12. Kapitel
Lerne Geduld und kämpfe wider die Begierden!

[103] 1. Der Mensch: Mein Herr und Gott! Geduld ist mir, soweit ich sehe, unentbehrlich; denn dieses Leben hat viel Widriges. Wie ich auch alles ordne, um Frieden und Ruhe in meinem Herzen zu erhalten, so gibt es immer etwas Schmerzhaftes zu leiden, etwas Böses zu bekämpfen.

2. Der Herr: So ist's, mein Sohn! Aber das ist auch mein Wille nicht, daß du einem Frieden nachläufst, der dir einen Freiheitsbrief von allen Versuchungen und Leiden mitbringt. Vielmehr sollst du glauben, erst dann auf der rechten Friedensbahn zu wandeln, wenn du durch allerlei Drangsale geläutert und durch viele widrige Erfahrungen wirst bewährt sein. Wenn du sagst, du könntest nicht so viel leiden, wie wirst du denn einst das große Reinigungsfeuer aushalten?

Unter zwei Übeln muß man immer das geringere wählen. Damit du also nicht den Strafen der Ewigkeit anheimfällst, übe dich darin, daß du die Leiden dieser Zeit für die Sache Gottes gleichmütig tragen lernst. Und weiter: Glaubst du denn, daß die Menschen, die nach dem Geiste der Welt leben,[103] nichts oder nur wenig zu leiden haben? Frage bei denen nach, die den feinsten Sinn für die Freuden der Welt haben, und sie werden dir's anders sagen.

Aber, denkst du, sie haben doch auch viele Freuden zu genießen und leben im Grunde doch nur nach ihrem eigenen Willen, und eben deswegen halten sie ihre Drangsale nicht für sonderlich groß.

3. Sei es, hätten sie auch alles, was sie wollten; sage mir aber, wie lange glaubst du denn, daß dieses ihr elendes Paradies auf Erden dauern wird? Sieh, die hier alles im Überfluß haben, wie Rauch vergehen sie samt ihren Reichtümern, und sie werden die Freuden, die sie hier genossen haben, nicht einmal mehr in der Erinnerung wieder genießen können. Aber auch hier, solange dieses Leben währt, können sie in ihren Freuden keine wahre Ruhe finden; denn Bitterkeit, Furcht, Überdruß mischen sich in alle ihre Freuden. Und eben das, worin sie Freude finden, bringt ihnen oft eine reiche Ernte von Schmerz und Strafe ein. Das ist eben das Gesetz der Gerechtigkeit: Weil sie wider die Ordnung der törichten Freude nachlaufen, so können sie diesen Trieb nach Freude nicht ohne das peinliche Gefühl von Scham und Schmerz befriedigen. Oh, wie kurz und trügerisch, voll Unordnung und Schande, sind doch diese Vergnügungen alle! Aber da die Menschen der Verblendung und dem Rausche hingegeben sind, so sehen sie mit sehenden Augen nicht. Wie vernunftlose Tiere vergraben sie sich in den kurzen Freuden dieses gebrechlichen Lebens und finden in diesem Lebensgenusse den Tod der Seele. Also nicht deiner blinden Begierde mußt du blind nacheilen, lieber Sohn! Wende dich vielmehr weg von alledem, zu dem dich dein Wille hinzieht. Suche deine Freude im Herrn, und er wird dir geben, was dein Herz verlangt.

4. Denn, wenn du wahre Freude finden und überfließende Tröstung von mir erhalten willst, so fasse Mut, alle Lust der Welt zu verschmähen und alle niedere Freude daran zu geben. Darin wirst du Segen finden, dafür wird dir eine reiche[104] Quelle des inneren Trostes geöffnet werden. Und je mehr du den Trost, den dir die Geschöpfe anbieten, verschmähen lernst, desto süßer und mächtiger wird die Fülle des Trostes sein, den du in mir finden wirst. Aber anfangs wird es dich manchen heißen Kampf kosten, und du wirst dich durch manche leidvolle Stunde durchschlagen müssen, bis du dahin gelangst. Entgegensetzen wird sich dir die tiefgewurzelte Gewohnheit, aber sie wird durch eine neue, bessere Angewöhnung überwunden werden. Murren wird das Fleisch dagegen, aber dieses Murren wird durch den siegenden Eifer des Geistes wieder zum Schweigen gebracht werden. Reizen wird dich die alte Schlange, und durch ihre Reizungen wird sie deinen Kampf noch heißer machen; aber das Gebet wird sie verjagen, und eine nützliche Beschäftigung wird ihr Tür und Tor verriegeln.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 103-105.
Lizenz:
Kategorien: