch waren ihre Gedanken und Augen jetzt vollkommen sicher und klar Das Glück, das sie empfand, half ihr bald wieder zu blühenden Wangen; denn sie war wie ein gesegnetes Fleckchen Erde, das alsobald wieder ergrünt, sobald nur ein Sonnenblick und ein Tau darauf fällt.

Als die nächsten Folgen der Schlacht und auch die weiteren Kriegswirrsale sich verzogen, nahm Hansli Gyr die Ursula zur Frau nach der Vorschrift der bestehenden Ordnung, der sie sich nicht länger widersetzte, und zog mit ihr auf ihren eigenen Hof, wo der alte Enoch das Zeitliche gesegnet hatte und seine gebeugte und zerknistete Frau ihm gehorsam in das neue Jerusalem nachgefolgt war. Sie hatte aber, freilich hinter dem Rücken des Mannes, noch den Trost erlebt, die Tochter versorgt und glücklich zu sehen.

Der Rottmeister und seine Ehefrau aber lebten als würdige Glieder des Volkes, welches nach jener Schlacht die Regierung und die Führer, statt sie im allgemeinen Unglücke mit Vorwürfen zu überhäufen und mit Unzufriedenheit zu quälen, zur Standhaftigkeit aufmunterte und seiner Opferfreudigkeit versicherte, freilich nicht ohne seine aufrichtige Meinung über dies und jenes beizufügen, was vielleicht besser zu machen wäre. Und Hansli gehörte zu den Männern der Landschaft, welche[382] mit wohlwollender Offenheit ihre Stimme erhoben, aber zugleich mit eiserner Zuverlässigkeit für das gemeine Wesen einstanden. Gegen zweihundert Jahre lang hausten seine Nachkommen auf dem gutbestellten Hofe, welcher der Gyrenhof genannt wurde. Den Winkelpropheten aber schenkte das brave Ehepaar jedesmal ein Glas Wein oder guten Apfelmost ein, sooft einer derselben mit irgendeiner neuen Lustbarkeit auf den Hof kam. Denn immer trieben sie etwas Schnurriges, obgleich sie nicht mehr predigten. Ihre Art spukt indes ab und zu immer noch um jenen Berg herum.

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 7, Berlin 1958–1961, S. 371-383.
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